Joyce verfilmen

■ „Ulysses“ als Operette, „Finnegans Wake“ als Zeichentrickfilm - Der Schriftsteller Burgess hält das Unmögliche für möglich: die Dramatisierung der Romane von James Joyce

Anthony Burgess

Der letzte Film von John Houston - ein sehr bewegender Film

-beruht auf der Novelle Die Toten von James Joyce. Es ist nicht die erste Bearbeitung dieser Novelle; vor einigen Jahren hat die BBC eine Fernsehfassung ausgestrahlt, und ich erinnere mich an eine sehr interessante Version in Versen, die meine Studenten in Princeton einmal gespielt haben. Houstons Meisterwerk ist eine Hommage gleichermaßen an Joyce und an Irland, über den Mangel an dramatischer Spannung in diesem literarischen Werk muß er sich jedoch völlig im Klaren gewesen sein.

Die Toten ist gewissermaßen ein Nachtrag zu Dubliner, jener kleinen Szenen aus dem irischen Leben. Anscheinend passiert gar nichts in dieser Novelle. Gabriel Conroy, ein Literat aus Dublin, geht mit seiner Frau Gretta am Neujahrsabend zu einem Mitternachtsessen bei seinen Tanten. Man singt, man ißt, man trinkt Bier und Limonade, man macht sich Komplimente, und der Abend geht zu Ende. Doch während die Gäste aufbrechen, singt der Tenor Bartell d'Arcy die alte Ballade „Die Dirn‘ von Aughrim“. Als Gretta das hört, ist sie seltsam berüht. Im Hotel, wo sie und ihr Mann die Nacht verbringen, wird ihr klar, daß das Lied sie an die Landschaft Galway erinnert, wo sie geboren ist, und an Michael Rurey, einen Jungen, den sie einst kannte. „Er arbeitete im Gaswerk“, sagt sie, „er ist gestorben.“ Gabriel fragt sie, halb mißtrauisch: „An Tuberkulose?“ Aber sie antwortete: „Nein. Er ist wegen mir gestorben.“

Das ist schon die ganze Handlung, wenn man sie überhaupt so nennen will. Das wirkliche Drama spielt sich im Kopf von Gabriel ab. Er, ein kultivierter Mann, hat ein ungebildetes Mädchen aus Galway geheiratet, eine „Plietsche vom Land“, wie seine Mutter es nannte. Aber Gabriels ganze Bildung und vorgebliche Überlegenheit werden bedeutungslos angesichts der Entdeckung von Leidenschaft und Tod in jener ländlichen Gegend im Westen Irlands, wo noch niemand etwas von „Tristan und Isolde“ gehört hat. Die ganze Zeit fällt Schnee auf das Land und bedeckt die Lebenden und die Toten mit dem gleichen Weiß, Ort des Lebens ist paradoxerweise der Westen, wo ein junger Mann aus Liebe starb, und nicht jenes kultivierte Europa, das sich nach Osten erstreckt. Der tote Michael Furey ist lebendiger als der lebende Gabriel Conroy, und selbst ihre Namen symbolisieren den Abgrund, der sie trennt

-Michael, der zornige Erzengel, und Gabriel, der ruhige, sanfte Erzengel. Gabriels irdische Erscheinung zerbricht, aber alles, was Auge oder Kamera wahrnehmen können, ist der Schnee, der gleichmäßig fällt.

Dennoch hat John Houston das Unverfilmbare zur Grundlage seines Filmes gemacht, und er ist auch nicht der einzige, der den erzählerischen „Plot“ immer als „journalistisch“ abgelehnt hat. Joyce will sagen, daß im wirklichen Leben eigentlich nichts passiert. Was zählt, geschieht in den Köpfen, und es ist selten besonders spektakulär. Mittlerweile sind Porträt des Künstlers als junger Mann, Ulysses und sogar jener konfuse, vielstimmige Traum namens Finnegans Wake verfilmt worden. Die Regisseure lassen Joyce partout nicht in Ruhe, und wenn alle seine Bücher schon verfilmt sind, bleibt immer noch sein wenig abenteuerliches Leben, das kürzlich Gegenstand eines Films mit dem Titel Die Frauen von James Joyce war.

Im Ulysses, dem unbestrittenen Meisterwerk von Joyce, gibt es viele Wörter und wenig Handlung - jedenfalls nichts, was man eine szenische Handlung nennen könnte. General Slocum geht in East River spazieren. Throwaway gewinnt den goldenen Pokal von Ascot, und Blazes Boylan schläft mit Molly Bloom - alles Ereignisse, von denen lediglich berichtet wird oder an die man sich erinnert. Leopold Bloom, der Anzeigenakquisiteur, ist Ulysses, der neuzeitliche Stadtmensch als passiver Held; alles, was ihm geschieht, ist, daß man ihm eine Keksdose nachwirft, weil er Jude ist, daß er beim Anblick von seidenen Strümpfen am Strand masturbiert und daß er den Dichter Stephen Dedalus kennenlernt, dessen Mutter gestorben ist.

