Mit dem Schoko-Kuß in die schwarzen Zahlen

■ Ein Besuch auf der Internationalen Süßwarenmesse in Köln / Die Zuckerbranche boomt und sucht noch nach dem gesundheitsbewußten Vollkorn-Gummibärchen

Von Bernd Müllender

Köln (taz) - Da mag die Karies wüten, wie sie will, und die Zahnarztkosten für die mundfaulen Bundesbürger noch so steigen: Süßkram wird gemampft wie nie zuvor. Um über fünf Prozent stieg die Produktion der bundesdeutschen Fachindustrie im vergangenen Jahr auf gigantische 1,9 Mrd. Kilogramm Süßigkeiten. Den um satte 13 Prozent erhöhten Export gegenüber 1987 abgerechnet, verputzte jede/r von uns 31 Kg. zuckriges Schleck-, Lutsch- und Knabberzeugs, also fast die Menge einer Tafel Schokolade täglich. Jede elfte Mark für Nahrungsmittel geht hierzulande für Schleckereien drauf.

Ein widersprüchliches Parallelphänomen zur andererseits weiter boomenden Fitneß- und Gesundheitswelle. Das Angebot ist schon erschlagend, bevor es in den Magen kommt. Da ist ja nicht nur die althergebrachte Schoko-Tafel oder Gummis -Tüte, nein, da locken Bonbons als „Sahne Muh-Muhs“ ebenso mit dem nach wie vor beliebten Alpen-Sonne-Kuh-Motiv wie der Karamel-Lutscher, der jetzt „Alpenliebe“ heißt. Mit „Jogulino aus dem Pralinen-Paradies“ kann man „garantiert unbeschwert genießen“. Daneben gibt es Pastillen mit Ginseng -Extrakten (Globetrotter, „Energy for You“), und längst auch das früher so selbstverständlich schwarze Lakritz in schillernden Farben und Spaghettiform.

Gummibärli mit Zuckerersatz

Immer neu, immer bunter (dafür sorgen die teils überaus ungesunden Kunstfarben mit dem Kürzel E), immer ausgefallener. „Exquisites Naschen“ vermeldet die Industrie als Trend, zunehmend konzipiert für „kleine luxuriöse Geschenke und Aufmerksamkeiten mit Pfiff“.

Konventionell innovativ ist eine französische Firma. Sie bietet die bunten Brummer mit Schokoüberzug an - und das ist indes noch süßer, und der Mund weiß nicht, soll er nacheinander lutschen, knatschend durcheinander kauen oder was sonst? Anders die Firma Munz AG, die Nummer zwei der Schweiz nach dem Riesen Nestle. Hier gibt es das weltweit erste Gummibärli mit Ersatzsüßstoff. Es schmeckt durchaus wie gewohnt und bringt bereits nach eineinhalb Jahren, wie Verkaufsleiter Robert Egli freudig erzählt, „einen sehr guten Umsatz“, obwohl man noch gar nicht in die Werbung gegangen sei. Doch in der Schweiz gibt es ein offiziell verliehenes Gesundheitszeichen für Süßes auf den Packungen („das Zahnmännli“, so Egli).

Einen solchen „Umweltengel“ für Nahrungsmittel gibt es hierzulande nicht. Aber es gibt „Honey Bears“ (Geschmacksnote: merkwürdig), honiggesüßt eben, in neutralem und bärengerechtem Dunkelbraun, und „konzipiert für den Bioladensektor“, wie die Herstellerfirma erläutert. Honiggesüßtes und vollkorniges Naschwerk ist auf den ersten Blick eine gesündere Alternative zum Weißmehl -Industriezucker-Fraß. Aber gerade die immer beliebteren Müsliriegel, so haben Ärzte herausgefunden, verkleben im Mund noch heimtückischer.

