Die UdSSR ist männlich

■ Die italienische Kommunistin im Gespräch mit Olga Alexandrovna Voronica, einer Moskauer Feministin

Rossana Rossanda

Was hat die klassische Troika Arbeit - Ausbildung wirtschaftliche Unabhängigkeit - den sowjetischen Frauen gebracht? Viele Rechte, aber auch den Platz auf der untersten Stufe der sozialen Pyramide. Die Rückbesinnung auf die „weiblichen Tugenden“ ist in der UdSSR sehr stark.

Ein Treffen mit Olga Alexandrovna Voronica, Wissenschaftlerin und Feministin.

Hätte ich irgendwelche Zweifel an den Grenzen der Emanzipation in ihrer klassischen Dreiheit - Ausbildung Arbeit - Entlohnung - gehabt, sie wären mir auf einen Schlag vergangen. Die Sowjetunion ist die Feuerprobe dafür. Lassen wir mal die asiatischen Republiken beiseite, denn wenn ich sehe, daß Frauen dort noch an den Ehemann verkauft werden, dann muß ich daran zweifeln, daß die Emanzipation überhaupt bis dahin gekommen ist. Doch das scheint die Frauen dort kalt zu lassen, bedenkt man, daß sich dort im Jahre 1987 gut 286 Frauen selbst verbrannt haben, um so ihrem Schicksal zu entkommen. (Richtig gelesen: zweihundertsechsundachtzig!)

Olga Alexandrovna Voronica ist mein Hoffnungsanker. Ihren Namen habe ich in Paris in der zweiten Nummer der 'Zeitschrift für soziologische Forschung der Akademie der Wissenschaften‘ des Jahres 1988, gelesen. Sie wollte ich treffen, und sie treffe ich auch. Wie sie wohl sein wird? Eine ehrwürdige Akademikerin, wie einst Aleksandra Kollontai? Zur vereinbarten Zeit erscheint eine vielleicht nicht mal dreißigjährige Frau in unserem Hotel. Kurzhaarschnitt, in weißer Spitze, eine ganz schmale Taille und lachende Augen. Mit ihr würden wir eins der heißesten Mittagessen unseres Lebens zu uns nehmen, denn die russischen Restaurants sind so angelegt, daß keinesfalls die Kälte eindringt und schon ja kein Luftzug geht. Olga ist das gewöhnt und ihr Lächeln, manchmal ein bißchen ironisch, läßt nicht nach, ihr dezentes Make-up verläuft nicht, während es mir so vorkommt, als würde ich jeden Moment anfangen, auf den Teller zu triefen.

Sie war und wird vielleicht auch die einzige russische Frau bleiben, mit der ich, so wie bei uns üblich, von Frau zu Frau sprechen konnte. Bei vielen anderen war es für mich schon schwierig, zu sagen, daß ich Feministin bin. Fast so schwierig, wie zu sagen, daß ich Kommunistin bin. Meine Gesprächspartnerinnen sind oftmals berühmte Frauen, aber sie alle raten in scheinheiligen Zeitschriften dazu, „die Weiblichkeit nicht zu verlieren“. Wobei sie unter „Weiblichkeit“ nichts anderes als die klassischen weiblichen Tugenden verstehen.

Die Akademikerin Tatiana Zaslavskaia, eine der es an Frechheit nicht mangelt (sie wurde in Moskau hinterrücks aus der Gruppe der Delegierten der XIX.Parteikonferenz ausgeschlossen), läßt sich am 8.März „at home“, zwischen Pflänzchen und Samowar, Tee einschenkend fotografieren. Die Mathematikerin Granina rät den Frauen dringend dazu, ihren Platz an der Seite der Männer und Kinder zu sehen. Denn räumten sie der Arbeit zuviel Gewicht ein, würden sie „vermännlichen“. Und: es gäbe nichts Häßlicheres als eine Frau, die kommandiert. Die Schriftstellerin Zoia fragt mich nach italienischen Schriftstellerinnen; „aber richtige, keine Feministinnen“. Die wunderschöne Tania, die Frau eines bedeutenden Schriftstellers, die mich im Peredelkino empfängt, war einst eine vielversprechende Poetin. Miss Moskau

Heute ist sie eine mittelalte Dame, rabenschwarzes Haar, die Augenlider sauber geschminkt, ein Lächeln und ein Umgangston, wie ihn nur die Russen kennen, eine gute Köchin. Sagt man ihr im Scherze, daß sie sicherlich (im Zuge des Comeback des Leninismus) fähig wäre, den Staat zu regieren, antwortet sie fröhlich: „Klar, bei dem allwissenden Ehemann, den ich habe. Ich würde einfach ihn alles fragen.“

