„Alles ist vom Zweifel durchdrungen“

■ Mitschrift eines Fernsehinterviews des britischen Channel Four mit Salman Rushdie, dem Autor des umstrittenen Romans „Satanic Verses“: „Man muß sich mit der Religion auseinandersetzen, weil sie im Zentrum aller Kultur steht“

Channel Four: Haben Sie eine so heftige Reaktion auf das Buch erwartet?

Salman Rushdie: Ich habe erwartet, daß es den Mullahs nicht gefällt. Aber für die habe ich den Roman nicht geschrieben. Ich habe verfolgt was die Mullahs Pakistan in den letzten elf Jahren angetan haben - das Ausmaß der Unterdrückung im Namen der Islamisierung. Ich habe ebenfalls gesehen, wie fast alle Dichter diese Zeit im englischen Exil verbrachten. Erst jetzt denken sie langsam daran, zurückzugehen. Natürlich habe ich Ansichten, die nicht mit denen der Mullahs übereinstimmen. Ich bestehe auf meinem Recht, diese zu haben und sie auszudrücken, soweit mir das möglich ist. Es ist ganz einfach in diesem Land: wenn Sie ein Buch nicht lesen wollen, dann lassen Sie es eben sein. Es ist harte Arbeit, sich von den „Satanischen Versen“ verletzen zu lassen, dies erfordert eine lange Periode intensiven Lesens. Das sind eine Viertelmillion Wörter.

Die Kontroverse dreht sich um Ihren Umgang mit dem historischen Text des Korans, mit dem Sie herumgespielt haben. Wieviel davon beruht auf historischen Tatsachen?

Fast alles in den Traumsequenzen nimmt seinen Ausgang von einer historischen oder quasi-historischen Basis; obwohl man über diese Periode in Mohammeds Leben nicht mit absoluter historischer Sicherheit reden kann. Immerhin ist er der einzige Prophet, der zumindest teilweise in der Geschichte existiert, daß es neben dem heiligen Text auch objektive Informationen über ihn gibt. Als ich dies von der historischen Seite her studiert habe, schien mir das ganze Phänomen eine historische wie auch eine spirituelle Seite zu haben. Schließlich ist der Islam eine der großartigsten Ideen, die je auf die Welt gekommen sind - ich denke, die nächste Idee von ähnlicher Größe ist der Marxismus gewesen und die Chance, die Geburt einer großen historischen Idee zu studieren, ist sehr interessant. Man lernt hier als Historiker, wie fragmentiert, vieldeutig und eigenartig die historische Überlieferung ist. So, habe ich mir dann gedacht, laß uns gar vortäuschen, hier Geschichte schreiben zu wollen, laß uns die Themen, an denen wir interessiert sind, nehmen und damit herumfabulieren, die Phantasie spielen lassen. Aber grundsätzlich versucht das Buch zwei Fragen zu beantworten. Wenn eine Idee auf die Welt kommt, wird sie zwei verschiedenen Tests ausgesetzt: Wenn du schwach bist, wirst du einen Kompromiß eingehen? Wenn du stark bist, wirst du tolerant sein? Dies sind die Fragen, die das Buch in den entsprechenden Teilen zu dramatisieren versucht. Es zeigt, daß - und dies scheint auch für das wirkliche Leben Mohammeds zu gelten - die Antwort auf die erste Frage lautet, daß die Schwäche zu einem kurzen Flirt mit einem möglichen Kompromiß führt, der dann schnell zurückgewiesen wurde. Nun denke ich überhaupt nicht, daß dies Mohammed herabsetzt. Gleich zu Beginn des Islam treffen wir auf einen Konflikt zwischen dem heiligen und dem profanen Text, zwischen der enthüllten und der fiktiven Literatur. Für einen Schriftsteller ist die Erforschung dieses Konflikts einfach faszinierend. Nichts anderes habe ich gemacht.

Glauben Sie, daß die Opposition zu dem Buch von Leuten, die sich schwach, oder von Leuten, die sich stark fühlen, kommt?

