Die Ente und der Schwan

■ Der französische Filmemacher über die wahren Gründe für die „Affäre Chaplin“

Rene Clair

Hoch lebe Amerika! Erst haben sie den Wein bekämpft, jetzt ziehen sie schon gegen das Gelächter und den Geist zu Felde.

Die Vereinigten Staaten werden demnächst den verschiedenen Annehmlichkeiten des Lebens den Krieg erklären. Dann wird man vernehmen, daß eine Selbstmordwelle dieses ausgetrocknete Land heimsucht, ungeachtet des genormten Glücks, das immer mehr Dollars und immer mehr billige Autos über das Land verbreitet.

Kein Zweifel: Die Presse der Wassersäufer ereifert sich weniger gegen die ehelichen Abenteuer von Charlie Chaplin als gegen die Freiheit des Lachens und das unabhängige Talent.

Der Krach zwischen Chaplin und seiner Frau interessiert nur wenige. Wenn die gewaltige Maschinerie der Verleumdung sich mit solcher Verbissenheit gegen einen einzigen Menchen richtet, dann steht dieser Mensch für mehr als seine bloße Person „aus Fleisch und Blut“. Nicht irgendein Mensch von so vielen, nicht irgendeine von unzähligen Scheidungsaffären erregen die Leidenschaft der Massenblätter, sondern der riesige Schatten dieses kleinen Mannes, dieser ungreifbare Schatten, der allen Konzernen und Trusts zum Trotz jeden abend überall in der Welt vor Millionen von entzückten Blicken erscheint.

Es gibt kein Geheimnis in der sogenannten Affäre Chaplin; allenfalls die Elemente eines Drehbuchs, aus denen Charlie später ein Meisterwerk machen könnte: die schlimmen Folgen der „öffentlichen Meinung“, auf die er bereits prophetisch mit einem Titel hingewiesen hat, der nicht verstanden wurde.

Da ist zunächst die Frau; und die Geschichte dieser Frau Chaplin, die spät nach Hause kommt und Freunde mitbringt, die der vom Lärm aus dem Schlaf gerissene Hausherr hinauswirft, ist sehr wahrscheinlich. Ein belangloser Ausgangspunkt. Auch diese Frau Chaplin ist belanglos.

Hinter ihr stehen die Eltern und die Geschäftsleute. Schon wird das Drehbuch interessanter. Die öffentliche Meinung wirft ihren Schatten bald auf jedes Gespräch: Man überschlägt die Einkünfte Chaplins, schätzt die Chancen des Skandals, man macht eine Liste der Zeitungen, die Partei ergreifen werden. (...)

Hinzu kommt noch, so heißt es, die Eifersucht eines gewissen, sehr bekannten Zeitungsverlegers. Chaplin soll von der Lieblingsschauspielerin dieser Person allzu beeindruckt gewesen sein. Man kann sich nur zu gut vorstellen, wie Chaplin mit diesem mächtigen Herrn um eine Frau kämpft, und in Erinnerung an den Goldrausch können wir nur hoffen, daß die Vorsehung wieder eine Uhr vom Himmel fallen läßt, damit er in diesem so aussichtslosen Kampf Sieger bleibt.

Aber unter all diesen mehr oder weniger glaubwürdigen Ursachen der „Affäre Chaplin“ gibt es auch eine, die noch kaum erwähnt wurde; (...) Chaplin ist der einzige Unabhängige unter den großen Meistern der Leinwand.

Er gehört keiner der drei oder vier großen Firmen, die die Welt der Bilder erobern und unter sich aufteilen wollen. Wenn man nur könnte, würde man seine Filme gar nicht erst in die Kinos bringen. Aber (...) die Amerikaner, die ja auch logisch denkende Geschäftsleute sind, verneigen sich vor den riesigen Summen, die Chaplins Filme einbringen.

Das Beispiel Chaplin ist also symbolischer Nautr. Die mächtigen in der Branche würden Filme am liebsten wie Konserven herstellen und die Zuschauer immer weiter mit der gewohnten Kost versorgen. (...)

Doch Chaplin macht die einfältigen Vorstellungen der großen Bosse zunichte. Er, der seine Filme nicht nach Schema F herstellt, der sich selbst unablässig erneuert, der die Menge zu sich hochzieht, statt ihren albernen Gewonheiten zu schmeicheln, dieser Suchende, der einen einzigartigen Stil gefunden hat und dennoch mit ganzer Kraft nach neuen, gefährlichen Erfahrungen strebt, dieser Filmemacher, für den der Geist eines Werkes mehr bedeutet als sein materieller Erfolg, dieser Künstler (um es in einem Wort zu sagen) ist gefährlich für den Frieden der Fabrikanten.

Man bewundert ihn, aber er stört.

Das amerikanische Kino verhält sich zu Chaplin wie die Ente zu dem Schwan, den sie ausgebrütet hat. (...) Chaplin wird in den USA nicht verstanden, welchen Ruf er dort auch immer genießen mag. Natürlich bringt er die Menschen zum Lachen, aber anscheinend spüren die Amerikaner nicht den Unterschied zwischem dem Gelächter, das Chaplin auslöst und dem, das ein Harold Lloyd oder ein Buster Keaton hervorrufen. (Der eine hat als erster Film und Psychologie miteinander verknüpft, die andern amüsieren uns mit Schatten von Hampelmännern und mechanischen Spielereien.) Man muß nur die Meinungsumfragen in den amerikanischen Illustrierten lesen. (...) Wenn überhaupt, dann taucht Chaplin auf dem zehnten Platz auf. (...)

Die Companies fürchten den Geist und die Unabhängigkeit. Sie verfolgen die „Affäre Chaplin“ vermutlich mit Befriedigung, und es wäre nicht überraschend, wenn sie aktiv darin verwickelt wären. (...) Daß aber weder die 75 Millionen Amerikaner, die jede Woche ins Kino gehen, noch die amerikanische Presse sich laut und deutlich für ihn ausgesprochen haben - diese Tatsache richtet nicht Chaplin, sondern die Vereinigten Staaten.

Aus: L'art Vivant, Jg. 1927, Paris