Der Sturm auf Dschalalabad steht bevor: Mit dem Fall der Hauptstadt der afghanischen Provinz Nangrahar wird sich der Machtkampf der Mudschaheddin-Gruppen in den Provinzen Kunar und Nangrahar verschärfen/Bisher stehen zwei rivalisierende...

Die Mudschaheddin in den afghanischen Provinzen Kunar und Nangrahar interessieren sich in diesen Tagen ausschließlich für das Schicksal der Stadt Dschalalabad. Selbst die große Versammlung in Islamabad, auf der die Zusammensetzung der zukünftigen afghanischen Mudschaheddin-Regierung beraten werden soll, tritt in den Hintergrund, wenn Afghanen an den Fronten die politische und militärische Entwicklung diskutieren. „Wir sind Kämpfer; für uns ist das Wichtigste die Einnahme von Dschalalabad“, sagte Kommandeur Jehandad Khan von der „Ahle Hadith“ in seinem Hauptquartier in Chavki in der Provinz Kunar.

Das Leben auf den unteren Hängen des wildromantischen Kunar -Tals kehrt langsam zur Normalität zurück, aber die meisten Dörfer sind noch verlassen. Bewaffnete Mudschaheddin sind die einzigen Dorfbewohner; ein paar Kinder und Frauen arbeiten auf den Feldern oder hüten ihre Herden. Vereinzelte Schüsse erinnern daran, daß der Krieg noch nicht zu Ende ist.

Der Rückzug der Regierungstruppen aus Kunar hat nicht nur Mudschaheddin für neue Aufgaben in der Nachbarprovinz Nangrahar freigesetzt, sondern ihnen auch kürzere und besser gesicherte Nachschubwege verschafft. Die Mudschaheddin ezielten all ihre kürzlichen Erfolge in Nangrahar, weil sie aus Kunar vordringen konnten. „Meine Männer haben sich nur drei bis fünf Kilometer vor Dschalalabad eingegraben“, behauptet Kommandeur Jehandad. „Jetzt überblicken sie die belagerte Stadt und sind in Position für den Sturm.“

Mudschaheddin, die auf Kleinlastern aus dem Kriegsgebiet zurückkehren, berichten von schweren Luftangriffen durch Regierungsflugzeuge. Die meisten hatten das Gefühl, die Einnahme von Regierungsstützpunkten in der Nähe von Dschalalabad hätte die Regierungstruppen demoralisiert und die Zivilbevölkerung in ihrer bisherigen Unterstützung der Regierung wankend gemacht. Die wild aussehenden Mudschaheddin, staubbedeckt und müde, kehren für einen kurzen Urlaub zu ihren Familien in pakistanischen Füchtlingslagern zurück. „Wir wollen rechtzeitig zurückkehren, um beim Einmarsch in Dschalalabad dabei zu sein“, sagt ein Junge mit Kalaschnikow.

Ein anderer Kommandeur, der anonym bleiben wollte, meinte, Dschalalabad sei längst gefallen, wenn die verschiedenen Mudschaheddin-Gruppen ihre Uneinigkeit überwunden hätten. Er machte sich auch Sorgen, daß sich nach dem Fall Dschalalabads sich die Entwicklung von Kunar und Nangrahar wiederholen könnte, wo rivalisierende Gruppen der Mudschaheddin sich um die Besetzung von Regierungsstellen, militärischen Einrichtungen, um die Verteilung von Läden, Häusern und Land streiten.

Seine Sorge ist nicht unbegründet. Die Fahnen der verschiedenen Widerstandsgruppen in Asadabad, der Hauptstadt der Provinz Kunar, zeigen an, wie der Streit um die besten Gebäude ausgegangen ist. Die Gruppe „Ahle Hadith“ unter Maulana Jamilur Rahman hat in Kunar deutlich den Sieg davongetragen: Sie besetzte in Asadabad den Flugplatz, das Elektrizitätswerk, das Rathaus, den Stützpunkt der sowjetischen Truppen, Gefängnis, Gericht usw. Sie kontrolliert auch die meisten Läden und Häuser der Stadt. Die Parteiaktivisten haben große Landstreifen gepflügt und Weizen gesät, mit Traktoren aus Pakistan. Die Gruppe unterhält auch eine Polizei von 1.000 Mann.

Die Ittehad-i-islami des Professors Sayyaf hatte den mobilen Radiosender besetzt, während andere Gruppen ebenfalls ihre Einheiten in beschlagnahmten Gebäuden untergebracht haben. Die beiden stärksten Gruppen in Kunar scheinen jedoch die „Ahle Hadith“ und Hikmatyars „Hezb-i -islami“ zu sein. Beide haben Regierungen gebildet. Die Regierung der „Ahle Hadith“ wirkt disziplinierter und geeinter als die aus verschiedenen Parteien zusammengesetzte Regierung der Allianz. Die beiden rivalisierenden Regierungen befinden sich in einem Zustand friedlicher Koexistenz. Dieser Friede wird jedoch durch viele Faktoren bedroht. Die „Ahle Hadith“, von der pakistanischen Regierung offiziell nicht anerkannt, ist aufgrund der Begeisterung ihrer Mitglieder und der finanziellen Unterstützung arabischer Länder, vor allem Saudi-Arabiens, schnell gewachsen. Ihre Aktivisten wollen sich jetzt auch in anderen Provinzen festsetzen, insbesondere in der Nachbarprovinz Nangrahar, wo ihnen die Besetzung von Schlüsselpositionen in Dschalalabad den benötigten Aufschwung verschaffen könnte, was die anderen Gruppen offensichtlich beunruhigt.

Der Machtkampf in Kunar wird sich mit der Rückkehr der Flüchtlinge verschärfen. Zur Zeit kommen jedoch nur wenige Flüchtlinge zurück, aus Angst vor Luftangriffen und den überall ausgelegten Minen, wie auch wegen des Fehlens einer effektiven Regierung. Dennoch steht in einigen Teilen Kunars die erste Weizenernte seit vielen Jahren bevor. Auch Bewässerungskanäle werden instandgesetzt, aber es wird offensichtlich eine enorme Arbeit sein, Kunar wieder aufzubauen. Vertreter beider Regierungen hoffen auf ausländische Hilfe für Kunar, das einst als eine der waldreichsten und fruchtbarsten Provinzen Afghanistans galt.