Mir scheint, daß nichts, was ich tue, den Islam zerstören könnte. Sie wiederholen dauernd, daß es in der Welt 900 Millionen Moslems gibt. Wie kann ich da den Islam rückgängig machen? Dies ist unmöglich. Selbst wenn ich das wollte, überzeugt mich die Vorstellung überhaupt nicht, daß ein Buch, welches von den Ansichten der Imams abweicht, so gefährlich sein soll. Für mich ist es völlig legitim, daß es Dissens von der Orthodoxie gibt, nicht nur im Islam, sondern überall - auch von der Orthodoxie konservativer Politik, unter der wir derzeit hier leben, sollte es Abweichler geben. Und auch wenn radikale Politik die Orthodoxie unserer Tage wäre, sollte es den Dissens geben. Eine der Dinge, die ein Schriftsteller tun kann, ist es, zu sagen: dies ist die Art, in der du dich der Welt nähern sollst, aber es gibt auch andere Wege. Laß uns niemals glauben, daß die Art, uns die Welt anzuschauen, wie sie uns die Mächtigen lehren, die einzige ist. Denn wenn wir dies tun, ist dies eine schlimme Art der Selbstzensur.

Was Sie geschrieben haben, wurde als Verunglimpfung des Islam und Provokation aller Moslems bezeichnet. Haben Sie diese Provokation genossen?

Das kommt darauf an, was Sie mit Provokation meinen. Jeder Schriftsteller will die Imagination provozieren. Sie wollen, daß die Leute über das, was sie geschrieben haben, nachdenken. Einer der Gründe für das Schreiben, so glaube ich, ist es, die Summe der Dinge, die sich denken lassen, ein wenig zu vergrößern. Wenn dies gelingt, werden Leute provoziert, und vielleicht mögen sie es dann nicht. Kaum einer von denen, die sich verletzt, provoziert und abgestoßen fühlen, hat das Buch wirklich gelesen. Aber ich bekomme jeden Tag Briefe von Moslems, denen das Buch gefällt. Die schreiben mir und sagen, wir sind nicht alle wie diese Leute, die Bücher verbrennen. Die sagen, sie schämen sich der Imams und der Art, wie diese durch ihr extrem unzivilisiertes Verhalten Schande über die moslemische Gemeinde in diesem Lande bringen. Deswegen weise ich die Behauptung zurück, daß sich mein Buch außerhalb des Islam bewegt. Ich komme aus einer moslemischen Tradition, und in meiner Familie auf dem indischen Subkontinent gab es eine große Bereitschaft, alles zu diskutieren. Ich kenne den Islam, und der Islam der Mullahs ist nicht der einzige Islam.

Sie sind als internationaler Autor bekanntgeworden, manchmal als indischer oder pakistanischer Schriftsteller und gelegentlich als britischer Autor - sind Sie mit diesem Buch zum moslemischen Schreiber geworden?

Jeder, der meine Bücher liest, weiß, welchen großen Einfluß der Islam auf mich gehabt hat. Die Tatsache, daß ich mich nicht als religiösen Schriftsteller bezeichnen würde, heißt nicht, daß ich die Bedeutung des Islam für mein Leben verneine. Wie kann einer, der aus Indien oder Pakistan stammt, die Religion zurückweisen. Man muß sich mit ihr auseinandersetzen, weil sie im Zentrum aller Kultur steht.

Der Zorn, den Sie mit ihrem Buch hervorgerufen haben, resultiert nicht nur aus den Verunglimpfungen, sondern hat auch mit dem Begriff des Zweifels zu tun.

Zweifel ist die zentrale Verfaßtheit der Menschheit im 20.Jahrhundert. Eine der Erfahrungen, die uns als menschliche Rasse im 20.Jahrhundert widerfahren ist, war die, wie die Sicherheiten in unseren Händen zerbröckeln. Es ist unmöglich geworden, eine fixierte, sichere Meinung von etwas zu haben - der Tisch an dem wir sitzen, der Boden unter unseren Füßen, die Gesetze der Wissenschaften sind voller Zweifel. Alles, was wir wissen, ist vom Zweifel und nicht von der Sicherheit durchdrungen. Und dies ist die Basis der großen künstlerischen Bewegung des Modernismus. Nun ist die Tatsache, daß die orthodoxen Figuren der moslemischen Welt den heiligen Krieg gegen den Modernismus ausgerufen haben, nicht meine Schuld. Dies entwertet keineswegs diese neue Perspektive, sich die Welt anzuschauen. Wenn die jetzt zu sagen versuchen, daß dieser ganze Prozeß umsonst war - daß dies nicht mehr erlaubt ist, sondern nur die alten Sicherheiten bleiben -, dann, ja dann werde ich mich streiten.

Übersetzt von Rolf Paasch