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Der ontologische Diebstahl

■ In einem Essay von 1945 weist der berühmte französische Filmkritiker nach, wie Charlie Chaplin Adolf Hitler mit einem gestohlenen Schnurrbart vernichtete

Wer Charlie Chaplin im Feld der universellen Ästhetik und Politik die selbe Wichtigkeit einräumt, wie sie Hitler im Feld der Geschichte und Politik beansprucht; wer die Existenz dieses schwarzweißen Insekts, dessen Bild die Menschen seit dreißig Jahren nicht losläßt, mindestens ebenso rätselhaft findet wie die des Manns mit dem kaputten Arm, ist sich über die unerschöpfliche Bedeutung des Diktators im Klaren.

Zwei Männer haben in den letzten fünfzig Jahren das Gesicht der Welt verändert: Gillette, Erfinder der Rasierklinge und Urheber ihrer industriellen Verbreitung, und Charles Spencer Chaplin, Erfinder des „Charlie-Chaplin-Schnurrbarts“ und Urheber seiner Verbreitung im Kino.

Man weiß, daß Chaplin unmittelbar mit seinen ersten Erfolgen zahllose Nachahmer auf den Plan rief. Flüchtige Epigonen, deren Spur nur noch in ganz wenigen Filmgeschichten festgehalten ist. Nur einer von ihnen erscheint nie in ihren alphabetischen Registern. Dabei wuchs seine Berühmtheit seit 1932/33 unaufhörlich und war schnell mit der des „Little Boy“ aus Goldrausch gleichzustellen, hätte sie am Ende gar noch überschritten, wenn sie in dieser Größenordnung überhaupt noch zu messen wäre.

Die Rede ist von einem politischen Agitator aus Österreich namens Adolf Hitler. Das Erstaunliche ist, daß niemand seinen Schwindel erkannte und ernstnahm. Chaplin täuschte sich allerdings nicht. Sofort muß er auf seiner Oberlippe einen seltsamen Kitzel verspürt haben. Ich behaupte natürlich nicht, daß Hitler mit Absicht gehandelt hat. Kann sein, daß es gar keine persönlichen Hintergedanken gab und diese Unbesonnenheit nur durch unbewußte soziale Einflüsse zu erklären ist. Aber wer Adolf Hitler heißt, schuldet seiner Frisur und Barttracht genaue Aufmerksamkeit. Nachlässigkeit ist der Mythologie sowenig zu entschuldigen wie in der Politik. Hier hat der ehemalige Kunstmaler einen seiner größten Fehler gemacht. Mit seiner Chaplin-Imitation nahm eine Lebenslüge ihren Anfang, die ihm der andere nicht vergaß. Ein paar Jahre später mußte er teuer dafür bezahlen. Durch seinen Schnurrbartdiebstahl hatte er sich Chaplin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das bißchen Existenz, das er den Lippen des kleinen Juden abgenommen hatte, erlaubte es diesem, ein Vielfaches zurückzuholen, was sage ich: Es erlaubte ihm, Hitler biographisch vollständig zu entleeren. Gewinn zog daraus nicht sosehr Charlie Chaplin selbst als ein Zwischenwesen, eben ein Wesen aus schierem Nichts.

Die Dialektik ist subtil aber unabweislich, die Strategie unschlagbar. Erste Runde: Hitler nimmt Charlie Chaplin seinen Schnurrbart. Zweite Runde: Chaplin nimmt seinen Schnurrbart zurück, aber dieser Schnurrbart ist nicht mehr allein ein Charlie-Chaplin-Schnurrbart, sondern inzwischen zum Hitler-Schnurrbart geworden. Mit dieser Zurücknahme hielt Charlie Chaplin also eine Hypothek auf Hitlers Existenz in der Hand und konnte über sie verfügen.

Er machte Hinkel daraus. Denn was ist Hinkel anderes als ein aufs Wesen reduzierter und um die Existenz beraubter Hitler? Hinkel existiert nicht. Er ist ein Hampelmann, in dem wir Hitler - durch seinen Schnurrbart, seine Größe, die Farbe seiner Augen, seine Reden, seine Sentimentalität, Grausamkeit, Wut, Verrücktheit - wiedererkennen: aber als eine sinnleere, aller existenziellen Rechtfertigung ledige Konjunktion. Hinkel ist Hitlers ideale Katharsis. Nicht durch die Lächerlichkeit tötet Charlie Chaplin seinen Gegner; dort, wo er es dennoch versucht, scheitert der Film; er vernichtet ihn, indem er ihm einen vollkommenen, absoluten, notwendigen Diktator entgegenstellt, angesichts dessen wir aller historischen und psychologischen Betroffenheit ledig sind. In Wirklichkeit haben wir uns von Hitler durch Haß und Krieg befreit, aber dieser Befreiung wohnt prinzipiell eine andere Sklaverei inne. Wir spüren sie gerade jetzt, wo uns noch die Ungewißheit seines Todes quält. Endgültig werden wir uns von ihm erst befreit haben, wenn wir uns von ihm nicht mehr betroffen fühlen; wenn der Haß selbst keinen Sinn mehr hat. Und Hinkel ruft in uns weder Haß, noch Mitleid, noch Zorn, noch Angst hervor. Hinkel ist das Nichts von Hitler. Chaplin verfügte über seine Existenz und hat sie ihm genommen, um ihn zu vernichten.