Die Leiterin einer großen kulturellen Stiftung, schön, jung, perfekt vom Scheitel bis zur Sohle und wegen ihrer Kurven gerade zur Miss Moskau gewählt, antwortet mir etwas verdrossen, daß sie derlei Misswahlen und Wettbewerbe im Prinzip als eine Huldigung an die Schönheit der Frauen auffasse. Ehemänner und die Männer im allgemeinen nicken und fügen hinzu, daß sie sich ganz sicher sind, daß die russische Gesellschaft von den Frauen kommandiert wird, nämlich durch diese ewige, alte Art: indem die Frauen die Männer lieben, überzeugen und verführen, indem sie die Männer unfähig machen, ohne ihre Vera, Nadia, Luibov und wie sie alle so wunderschön heißen, auch nur einen Schritt allein zu tun.

Olga Alexandrovna weiß, daß es genau dieses scheinbar so Weiche und Nachgiebige ist, was die Männer schützt und was für die Frauen am Schwersten zu überwinden sein wird. Dieses Bild von den Frauen ist der treue Komplize der schrecklichsten Thesen und spielt auch mit, wenn etwa Gorbatschow auf einer Konferenz in Washington bemerkt, die natürliche Bestimmung der Frau läge darin, den Haushalt zu führen. „Diejenigen Seiten der Verlautbarung der Partei, auf denen das steht, kann ich auswendig“, sagt sie zähneknirschend. „Doch die Frauen helfen dann nicht den Frauen, nein! Die, die in der Partei sind, helfen denen aus der Partei, und die, die es geschafft haben, haben kein Interesse daran, daß andere Frauen es auch schaffen.“

Die UdSSR ist das Land, in dem die Emanzipation am weitesten fortgeschritten ist. Alle Frauen erhalten eine Ausbildung und die Zahl der Hochschulabschlüsse übersteigt die der Männer um 20 Prozent. Fast alle Frauen arbeiten, und nur einige wenige können es sich leisten, nicht arbeiten zu gehen. Praktisch der gesamte medizinische und schulische Sektor wird von Frauen bedient. „Das gilt genauso für alle Berufe, die in irgendeiner Weise mit Saubermachen zu tun haben, zum Beispiel Straßenreinigung“, sagt Olga Alexandrovna mit bitterer Ironie, „denn die werden für Berufe gehalten, die traditionell in den Bereich der Frau fallen.“ Bevölkerungsmäßig sind die Frauen in der Mehrzahl, sie verfügen über alle zivilen Rechte, verdienen sich ihr Gehalt selbst, und im Fall einer Scheidung haben sie das Recht fast immer auf ihrer Seite. Die „drei Guineen“, wie Virginia Wolf es ausdrückte, sind mehr als verwirklicht.

Der Essay, der mich dazu anspornte, Olga Alexandrovna zu besuchen, trägt den Titel: Die sowjetische Frau in der männlichen Gesellschaft. Es handelt sich um eine schwierige Analyse des Geschlechterverhältnisses. Eine ganz außerordentliche Arbeit! „Da bin ich also“, lacht die Alexandrovna. Ihr Essay wurde gelesen, noch mal gelesen, abgelehnt und schließlich doch verlegt. Und wie kam es an? Die Reaktionen auf das Buch waren unterschiedlich: Akademikerinnen und Akademiker schwiegen sich aus, aber unter den Leuten kam es zu sehr interessanten Diskussionen. Arbeit der Frauen

In ihrem Buch beschreibt sie, daß die Frauen in der UdSSR obwohl ihre Ausbildung die der Männer übersteigt - die niedrigen Arbeiten verrichten. In den führenden Positionen und auch bereits in den mittleren Positionen trifft man fast keine einzige Frau an. Oben steht immer ein „Er“. Die Frauen, die in der Partei organisiert sind, bilden ein undurchlässiges Gebilde, das kaum vermag, die Interessen und Belange der Frauen nach außen hin zu vertreten. Da scheint bei den Verlautbarungen der Partei oder bei Diskussionen schon mal durch, daß die Frauen eigentlich genauso gut wieder nach Hause gehen könnten, da sie sich ja doch in einer absolut männlichen Gesellschaft wiederfinden und außerdem sowieso keiner die Mühen der Frauen wahrzunehmen scheint.

