AL sucht immer noch die Blaue Blume der Romantik

■ Klaus Bölling schaute sich am Samstag drei Stunden lang die Parteiversammlung der Alternativen Liste an / Ein Interview

Welchen Eindruck hatten Sie von dieser für Sie ja wohl ersten Parteiversammlung der Alternativen Liste?

Der Eindruck ist zwiespältig. In der Diskussion habe ich den Eindruck gewonnen, daß viele von denen, die in der Berliner AL an der politischen Meinungsbildung mitwirken, immer noch auf der Suche nach der blauen Blume, dem Symbol der deutschen Romantik, sind. Ich meine das nicht geringschätzig, ich äußere diesen Eindruck sogar mit einer gewissen Sympathie. Aber als einer der älteren Sozialdemokraten habe ich Zweifel, ob die Mehrheit hier im Saal das begriffen hat, was der große Soziologe Max Weber gesagt hat: Politik ist das Bohren dicker Bretter mit Augenmaß und Geduld. Beim Zuhören kam bei mir die Sorge auf, daß einige meinen, die wirklich guten Ideen sind eigentlich nur bei den Alternativen zu Hause und die Sozialdemokraten müssten dankbar sein, wenn ihnen die AL die Chance gibt, diese guten Ideen durchzusetzen. So aber kann das nicht gehen. Die AL muß wissen, daß sie natürlich der Juniorpartner der SPD sein wird. Sie kann nicht mehr erwarten, als daß ein kleiner Teil ihrer Vorstellungen in ein Regierungsprogramm einfließt. Einige Mitglieder der AL aber auch einige Mitglieder der Verhandlungskommission haben noch nicht begriffen, daß für den Fall ihrer Regierungsbeteiligung die AL nicht Politik allein für ihre Klientel, sondern ein Senat das Wohl und Wehe aller Berliner zu bedenken hat. Die Sozialdemokraten können nicht mit der AL zusammengehen, wenn diese darauf besteht eine Politik zu machen, die eben gerade von der rechnerischen Mehrheit von AL und SPD getragen wird. Das wäre verheerend. Die SPD würde sich selbst enthaupten, wenn sie sich auf eine solche rein intellektualistisch-politische Konstruktion einließe.

Hat sich die SPD in den Bündnissen mit der FDP nicht auch auf etwas ähnliches eingelassen. Die FDP ist doch Klientelpartei und das Bündnis funktionierte über Jahre?

Ja, aber deshalb ist das Bündnis zwischen den Sozialdemokraten unter Helmut Schmidt und der FDP unter Genscher ja auch zerbrochen. Die Sozialdemokraten sind nicht begierig auf die Wiederholung einer Koalition, bei der vom ersten Tage an Konflikte ausgetragen und für die Eindämmung von Konflikten mehr Zeit aufgewendet werden muß als für ein pragmatisches Regieren, daß sich von dem der CDU/FDP Koalition in Berlin unterscheidet.

War Ihr Eindruck von der AL aus der Distanz heraus, ohne Augenschein ein anderer?

Vor dem persönlichen Augenschein hatte ich geglaubt, daß der Lernprozeß schon etwas weitergegangen sei. Ich hatte mir eigentlich erhofft, daß die Zahl derer die wissen, daß pragmatische Politik nicht etwas ehrenrühriges ist, geschweige denn etwas, was mit Opportunismus zu tun hat, größer sei, als ich es in den letzten drei Stunden in der Hasenheide erlebt habe. Wer Politik gestalterisch beeinflussen will, darf keine Angst vor Kompromissen haben. Aber weil ich von der blauen Blume gesprochen habe: Es ist wohl wirklich so, daß auch kritische progressive linke junge Frauen und Männer hier bei der AL diese unsäglich deutsche Vorstellung haben, ein Kompromiß sei etwas ehrenrühriges, etwas schlechtes, verbinde sich mit dem Adjektiv faul. Man will also besser rein bleiben und dann mit gutem Gefühl in den Spiegel gucken. Dann ist man an diesem elenden Gewürge, das es in der Politik in der parlamentarischen Demokratie in den Augen junger Menschen oft gibt, nicht beteiligt. Es muß begriffen werden, daß Kompromisse das Selbstverständliche in der Politik sind.

Können Sie das an einem konkreten Beispiel von der Versammlung deutlich machen?

Ja. Auch ich bin der Meinung, daß wir sehenden Auges in allen deutschen Ballungszentren ins Chaos rennen, was den Autoverkehr angeht. Dennoch halte ich es für eine gelinde gesagt närrische Vorstellung, daß man in einer Legislaturperiode mit einem rot-grünen Senat durchsetzen kann, daß die Leute nicht mehr Auto fahren. Das wird eines Tages womöglich so kommen. Aber so apodiktisch wie das heute von einem der AL-Verhandlungskommissionsmitglieder formuliert worden ist, geht das nicht zu machen. Wenn man das zu einer conditio macht, dann werden sich die Sozialdemokraten auf eine solche Maximalforderung nicht einlassen können.

Aber die Maximalforderung war doch Umweltkarte für 50 DM im Öffentlichen Nahverkehr. Statt Zwangsmaßnahmen das Umsteigen auf den Öffentlichen Nahverkehr zu unterstützen.