Bisher habe ich allgemein gesprochen. Leider ist Chaplin diese Seinsübertragung nicht überall gelungen. Nur einmal glückt sie in meinem Sinne zur Vollkommenheit: beim Tanz mit der Weltkugel. Bei der lautmalerischen Rede nähert sie sich ihr an, aber unsere Erinnerung an Hitler auf seiner Münchner Tribüne ist stärker als die Parodie und entschärft ihre Sprengkraft. Denn in einigen Bereichen hat sich Hitler mit mehr Genie nachgeahmt als Chaplin selbst, hier hält er den Kern seiner Persönlichkeit noch in der Hand. In Capras Montagen hat Hitler unbestreitbar eine idealere und noch weniger zufällige Realität als Hinkel. Wir sehen, daß es hier keineswegs um Lächerlichkeit geht. Wir lachen bei Capra über Hitler, aber dies Lachen schließt weder unsere Angst noch unsern Haß aus: Es befreit uns nicht von unserer Betroffenheit. Ich glaube also, daß es ein Irrtum wäre, die Schwächen des Films seinem Anachronismus und dem Umstand zuzuschreiben, daß wir über einen Mann, der uns soviel Leid gebracht hat, nicht mehr lachen könnten. Zwar wären uns die Gags 1939/40 noch komischer erschienen, aber doch nur in dem Maße, wie Chaplin sein Ziel verfehlt hat, dort wo die Parodie die Lächerlichkeit nicht überschreitet und auf dem Niveau bleibt, wo Hitler seine Existenz gegen Hinkel noch hätte verteidigen können. Nicht die Komik ist hier das Problem, sondern die Quelle dieser Komik und die metaphysische Höhe, der sie entspringt. Sie kann sich in der Zone unserer historischen Gefühle ansiedeln und karikieren, lächerlich machen, ironisieren, sie kann sich aber auch bis in den Olymp der Archetypen erheben. So wie der in Diana verwandelte Jupiter die Gefühle der Nymphe Kalypso auf sich selbst umlenkt, lenkt Chaplin unseren Glauben an Hitler auf Hinkel. Möglich sind solche Transfers nur in der mythologischen Konfusion von Schein und Sein. Zum Demiurgen wird der Künstler gewöhnlich durch originäre Schöpfung. Die Existenz Phaedras, Alkestes oder Siegfrieds ist unwiderruflich, kein anderer Gott kann sie ihnen mehr nehmen. Die Beziehung Chaplins zu Hitler aber ist eine Ausnahmeerscheinung, die in der Weltgeschichte der Kunst vielleicht einmalig ist. Chaplin schwebt mit Hinkel ein Wesen vor, das nicht weniger ideal und endgültig ist als die Wesen Racines oder Giraudoux‘, ein Wesen, das selbst unabhängig von Hitler existieren kann, aus ganz eigener Notwendigkeit. Zuletzt käme Hinkel ohne Hitler aus, denn er ist Chaplins Schöpfung, aber Hitler könnte seinerseits niemals so tun, als huschte Hinkel nicht über alle Leinwände dieser Welt. Jetzt ist Hitler das zufällige, kontingente, entfremdete Wesen, der andere hat sich seine Existenz einverleibt, ohne sie ihm doch zu schulden, er vernichtet sie durch Absorption. In letzter Analyse beruht dieser ontologische Diebstahl auf dem Raub des Schnurrbarts. Man bedenke, daß Der Diktator unmöglich gewesen wäre, wenn Hitler gar keinen Bart oder einen Clark-Gable-Schnurrbart getragen hätte. Chaplins ganze Kunst hätte nichts vermocht, denn ohne Schnurrbart wäre Charles Spencer Chaplin nicht Charlie Chaplin, und Hinkel mußte mindestens ebensosehr von Charlie Chaplin wie von Hitler abgeleitet sein, um beide zugleich und also nichts zu sein - nur die genaue Überlagerung der beiden Mythen konnte sie beide vernichten. Mussolini wurde von Napaloni nur karikiert, nicht annuliert, mag sein, daß er zuwenig Existenz hat, um durch Lächerlichkeit getötet zu werden. Hinkels Fall liegt anders: Er beruht auf der Zauberkraft dieser haarigen Finte. Er wäre undenkbar, wenn Hitler nicht zuallererst die Unvorsichtigkeit begangen hätte, Charlie Chaplin - nur durch den Schnurrbart - ähnlich zu sehen.

Nicht sein schauspielerisches Talent, nicht einmal sein Genie gestattete es Chaplin, den Dikator zu drehen. Das war nur dieser Schnurrbart. Charlie Chaplin hat solange gewartet, wie er mußte, aber dann hat er sich sein Eigentum zurückgeholt.

Macht des Mythos: Hitlers Schnurrbart war echt!

Quelle: Andre Bazin, Eric Rohmer: Charlie Chaplin, mit einem Vorwort von Fran?ois Truffaut, Paris 1972. Zuerst ist der Artikel unter dem Titel Pastiche ou postiche ou le neant pour une moustache 1945 in der Zeitschrift 'Esprit‘ erschienen.

Aus dem Französischen von

Thierry Chervel

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