Swinging Metropolis: 17. Cafe Klößchen

Die 1874er Auflage von Mayers Konversationslexikon attestiert den Berlinern einen „scharf ausgeprägten Charakter“ und stellt fest: „Ein keckes, dreistes Auftreten, das jemand schon in dem scharfgeschliffenen, hellen an verwechseltem Mir und Mich überreichen Dialekt, der jedes G in ein J verwandelt, pikant ausgedrückt findet, ein ganz unangemessener Stolz auf B. und seine Herrlichkeit ist dem Berliner eigentümlich. Er glaubt steif und fest an das alte Anagramm des Namens B.“ Die Rede ist von „Berolinum Lumen orbi“, was „Berlin - Licht für die Welt“ bedeutet und die der Humboldtschen Universität entspringenden „großartigen und epochemachenden wissenschaftlichen Leistungen“ meint. Obwohl er schon viele Städte gesehen, hätte er doch den Eindruck, daß Berlin unter ihnen die schönste sei, lobhudelt auch olle Klassiker Willem anno 1888. 36 Jahre später flirrt die Euphorie ungebrochen durch den künstlerischen Dunstkreis - weniger wohl durch den der Arbeitslosen. Ödon von Horwarth, grad mal 23 Lenze jung, sieht die Stadt und schwärmt stante pede: „Und nun das Wichtigste: bekanntlich braucht man zum Denken einen Stuhl, auf dem man sitzt. Es hat sich allmählich herumgesprochen, daß das Materielle unentbehrlich ist. Und das bietet dem jungen Schriftsteller nur Berlin, von allen deutschen Städten. Berlin, das die Jugend liebt und auch etwas für die Jugend tut, im Gegensatz zu den meisten anderen Städten, die nur platonische Liebe kennen. Ich liebe Berlin.“

In dieser Notiz dürfte sich die Bestuhlung eines der zahlreichen, kommunikativen Cafes verbergen. Das erste in seiner Konsequenz zu Ruhm gekommene ist das Cafe des Westens, Heimstadt Nummero Zwo für Scharen von Schreibern & und Schwärmern, Anlaufstelle für Heroen und Heloten aus Kunst, Wissenschaft, Bühne und Journaille nebst Anhang und Fans. Obschon bereits seit 1893 existiert, beginnt erst zwei Jahre drauf, unter der Ägide des italienischen Musenfreundes Rocco, die Entfaltung seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung. Später, in der Festschrift zum 20jährigen Bestehen, beschreibt Edmund Edel den Beginn: „Eines Tages fiel der ominöse Bauzaun, über den wir Anwohner der grünen Baumstraße uns nun schon genügend geärgert hatten. Er verschandelte uns die ganze Gegend. Und bald erstand ein stolzes Eckhaus, mit dem damaligen „hochherrschaftlichen Komfort“ ausgestattet (o welch ein langer Weg vom hochherrscahftlichen Komfort bis zu 'allen Komförtchen‘!). Unten aber in diesem Haus tat sich ein Kaffeehaus auf und bat die wenigen Leute, die dazu Zeit hatten, diese Zeit in seinen Räumen totzuschlagen.“ Man imaginiere also das KranzlerEck in kiefernbestandener Umgebung, gestaltet in quasi zusammengebröckelter Bauweise, und schon sind wir bei einer lukullischen Umschreibung a la „Wasserklops“ oder „Schwangere Auster„; mutmaßlich bewegt diese „Gulasch -Architektur“ Alfred Lichtenstein dazu, seine satirischen, mit allerlei Insider-Scherzen gewürzten Geschichten im „Cafe Klößchen“ anzusiedeln. Die berühmte offiziöse Bezeichnung „Cafe Größenwahn“ taucht erstmals 1903 auf, inspiriert vom Münchner Boheme-Schuppen Stephanie, welcher kurz zuvor unter diesem Namen zu einer Faschingsfeier eingeladen hatte. Aus Wien und München trudelt in der Folge auch alles hier ein, was Rang und Namen besitzt oder gern besäße. Ein Faß ohne Boden wär's, dieserstells eine umfassende Aufzählung derer anzustreben, die sich im Laufe der Jahre vom „Roten Richard“, dem legendären Zeitungskellner, mit den cirka 60 (sechzig!) täglich erscheinden Blättern jedweder Couleur versorgen lassen.

