Lebendiger Wedekind

■ Hans Falar inszenierte „Frühlings Erwachen“ im Schauspielhaus: Frank Wedekinds 100 Jahre alte Provokation verjüngt durch spielende SchülerInnen / Falar übertrumpft Wedekind

Ein veraltetes Stück und dazu noch eins, in dem pubertierende Vierzehnjährige die Hauptrollen spielen. Zwei Klippen. 1890/91 hat der 26-jährige Frank Wedekind mit viel autobiographischem Material „Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie“ verfaßt. Ein Stück, in dem zwei der drei Vierzehnjährigen, um die es geht, an der verwesungsstinkenden, aber geltenden Sexualkonvention des viktorianisch-wilhelminischen Zeitalters sterben: Wendla stirbt an einer Abtreibung, die die Mutter an einem Kind vollziehen läßt, das dank ihrer Aufkärungskünste nicht wußte, daß es schwanger ist. Moritz, der Fabulierer, schießt sich eine Kugel in den Kopf, in dem sich das Versagen in einer nicht lehrenden, sondern brutal aussondernden Schule mit sexueller Hilflosigkeit mischen.

Hans Falars Inszenierung läßt dem Problem seine Fassung von 1890. Dennoch ist sie, wie sie ist, nicht nur spannend, sondern spielt auf wundersame Weise auch im Jahre 1989. Die Ursache für dieses Wunder ist die Besetzung. Julia Hentschel spielt eine Wendla so unbefangen erotisch neugierig, so kindlich anhänglich wie aufbegehrend trotzig, spricht Wedekinds Jugendstil so selbstverständlich, wie ihre 89er Version punk reden würde. Frank Meyer gibt Moritz Stiefels schwärmerisch-verwirrte Tiraden so zart und durchgehend geniert, Carl Ludwig Weinknechts grübelnder Melchior ist so selbstverständlich, reagiert so präsent

auf seine Gegenüber, daß es das schiere, aufmerksamkeitsbindende Vergnügen ist.

Die Schüler von 1890 werden von Schülern 1989 gespielt. Hans Falar und die Dramaturgin Ursula Rühle haben viereinhalb Monate mit diesen „Laien“ des Jugendclubs des Bremer Theaters gearbeitet. Und ihr Spiel so nahtlos mit dem des Profi-Ensembles verbunden, daß nicht glaubt, wer's nicht gesehen hat. Besonders gelungen das Zusammenspiel von Traute Hoess als ängstlich-enge Mutter, die es eben auch nicht besser weiß, und Julia Henschel als Wendla.

Falar und Rühle haben so nicht nur die Peinlichkeit der in Pennälerhosen gepreßten Profis umgangen. Der Zugang der Schüler aktualisiert das Stück trotz oder gerade wegen seiner historischen Form. Ohne daß man so einfach sagen könnte: Dies und das ist heute so wie damals. Vielleicht die Unbrauchbarkeit der jeweiligen Sprache, damals der philosophiehuberischen für die Fragen der Sexualität.Und, daß die Sexualität und gar Liebe etwas sind, über das die Luft so voll von Mythen und lügnerischem oder ahnungslosem Geschwätz ist, daß sie eine(n) ratloser antrifft als die allerersten Menschen.

Wedekinds Stück strotzt vor sexualprovokativen Stellen, so wenn Hänschen Rilow auf dem Klo zu klassischen Aktgemälden wichst, oder in der „Korrektionsanstalt“, in die Melchior zu Strafe kommt, die korrigierten Jünglinge dieses um die Wette tun; wenn

Wendla Melchior bittet, sie zu schlagen, damit sie weiß, wie das tut, oder wenn sich zwei vierzehnjährige Jungen abküssen. Falar zeigt diese Scenen alle, die erst in den 60er Jahren, u.a. in Zadeks Bremer Aufführung, auf der Bühne gezeigt wurden. Das ist gut, Wedekind will das zeigen, wovon zu reden, noch nach 100 Jahren, nicht zum guten Ton gehört. Falar erfindet noch heftigere Stellen selber: Wenn Melchiors Vater im gewölbten Ehebett seine widerstrebende Frau überzeugt, daß der Sohn in die „Korrektionsanstalt“ muß, weil er Wendla verführt hat, dann krönt Falar das mit einer Hernahme von Frau Melchior durch Herrn Melchior von brutalstem Ehezuschnitt. In der Anstalt wird der Wichswettkampf nun eingeleitet durch ein Schinderballett, wo Herr Dr.Prokustes eine Bühne voll nackter Jünglinge Auf! und Nieder! quält. Vor allem aber wird die Abtreibung an einer sich wehrenden Wendla, bei Wedekind nur angedeutet, lang und für mich fast erträglich quälend, naturalistischt auf die Bühne gebracht. „Ich glaube“, hat Wedekind gesagt, „daß das Stück um so ergreifender wirkt, je harmloser, je sonniger, je lachender es gespielt wird.“ Falar ist das in vielen Szenen gelungen. Aber - besonders - seine Einfügungen verwechseln das Widerständig-Anstößige mit dem Reißerischen. Das Gleichgewicht zwischen angeklagter Gewalt und ihrer theatralen Ausschlachtung kippt zugunsten letzterer.

Uta Stolle