Derlei Ansichten führen dann zu Aussagen wie der Gorbatschows und genau in diese Richtung zielt der Pfeil, den Olga Alexandrovna mit ihrem Buch losgeschickt hat. Ziel kann nicht sein, die Frauen zur Arbeit zu verpflichten. Diese herrschenden Ideologien sind es, die es zu besiegen gilt. Doch um die zu besiegen, muß man sich bestimmter Tatsachen bewußt sein. Zum Beispiel der, daß die Arbeit der Frauen oft um ein Vielfaches mühsamer ist, als die der Männer, denn die Arbeiten auf niedrigstem Niveau sind zugleich die anstrengendsten Arbeiten.

In der UdSSR dauert der Mutterschaftsurlaub ein Jahr. Trotzdem ist die Frau mit Kind und Haushalt überlastet, und in dieser Zeit wird sie beruflich abgewertet. Das ist überall auf der Welt so. Doch die UdSSR ist dazu noch das Land der endlosen Warteschlangen. So kommt eine weitere nervenaufreibende Aufgabe für die Frau, die die Familie versorgt, hinzu: das Schlangestehen. Sei es das Anstehen an vorhersehbaren Warteschlangen (auf dem am wenigsten berechenbaren Markt der Welt) oder das unerwartete, plötzliche Anstehen irgendwo, weil man durch Zufall oder durch aufmerksames Umherschweifen des Blickes ein Schild „Heute Kühlschränke“ im Schaufenster eines Geschäfts entdeckt hat, und weiß, daß man sich sofort darauf stürzen muß, will man noch eines der Restexemplare ergattern. Denn man kann sicher sein, daß sich das Personal und der Ladenbesitzer als erste eingedeckt haben.

Diese nervtötenden Alltäglichkeiten, erklärt uns Olga Alexandrovna, knüpfen an eine bestimmte Tradition an: die Frauen haben schon immer alle Arbeiten gemacht, auch die Arbeiten hinter der Frontlinie eines schrecklichen Krieges, der 20 Millionen Tote produzierte.

„Es hat einfach noch niemand daran gedacht, daß wir Frauen allein schon körperlich ganz anders als die Männer sind, oder daran, daß unsere Vorfahren jedes Gesetz, daß zum Schutz der Frau hätte beitragen können, abgelehnt haben. So bestehen diese männlichen Strukturen und damit ihre Formen auch heute weiter, und sie sind schuld an der katastrophalen Wohnungsmarktsituation und halten außerdem dem sowjetischen Mann, der im Haushalt keinen Finger rührt, und darüber hinaus oft genug dem Alkohol zuspricht, den Rücken frei. Da versteht es sich von selbst, daß einige Frauen, die oft ein bis mehrere Fahrstunden von ihrer Wohnung entfernt arbeiten, nur darauf warten, einen Teil ihrer Arbeit loszuwerden.“ Sex existiert hier nicht

„Und was sagt dein Mann dazu?“ Olga schüttelt den Kopf. „Er sagt, daß ich mit meiner wissenschaftlichen Arbeit recht habe, aber Haushalt sei Haushalt, und das sei meine Aufgabe. Wenn ich abends nach Hause komme und das Kind versorge, dann ist es ein Kampf, ihn dazu zu bringen, mir ein bißchen im Haushalt zu helfen.“

„Ich habe immer gedacht, die englischen und amerikanischen Feministinnen übertreiben. Bis ich dann selbst Wissenschaftlerin an der Akademie wurde. Von dieser Warte aus hatte ich eine andere Perspektive und verstand, daß für die Männer Frau-sein immer bedeutete, 'irgendetwas‘ weniger zu sein. Wir sind völlig auf dem Niveau einer patriarchalischen Gesellschaft stehengeblieben, hier, ganz zu schweigen von den asiatischen Republiken, wo die Frau vor allem ein Sexualobjekt ist.“

Und was ist mit dem Sex? „Über Sex wird nicht geredet.“ Einmal bei einer Sendung mit Direktübertragung aus England und Amerika (so eine Art „Lernen wir uns via Fernsehen besser kennen“) schlugen die Engländer vor, über Sex zu reden. Die auf diesen Vorschlag folgende Verwirrung auf sowjetischer Seite war so stark, daß man überstürzt stotterte: „Unmöglich. Sex existiert hier nicht.“ „Jetzt gerade fängt man bei uns langsam an, über Sexualerziehung zu reden.“ Freud wurde zum letzten Mal 1925 übersetzt, seine Texte können zu Studienzwecken herangezogen werden. „Kannst du ihn kriegen?“ „Natürlich.“ Neuerdings ist es für sie auch möglich, an wichtige Literatur, vor allem englischsprachige, zu kommen.