Dennoch boomt gerade das Vollwertige, auch beim Knabbergebäck mit Leinsaat, Sesam und Meersalz. Traditionsbewußte Firmen ficht das indes nicht an: „Niederegger Marzipan“ aus Lübeck werde es wohl nie anders als gewohnt geben, erklärt die Fachfrau in Köln, viel Zucker brauche man ohnehin nicht (nur schlappe 40 Prozent), weil man die „ausdrucksstark süße Mittelmeermandel“ verwende. Vollkornmarzipan? „Nein, wir werden doch nicht die Mandeln mit Haut verarbeiten.“ (Wäre auch nicht gesünder, da sich in der Schale die heimtückische Blausäure befindet - d. Korr.in)

Auch „Ritter“ will am alternativen Teilmarkt nicht partizipieren. Da sei „die Selektionsphase schon im Gange, die Märkte besetzt“, heißt es am Stand. Dafür aber hat auch hier der moderne Schokoriegel Einzug gehalten - und zwar: rund! Warum nicht nach erfolgreichem Firmenimage eckig, praktisch, gut? Das weiß der ritterliche Repräsentant selbst nicht.

„Negerküsse“

Rund bleibt auch das Hauptprodukt des zweiten, hier näher zu betrachtenden Schnützkram-Sektors, nämlich die Schoko-Küsse, die in der Branche immer noch, fast ungebrochen, „Negerküsse“ genannt werden. Die Steigerwalder Fachfirma „Der Süße Wolf“ bringt dabei „Bewegung in den Negerkuß -Markt“: 100 Millionen Mark Umsatz pro Jahr gibt es allein für diesen Teilbereich, jedeR zweite Deutsche läßt sich derart küssen, und jeder vierte über 60. Zudem hätten die Küsse eine „dreifach höhere Umschlaggeschwindigkeit als Schokolade“. Alles also spricht für den „Neger“ (Branchenjargon).

Mit Herrn Schmidt ergibt sich eine kurze Sprach-Diskussion: Ja, er wisse, man sage längst Farbige oder Schwarze, aber, bitteschön, wo solle das bei seinem Produkt enden: im Schwarzenkuss oder im Farbigenkuss? „Das geht doch wirklich nicht“, meint der gute Mann empört, und verweist stolz auf die Neuerung des Hauses: den „weißen Schokoladenkuß“. Da ist er nun der Meinung, daß man von einem „weißen Negerkuß nicht sprechen sollte“. Wenn der Begriff „Negerkuß“ schon ein koloniales Relikt ist - ist er auch typisch deutsch? Zweiter Versuch bei einer dänischen Firma: Nein, auch auf Dänisch und übrigens auch in vielen anderen Sprachen heiße es „Negerkuß“, und es sei, sagt der kundige Verkaufsmensch, auch nicht so, daß die Verbraucher beim Mümmeln der schwarzgewandeten Schaummasse fremdenfeindliche Gelüste verspürten. Im Gegenteil: er habe schon „einige Neger“ an seinem Stand gehabt, die „sehr gern Negerküsse gegessen haben“ Da ist es an der Zeit, die politische Solidaritätsdebatte abzubrechen.

Zur Creme des Gaumenkitzels gehören die belgischen Super -Creme-Pralines der Firma ten Hove. Jedes einzelne Stück handgefertigt, Kunstgebilde für Augen wie Gaumen, wo allein die Herstellung pro Kilo über zwanzig Mark kostet, pro Stück demnach mehr als 50 Pfennig. Kein Wunder, daß bei solchen Verlockungen Tragetaschen-bestückte Scharen von Messebesuchern letztlich mehr beeindruckten als selbst das süßeste Süß: Schlimmer als in jedem Schlußverkauf wurde da abgeräumt, eingepackt und weggeschleppt, soviel die Arme tragen konnten.

Angriff der Tütenmenschen

Besonders wüst wurde es am Sonntag nachmittag, als einige ausländische Firmen ihre Ausstellungsware kurz vor Messeende freigaben, um unnötige Transportkosten zu sparen: Da fielen die Tütenmenschen wie die Heuschrecken über die Stände her und hatten alles in Sekundenschnelle leergefegt. So mancheR ließ da die statistische Ration für fast ein ganzes Jahr mitgehen. Die Sucht nach geschenktem Magenkleister überraschte, war es doch eigentlich eine Messe nur für Fachbesucher, Hersteller und Wiederverkäufer. Aber wenn es um Süßigkeiten geht, sind im vielfräßigen Deutschland auch VerbraucherInnen offensichtlich schon Fachleute.