Daß man übers Reden reden muß

■ Rede von einem, der statt schweigen reden und statt reden schreiben lernte Norbert Gstrein zur Verleihung des Bremer Literaturförderpreises 1989

Ich sage: ich glaube nicht, daß mich je jemand aufgefordert hat zu reden, daß man wissen wollte, was ich denke, wo alles feststand, wo Schweigen als Tugend galt und stets einer dawar, der Vater oder sonstwer, der es besser wußte. Von Anfang an hieß lernen immer auch lernen, den Mund zu halten, ungefragt zuzuhören, heiß von anderen lernen - bis man war wie sie oder zugrunde ging. Die Angst vor dem Worte spürte ich als Drohung, wenn vom Gerede nichts blieb, nur die Frage, was es verbarg. Als Ausgleich sang man Kinderlieder, ich wurde eingeschläfert, niedergebrüllt, und Schläge gabe es, wenn ich zu viel sprach, wenn mein Schweigen beredt war.

Wer mir sagte: sag, schien auf Zustimmung aus oder hatte Angst vor der Stille. Im Drill, ich meine: Ernst des Lebens, sah ich, was von mir erwartet wurde, eine Reaktion auf Reize, sprechen war nicht wichtig, wichtig war entsprechen. Was ich zu reden hatte, stand am Plan, die freie Meinung, zu der man mich erzog. Ich lernte, allen alles recht zu machen, und erschrak mit meinem einen Mund vor hundert Ohren; vor der Ohnmacht, wenn ich etwas sagte, wenn ich schwieg. Wirklich Rede kam als Gegenrede; das erste Nein; wie ich im Familienspiel die Rolle aufgab; wie ich nicht mehr schaute, ob einer an der Wahrheit litt. Ich sprach, wenn

ich nicht gefragt war. Ich lernte, ich zu sein.

In meiner Rede begann ich fremde Reden zu entdecken. Weil es Wörter gibt, wirkte jeder Satz wie nachgeahmt, wie kaum ernst, wenn man den Ton nicht traf, wenn man nicht sprach, als wäre ein Laut, eine Silbe im Entstehen neu. Dennoch, was von früher, fast hätte ich gesagt: seit je, was von anderen dawar, war nicht alles. Ich lernte abzuwägen. Ich sprach nicht mehr wie unter Aufsicht.

Immer öfter kam es vor, daß ich von mir aus anfing und nicht innehielt - vor meinem Mut. Wichtig, ich sage: wichtig waren Bücher, wichtig war die Schrift, die sich nie den Mund verbieten

ließ. Im Gedruckten lernte ich die Rede lieben, die Sprache, vor der mir meine plump vorkam. Ich sah: es gab, was es nicht geben durfte, eine Stimme, die für sich die Welt erfand; und ich folgte ihr.

Was ich kannte, galt nicht: ja oder nein; es gab Zwischentöne, man konnte unentschieden sein - und trotzdem ernsthaft. Ich lernte hinzuhören, wo es nichts zu hören gab; wo nichts stand, wurden

leise Worte laut. Ich sah, daß man alles sagen kann, nur wie, daß Lüge manchmal wahrer ist als was man Wahrheit nennt - und daß man übers Reden reden muß, die Sprache, wenn man nicht alte Fehler will.

Und sonst? Ich sagte nicht mehr „nichts“, wenn einer wissen wollte, was. Sagte nicht: ich liebe dich - auf die Frage, was ich denke. „Was denkst du?„„Ich?“

Ich sagte nichts. Ich schrieb.