Ungarns KP auf der Suche nach Konkurrenten

Das ZK der ungarischen Kommunisten einigt sich in der Geschichtsdebatte auf Kompromißformel: Der Aufstand von '56 war erst „Volksaufstand“, später „Konterrevolution“ / In der Praxis setzen sich Reformer duch: ZK für Mehrparteiensystem  ■  Von Hofwiler&Rathfelder

Budapest/Berlin (taz) - Jetzt ist es auch parteioffiziell: In Ungarn wird es in naher Zukunft ein Mehrparteiensystem geben. „Im Mehrparteiensystem sehe ich eine größere Möglichkeit, weniger Fehler zu begehen“, erklärte Parteichef Karoly Grosz am Sonntag in einem Interview mit dem ungarischen Rundfunk. Grosz stellte damit der Öffentlichkeit die Ergebnisse einer Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Kommunisten vom Wochenende über das Geschichtsverständnis der Partei vor. Die Partei-Debatte über die Bewertung der „Ereignisse von 1956“, die nun schon seit Wochen in den ungarischen Medien hohe Wellen schlug, hat damit hochbrisante politische Dimensionen erreicht. Die 108 Mitglieder des Zentralkomitees waren nämlich am Freitag zunächst nur zusammengetreten, um über die Frage zu streiten: War 1956 eine „Konterrevolution“ oder ein „Volksaufstand“? Nach zweitägigen Beratungen und einer Verlängerung dann das Ergebnis: die Aufgabe des Machtmonopols der Partei und das Ende des Einparteienstaats.

Die große Mehrheit der ZK-Mitglieder sprach sich dafür aus, den Aufstand von 1956, der durch die Rote Armee beendet wurde, als einen „Volksaufstand“ zu definieren, der aber „gegen Ende der Auseinandersetzungen einen konterrevolutionären Charakter hatte“. Er wird also jetzt nicht mehr als eine konterrevolutionäre Erhebung an Fortsetzung auf Seite 2

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gesehen, bei der auch „ehrenwerte Leute“ beteiligt waren, sondern als ein Volksaufstand, bei dem auch konterrevolutionäre Elemente mitmachten.

Mit diesem Kompromiß können zunächst beide Flügel in der Partei leben. Die Konservativen konnten ihre Terminologie wenigstens teilweise retten, und die Reformer setzten sich bei den praktischen Konsequenzen durch. Parteichef Grosz wies nach der Entscheidung darauf hin, daß die Diskussion vom „Bemühen gekennzeichnet war, die Einheit der Partei zu wahren“. Noch kurz vor der mit Spannung erwarteten ZK -Sitzung hatte Grosz einer Parteizeitung anvertraut, daß sich im ZK inzwischen unüberbrückbare Gegensätze entwickelt hätten. Die Äußerungen des Reformers und Lei

ters der Geschichtskommission der Partei, Imre Pozsgay, der den „konterrevolutionären“ Charakter der „tragischen Ereignisse“ von 1956 abgelehnt und ausschließlich von einem „Volksaufstand“ gesprochen hatte, waren unter anderem von ZK -Sprecher Janos Berenz heftig kritisiert worden. Pozsgay habe eine Terminologie verwendet, für die es innerhalb der Partei keinen Nenner gebe, sagte Berenz noch in der letzten Woche und wurde darin von Ministerpräsident Nemeth unterstützt.

Während die Pozsgay-Gegner noch damit beschäftigt waren, ihr „bis hierhin und nicht weiter“ abzustecken, meldete sich auch der Parteiideologe und Leiter der Abteilung Gesellschaftswissenschaften beim Landesrat der „Patriotischen Volksfront“, Csaba Vass, in der Tageszeitung 'Magyar Nemzet‘ zu Wort: Er befürchte heute eine Entwicklung hin zu einem neuen 1956 und sehe eine Polarisierung der Gesellschaft,

die zwischen den Extremen „Weißer Terror“ und „Restalinisierung“ verlaufe. Die schnelle Umgestaltung vertiefe nicht nur die Unterschiede zwischen den Extremen, sondern schaffe auch immer mehr Chancenlose in der Gesellschaft, die in einem stalinistischen Modell einen Ausweg aus der Krise sehen könnten.

Ob der am Samstag gefundene Kompromiß die Einheit der Partei tatsächlich auf Dauer garantieren kann, ist fraglich. Denn auch die Bevölkerung ist über die Reformen und die Reformpläne in zwei Lager gespalten. Der Unmut wächst bei denen, für die der neue Kurs bisher nur eine Verschlechterung des Lebesstandards brachte. Die Löhne fallen, die Arbeitslosigkeit steigt, und das bei fehlender sozialer Absicherung. Und noch in einem anderen Punkt hat Vass recht: Die Stalinisten formieren sich neu. Gerüchte über Geheimbünde gehen um. Über

6.000 Mitstreiter soll die Ferenz-Münich-Gesellschaft zählen, eine Gruppierung, die sich zur Aufgabe gemacht hat, das „kommunistische System vor Aufweichungen und Verwässerungen“ zu schützen, wie ihre Vertreter freimütig vor der Presse bekannten. Und sie prahlten damit, sie hätten genügend Anhänger in der Polizei und beim Militär, um ihrer Meinung Nachdruck zu verleihen. Nomen est omen: Der ehemalige Ministerpräsident Ferenz Münich war maßgeblich an der Repression nach der Niederschlagung des „Volksaufstandes, der gegen Ende einen konterrevolutionären Charakter hatte“, beteiligt.