„Bei uns wird zur Zeit viel über das Gesetz gegen sexuelle Gewalt diskutiert. Wie geht man bei euch mit Vergewaltigungsdelikten um?“ „Die werden sehr hart bestraft, etwa mit zehn bis 18 Jahren Gefängnis.“ „Auf Bestreben der Kläger oder auf Bestreben der Behörden hin?“ Olga versteht nicht ganz: „Natürlich zeigt ihn die Frau an.“ Das ist die einzige erfreuliche Neuigkeit. In diesem Fall gibt es keine Scham oder soziale Hemmungen. Vergewaltigung wird wirklich als ein Anschlag auf den Körper und die Seele (falls man hier von Seele spricht) angesehen, als eine Verletzung. Die Frau hat die Justiz auf ihrer Seite, und die arbeitet rasch. Es passiert trotzdem. Olga kennt keine genauen Zahlen. „Inzest?“ Davon weiß man nichts, darüber wird nicht geredet. Olga Alexandrovna erklärt uns außerdem, daß Inzest unter den Wissenschaftlern für ein Phänomen gehalten wird, das im bäuerlichen Patriarchat beheimatet ist und von daher mit zunehmender Urbanisierung aussterben wird. Ich berichte ihr, daß nach neueren Untersuchungen in den USA, Inzest keineswegs ein Phänomen des bäuerlichen Lebens sei. Die sexuelle Gewalt und Schläge schon, nicht aber innerhalb der Familie. Es wird zwar auf Anzeige hin immer strenger bestraft, aber Gewalt und Schläge gibt es trotzdem viel.

Wir nehmen uns vor, gegenseitig Literatur auszutauschen, auch, wenn Italienisch hier in der Sowjetunion kaum gesprochen wird. Sie spricht Englisch und Deutsch gut.

Olga Alexandrovna erläutert uns ein Spiel, das ihrer Ansicht nach, Ausdruck der sexuellen Misere der UdSSR ist: Das Blumenkronenspiel. Dabei stellen sich die Mädchen in einer Art Kreis auf, die Jungs außen um sie herum. Dann tritt einer der Jungen in den Kreis ein, wählt sich ein Mädchen aus und schläft dann vor den Augen der anderen mit ihr. Danach geht der nächste in den Kreis und sucht sich unter den restlichen Mädchen seins aus. Und so weiter. Jedes der Mädchen will 25 Rubel dafür.

„Aber sind das nicht Prostituierte?“ fragen wir. „Nein, sind sie nicht. Sie sind anders. Sie finden sich auf der Straße und in Hotels. Es gibt in der Tat eine Kampagne von einigen Männern und Frauen gegen sie. Sie fordern ein Gesetz gegen diese Frauen, auch, um so den 'armen Mann‘ vor ihnen zu schützen.“

Olga Alexandrovna hofft, daß es nicht zu einem solchen Gesetz kommen wird. Sie ist sich im Klaren darüber, daß der Weg, den es zurückzulegen gilt, in ihrem Land (wegen seiner kulturellen Vielfältigkeit) sehr lang sein wird. Dennoch macht sie keinen deprimierten Eindruck. Es scheint, als sei sie eine von den Wissenschaftlern, die, erst einmal angefangen, ihren Weg stetig weitergehen. Es passiert etwas in der Ideenwelt, das nicht mehr rückgängig zu machen ist. Ich frage, ob sie uns in Italien besuchen möchte? „Ja - sehr gerne!“

Es war ein Gespräch, bei dem ich sie habe reden lassen, selbst nur wenig gesagt habe. Ab und zu habe ich auf Unterschiede hingewiesen und mich ansonsten zurückgehalten. Ich ahne ihre Einsamkeit, ihre relative Einsamkeit inmitten der anderen Intellektuellen, ahne ihr Bedürfnis, diese ersten unruhigen Wogen des Kampfes der Geschlechter vorbeiziehen zu lassen. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sich die Perestroika mehr durchgesetzt haben wird, werden wir uns wieder treffen. Ich habe mit ihr zum Schluß ein bißchen über Sprache geredet. Das Russische dekliniert ganz anders als das Italienische - fast alles. Es gibt neutrale Formen.

Bei den Namen ist es so, daß der Nachname jeweils aus dem Namen des Vaters und des Ehemanns besteht. In der Höflichkeitsform wird die Person aber immer mit dem eigenen Namen und dem Namen des Vaters angesprochen, nicht mit dem Familiennamen. Ich denke an Spanien, wo der Familienname immer gleichzeitig aus dem Namen des Vaters und der Mutter besteht.

Eine Beziehung zwischen Sprache und der Austausch von Sexualität gibt es bestimmt, nur ist sie wohl nicht linear.

Übersetzung: Felicitas Hillmann

'Il Manifesto‘, 14.7. 1988