Ein gewisser Alfred Henschke gehört dazu, welcher im Dunst der Stunde auf die Idee kommt, Klabautermann und Vagabund zu seinem künftigen Pseudonym Klabund zusammenzukleistern. Gemeinsam mit Erich Mühsam, Salomo Friedlaender, der als Mynona genialisch philosophische Schrägheiten verfaßt und John Höxter, dem begnadeten Schnorrer und Lebenskünstler, gibt er sich dem Kreieren nonsensuöser Schüttelreime und Spottverse hin. Auf Rückseiten unbezahlter Rechnungen und auf Zeitungsrändern sind, so berichtet Geza von Cziffra, Ergüsse fixiert wie „Von deutschen Dichtern lies am meisten, / Nur die so viel wie Mühsam leisten.“ oder „Für Lohn kreucht er/ Auf den Kronleuchter.“ Abwesende werden in die Pfanne gehauen: „Wenn mancher Mann wüßte, / Wer Thomas Mann wär, / Tät mancher Mann Heinrich Mann / Manchmal mehr Ehr.“

Derweil stellen nebenan Karl Kraus und Theodor Loos ihre neuseste Entdeckung vor, einen Maler namens Kokoschka. Über zwei extrem eifrigen Stammgäste, Sturm-Herausgeber Herwarth Walden und die Expressionismusdiva Else Lasker -Schüler, staunt Tilla Durieux: „Dieses Ehepaar, mit ihrem unglaublich verzogenen Sohn, konnte man nun von mittags bis spät nachts im Cafe des Westens unter all den wilden Kunstjüngern und Kunstfrauen antreffen. Die kleine Familie nährte sich, wie ich vermute, nur von Kaffee.“ Tatsächlich schreibt Lasker-Schüler, da sie einmal krank zu Bette liegt: „Ich bin nun zwei Abende nicht im Cafe gewesen. Ich fühle mich etwas unwohl am Herzen. Dr. Döblin kam mit seiner liebreizenden Braut, um eine Diagnose zu stellen. Er meint, ich leide an der Schilddrüse, aber in Wirklichkeit hatte ich Sehnsucht nach dem Cafe.“

Doch - wie jeder aufmerksame Kneipengänger weiß - kein Tresen steht auf ewig; unter dem neuen Inhaber Ernst Pauly (den Jürgen Schebera in seiem ansonsten liebevoll aufbereiteten Abriß Damals im Romanischen Cafe, vielleicht vermittels eines christlichen Verwechslungsmechanismus‘ hartnäckig „Herrn Petry“ nennt) geht's abwärts mit dem Künstlertreff. Wieder ist es die exzentrische Else, die in einem offenen Brief 1913 zornig lamentiert: „Früher war das Stelldichein all dieser 'Radikalen‘ das Cafe Größenwahn. Aber eines Tages verbot der Besitzer der Dichterin Else Lasker-Schüler, die zu diesem Kreis gehört, das Lokal, weil sie nicht genug verzehre. Man denke! Ist denn eine Dichterin, die viel verzehrt, überhaupt noch eine Dichterin?“

Als im September dieses Jahres Cafe Klößchen in neue Räumlichkeiten am Kudamm 26 kullert, bedeutet das den Startschuß zum Exodus der bisherigen Elite-Gäste. Den geschäftstüchtigen Wind fliehend, suchen sie nach einer neuen Bleibe, die sich erst fünf Jahre später herauskristallisieren wird, das Romanische Cafe. Doch halt, noch darf kein Schlußstrich unter dies abweichlerische Kapitel gezogen werden, denn im ersten Stock des Neubaus erhebt sich überraschend ein Hurricane aus dem totgeglaubten Unternehmen, Kurz aber heftig und folgenreich, hat er auch endlich wieder was mit Musik zu tun: Rosa Valetti eröffnet das Cabaret Größenwahn.

Norbert Tefelski