Stümperei, Abwiegelei oder ein politisches Motiv?

Der Schäuble-Bericht zur Libyen-Affäre wirft viele Fragen zur Rolle von Außenminister Genscher auf / Entscheidenden Informationen zum Imhausen-Geschäft und der Verwicklung des Salzgitter-Konzerns wurde im Auswärtigen Amt nicht nachgegangen  ■  Aus Bonn Charlotte Wiedemann

„Entweder wir werden von Stümpern regiert oder von Leuten, denen Unwahrheit und Abwiegelei schon zum täglichen Rüstzeug gehören.“ Diesen beiden Interpretationen, die dem SPD -Abgeordneten Albrecht Müller zum Verhalten der Bundesregierung in der Libyen-Affäre einfallen, wäre eine dritte Möglichkeit hinzuzufügen: Gab es ein konkretes politisches Motiv für die jahrelange Verschleierung der deutschen Beteiligung an der chemischen Aufrüstung?

Die 45 Seiten starke Chronologie von Kanzleramtsminister Schäuble gibt keine klare Antwort auf diese Fragen - und zu diesem Zweck ist sie wohl auch nicht erstellt worden. Bei flüchtiger Lektüre erweckt die Datensammlung den vermutlich beabsichtigten Eindruck: Es gab über die Jahre hinweg viel Getue und Gemache, aber die Nachrichtenlage war verworren. Auf den zweiten Blick gehen aus Schäubles Bericht jedoch einige bemerkenswerte Einzelheiten hervor.

Nachdem der Bundesnachrichtendienst (BND) das Auswärtige Amt (AA) jahrelang mit Hinweisen auf vermutete libysche Kampfstoffanlagen, die sich nachher als nicht haltbar erwiesen, ermüdet hatte und diese Hinweise im AA zum Teil ernster genommen wurden als sie von den Pullachern gemeint waren, verpuffte die entscheidende Information, die 1985 aus der deutschen Botschaft in Moskau kam: Der gezielte Hinweis auf die Firma Imhausen und auf einen Staatskonzern, der sich Jahre später als Salzgitter AG entpuppte. Das AA gab die Moskau-News an das Wirtschaftsministerium und den BND weiter und begnügte sich anscheinend damit, daß beide Fehlanzeige meldeten. Das Stichwort „Staatskonzern“ wurde im AA anscheinend gleich vergessen, das dafür zuständige Finanzministerium jedenfalls nicht informiert.

Phasenweise bemühte sich das Auswärtige Amt in der Folgezeit um einen energischeren Kurs der Aufklärung, weil ihm die US-Regierung mit ständig dringlicher werdenden Aufforderungen im Nacken saß. Im Wirtschaftsministerium ließ man sich hingegen mit der Weiterleitung derartiger Hinweise an das nachgeordnete Bundesamt in Eschborn schon mal vier Wochen Zeit.

Zunehmend gerät die Genscher-Behörde anscheinend in die Rolle einer Art Postverteilstelle für Libyen-Hinweise: Die deutsche Botschaft in Tripolis weist ab Oktober 1987 mehrfach auf die Beteiligung deutscher Firmen in Rabta hin, der BND antwortet Fehlanzeige, und so geht es hin und her. Während das Zollkriminalinstitut von einer Beteiligung der Frankfurter Firma IBI hört, aber diese Akte nach fünf Tagen schon schließt (der Verfassungsschutz hatte bereits zwei Jahre zuvor von IBI gehört, aber das für sich behalten), rafft man sich im Auswärtigen Amt erst im Mai 1988 zu einer lauen Initiative auf: Nachdem die US-Regierung den Genscher -Beamten ein Papier mit den Firmennamen Imhausen, Intec und Sihi unter die Nase gehalten hat, schlägt das AA eine Außenwirtschaftsprüfung bei diesen Firmen vor. Das Finanzministerium kommt dem jedoch nur im Fall Intec nach.

Genscher erfährt von all dem anscheinend nichts. Erst Mitte Januar dieses Jahres, vermutlich als seine Beamten nach Entlastungsmaterial für ihre eigene Rolle in der Affäre suchen, erhält Genscher einen Bericht über den sieben Monate zurückliegenden Vorgang.

Vollends dubios bleibt, ob der Außenminister wirklich, wie es behauptet wird, erst kurz vor jener berüchtigten Washington-Reise im November vergangenen Jahres über die acht Jahre alte Akte „Rabta“ informiert wurde. Zur selben Zeit, als seine Beamten noch an einem „Sachstandsbericht“ feilten, traf im AA bereits ein Brief vom US-Kollegen Shultz ein. In der heutigen Bundestagsdebatte wird Genscher einiges zu erklären haben. Zur Auswahl stehen weiterhin: Stümperei, Abwiegelei oder ein politisches Motiv.