Ich bin nicht der Meinung, daß das prinzipiell eine romantische Forderung ist. Diese Forderung durchzusetzen, dazu braucht es bei einer Mehrheit der Bürger einen Lernprozeß. Man darf der Mehrheit der Berliner Bürger nicht den Eindruck vermitteln, sie sollten jetzt gleichsam die Objekte der progressiven pädagogischen Bemühungen der AL werden. Die BVG-Umweltkarte scheint mir eine nützliche Idee zu sein, wobei ich nicht beurteilen kann ob sie finanzwirtschaftlich machbar ist.

Bei den konkreten Vorstellungen in der Diskussion der AL -Mitgliederversammlung wurden doch gar nicht so viele Maximalforderungen aufgestellt, sieht man einmal von der Abschaffung des Verfassungsschutzes ab.

Eine Abschaffung des Verfassungsschutzes halte ich für nicht realistisch. Auch wenn es nicht zu einer rot-grünen Koalition kommt, werden die Sozialdemokraten sicher darauf dringen, daß es beim Berliner Verfassungschutz nach diesen skandalösen Vorfällen zu einem gründlichen Remidur kommt. Da braucht die SPD keine Nachhilfe der AL.

Einer der Punkte an dem es noch an Sach- und Fachkompetenz bei AL fehlt, ist die Wirtschaft. Ich selber bin der Meinung daß das Berlinförderungsgesetz eine ganze Reihe schwacher Punkte hat. Das Gesetz ist natürlich über die Jahre heftig mißbraucht worden. Das ist aber seit langen Jahren eine Einsicht vieler Sozialdemokraten. Aber es gibt einige wirtschaftsprogrammatische Vorstellungen der AL, die mich an die schrecklich wirklichkeitsfremden Vorstellungen der Jungsozialisten in den 70er Jahren erinnern, bis hin zu dem Vorschlag vor Heidi Wiczorek, die damals die Gehälter bei 5.000 DM einfrieren wollte. Hier zeigt sich jedenfalls, daß die AL, wie so manche Politiker schon in der Weimarer Zeit, ein unzulängliches Verständnis von ökonomischen Zusammenhängen hat. Die Komplexität und Kompliziertheit der Beziehungen zwischen Politik und Ökonomie werden unterschätzt, wenn die Mehrheit der Arbeitnehmer das Gefühl bekommt, daß es nur noch um Ökologie geht und das Thema der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit und im Idealfall der wirtschaftlichen Stärkung der Halbstadt von der AL vernachlässigt wird. Dann wird Rot-Grün schon vor Beginn der Zusammenarbeit aller Boden entzogen.

Wenn man Ihre Erfahrungen mit SPD-Parteiversammlungen vergleicht mit dem Eindruck, den Sie jetzt von der AL gewonnen haben, welche Unterschiede gibt's da?

Auch die harten Linken treten auf SPD-Parteitagen nicht bloß mit idealistischen oder romantischen Vorstellungen ans Podium. Sie bedenken ehe sie das Wort nehmen, was machbar ist. Sie überlegen, ehe sie einen kritischen, gegen die Mehrheit gezielten Diskussionsbeitrag sprechen, ob das Chance hat, in einer gegebenen Situation von den Sozialdemokraten auch durchgesetzt zu werden.

Hat es Sie überrascht, daß die Sozialdemokratie im Mittelpunkt der Diskussion stand?

Nein. Das halte ich für ein Zeichen eines wachsenden Realismus im Denken der AL. Denn eine andere Möglichkeit als das Neue mit der SPD zu wagen, gibt es nicht. Denn ein Minderheitssenat, der von der AL bloß toleriert wird, ist nur eine feuilletonistische Idee. Eine progressive Politik, die sich nicht nur in Reden sondern in Handeln eines Senats ausdrückt , die braucht das Zusammengehen der AL mit den Sozialdemokraten. Alles andere ist unrealistisch. Meine Partei muß das ehrlich, mit der notwendigen Härte und ohne Grauzonen zuzulassen versuchen. Rot-Grün ist im Interesse der arbeitenden Bevölkerung eine große Chance. Nach dem Scheitern in Hessen und den wirklich traurigen bis trostlosen Erfahrungen in Hamburg, kann der Generationskonflikt überwunden werden, der in dieser Stadt immer noch vorhanden ist. Hier können die Töchter und Söhne des deutschen Bürgertums wirklich zeigen, daß das Gerede von dem unvermeidbaren rot-grünen Chaos durch vernunftorientiertes Handeln widerlegt werden kann. Ich bin überzeugt, daß in Berlin eine Mehrheit für ein rot-grünes Bündniss zu gewinnen ist, wenn gesichert ist, daß hier von den Sozialdemokraten nicht aus Freundlichkeit utopische Vorstellungen akzeptiert werden, mit denen sich die AL schmückt, die aber einfach nicht in praktische Politik umzusetzen sind. Das ist entscheidend: Ein solches Bündnis darf von der AL nicht mit angewinkeltem kleinen Finger begonnen werden. Wenn hier in Berlin Rot-Grün gewagt wird, ist das für die Sozialdemokratie ein großes Wagnis. Auf beiden Seiten muß der ehrliche Wille vorhanden sein, das für eine volle Legislaturperiode durchzustehen. Das bedeutet nicht, daß auf das Austragen von Konflikten verzichtet wird. Wenn es nach Monaten oder übers Jahr schief geht, dann wird es lange Zeit in keinem anderen Bundesland noch einmal eine solche Chance geben. Dann wird sich der Eindruck festsetzen, die Grünen sind eben doch nur wohlmeinende Idealisten. Das wäre ein trauriges Signal.