DIE DISSERTATION AM BLITZABLEITER

■ Wladimir Majakowksi - „Tragödie von 1913“ an der HdK

Die Bühne ist ebenerdig, schwarz und unendlich groß. Auf weißen Bahnen werden ein riesiges blaues Zahnrad, ein großes weißes Rad und ein kleines rotes Rad mit hundert Beinen hin und hergerollt. Die großen werden von Menschen in grauen Lumpen mit Müh und Not bewegt, das kleine dagegen flitzt wie irr umher. Die grauen Menschenkinder sollen Bettler sein, aber in ihren uniformen Anzügen sehen sie aus wie die klassischen Bühnenproletarier.

Über ihnen kommt ein Fisch geschwommen, und die Menschen erklimmen Leitern, um seinem Bauch große Brezeln zu entnehmen, mit denen sie einen rituellen Tanz aufführen. Aus dem getigerten Klavier ragen Krokodilszähne, in denen die Hände des Pianisten blutig werden. Obenauf thront eine schwarze Katze.

Sechs Meter hoch ist die rote Puppe. Von Stäben bewegt baumelt sie mit ihren großen Brüsten. Wagen fahren hinein und heraus, und in einem reitet die Marionette des Erfinders des ganzen Spektakels Voodoo. Rechts und links von der Bühne stehen alte Tonnen, hängen Schrotteile am Gestänge und werden von den OrchesterarbeiterInnen malträtiert. Als ob sie nichts mit alledem zu tun hätten.

Der Aufstand der Dinge wird geprobt: ein Mann mit doppeltem Gesicht, einer ohne Kopf in grün, eine Frau in einer roten Kugel und zwei kubische Wesen - Rußland 1913. Und mittendrin steht der Dichter selbst, Vladimir Majakowskij mit gelbem Schlips, und schleudert revolutionäres Pathos ins Publikum, das entsetzt zu sein hat. So jedenfalls im Jahre der Uraufführung. Der russische Futurist hat sich vor 59 Jahren erschossen, sein Begräbnis ist in die sowjetische Geschichte eingegangen.

Also übernimmt der Kunststudent Thomas Holländer Majakowskijs Platz. Nach den Projekten „Echo: Kandinski: Echo“, „Rimbeau Parade Westend“ und „Die Kunst und der Tod Antonin Artaud“ versucht eine Gruppe HdK-Angehöriger die Traditionen der Moderne unter künstlerischer und wissenschaftlicher Leitung am Beispiel des zornigen jungen Russen aufzuarbeiten, entschlossen, ihr Projekt auch während des Hochschulstreiks durchzuführen, „weil hier der Versuch unternommen wurde, einige der wesentlichen Forderungen der streikenden StudentInnen (Interdisziplinarität, Öffnung der Hochschulen nach außen) in die Praxis umzusetzen“.

Für Augen und Ohren ist das HdK-Unternehmen ein Riesenspaß. Aber da ist noch Majakowskijs Nachfolger. Seine Seele bleibt „Fetzen für Fetzen an den Blitzableitern der Stadt hängen“. „Kommt heraus aus euren Häusern und streichelt die mageren schwarzen Katzen“, schreit er. Die Schuhe des wilden jungen Mannes haben ovale Löcher. Straßenbahnen machen sich selbständig. Majakoswkij ist ein Prometheus der Elektrizität, der Walt Whitmann gelesen hat, die Apostelgeschichte auf den Kopf stellt und erstens weiß, daß er nicht unfehlbar, sondern zum Scheitern verurteilt ist und zweitens trotzdem sisyphusartig weiteragitiert.

Vladimir Majakowksij nähme man das ab. Thomas Holländer ist jedoch nicht der vorrevolutionäre Futurist, sondern ein Berliner Hochschulabsolvent, dem bei jedem rezitierten Gedicht anzumerken ist, mit wieviel Fleiß und Eifer er Majakowskij wieder zum Leben erwecken wollte. Majakowksijs Pathos ist nicht das seine. Das stört, macht aber nichts, weil das Spektakel so schnell vorüberbraust, daß keine Zeit zum Überlegen bleibt. Außerdem wissen alle, Zuschauende und Beteiligte, daß eine russische Revolution stattgefunden hat. Der Blick auf die Geschichte und die wissenschaftliche, dem Original treu bleibende Akribie der Aufführung sind es, die aus der Tragödie Vladimir Majakowskijs eine inszenierte Dissertation machen. Summa cum laude.

Claudia Wahjudi

Täglich bis zum 18.2. Im Theatersaal der HdK, Fasanenstr. 1, 19 Uhr 30. Keine Vorbestellung - überpünktlich da sein!