Alles passiert an einem einzigen Tag in Dublin, und es ist nicht Zeit genug für jene einschneidenden Veränderungen, die normalerweise die Romanform rechtfertigen. Nachdem er Stephen kennengelernt hat, fordert Bloom von Molly, daß sie ihm das Frühstück im Bett servieren soll, ein unerhörtes Ansinnen. Die Begegnung mit einem Dichter hat ihn kühn gemacht. Das ist wahrlich kein herkömmlicher Roman, eine innere Entwicklung gibt es kaum. Und dennoch hat Samuel Goldwyn geplant, ihn zu verfilmen (Joyce wünschte sich George Arliss in der Hauptrolle), und 1968 schließlich hat Joseph Strick einen Film namens Ulysses gedreht.

Seltsamerweise war Joyce, dieser scheue, fast blinde Mann der Sprache, ein Pionier des Kinos; er hat wohl gespürt, welche Kraft in dieser Kunstform steckt. Mit finanzieller Hilfe von Geschäftsleuten aus Triest gründete er das erste Dubliner Kino, das „Volta“. Daß es wieder einging, lag weniger am Unternehmen selbst als an den italienischen Filmen, die für das Dubliner Publikum zu schwierig waren.

Ulysses zeigt, daß Joyce mit den visuellen Medien völlig vertraut war. Ein Kapitel parodiert eine Zeitung, ein anderes ein Frauenmagazin, und die bizarre Episode im Dubliner Bordellviertel nutzt auf geradezu filmische Weise die Techniken des Schnitts, der Montage und der Animation. Dennoch ist das Buch vor allem auf eine verbale, akustische Wirkung angelegt, wie Miltons Paradise Lost. Zwar war Joyce, anders als Milton, nicht völlig blind, doch die Welt der Töne war ihm vertrauter als die der Bilder. Irgendwie ist es so, als würden die Autoren der Filmadaptationen versuchen, ihm die Welt der Bilder so zurückzugeben, wie es kein Augenchirurg jemals gekonnt hätte.

Aber mir scheint, der wahre Grund für die Versuche, Joyce auf die Leinwand oder die Bühne zu bringen, ist eine künstlerische Herausforderung. Man fragt sich: „Kann man das Unmögliche nicht doch erreichen?“ und versucht es. Wenn man Bloom, Molly oder selbst Earwicker so liebt wie wir, dann nöchte man sie aus dem Netz von Wörtern befreien, in dem sie gefangen sind, man möchte ihnen leibhaftig auf den Straßen von Dublin begegnen.

Überdies hat ihnen Joyce bereits einen visuellen Rahmen gegeben. Ulysses beginnt in einem Turm über dem Hafen von Dublin, den man noch heute besichtigen kann. Bloom wohnt in der Eccles-Street, kann sie entlanggehen und die Glocken der St.-Georgs-Kirche läuten hören. Selbst Earwicker, der vollständig unsichtbare Held von Finnegans Wake, betreibt ein eindeutig identifizierbares Cafe in Chapelizod

-„Der tote Mann“, es heißt so, weil die Gäste es oft derart betrunken verlassen, daß sie unter die Straßenbahn kommen.

Joyce beschreibt Dublin und seine Umgebung zwar nicht, aber er gibt uns alle nötigen topographischen Informationen. Wir müssen nur noch ein Ticket der Aer Lingus kaufen und die Stadt selbst besuchen. Natürlich wollen wir dann sehen, wie Bloom den Möwen auf der Liffey Stücke von einem Banbury-Cake zuwirft, wie Stephen aus der Nationalbibliothek herauskommt, nachdem er von Hamlet gesprochen hat. Wenn sie nicht da sind - nun, ein Filmregisseur kann das einrichten. Das ist das Unmögliche, das möglich gemacht werden muß.

Ich kenne dieses Bedürfnis genau. Ich habe mich selbst an einer Fernsehbearbeitung von Finnegans Wake versucht, die den Titel Eine Nacht in der Taverne von Bristol tragen sollte. Sie wurde nie gesendet, man war der Ansicht, das passe nicht in die Hauptsendezeit. Aber meine Musicalfassung von Ulysses, die ich Die Blooms aus Dublin genannt habe, ist von der BBC und von Radio Eire am 2.Februar 1982 ausgestrahlt worden, zu Joyces 100.Geburtstag.

Dieser Off-Broadway-Ulysses, der für das Radio bestimmt war, konnte zwar die Personen nicht zeigen, aber wenigstens ihre Stimmen aus dem Buch befreien. Was den Gesang angeht auch das hat Joyce vorgesehen. Molly ist Sopransängerin von Beruf, und Stephen hat eine hübsche Tenorstimme; Bloom ist zweifellos Bariton, und ganz Dublin kann im Chor singen. Damit ist aber das eigentliche Problem, die Herausforderung, ein Werk von Joyce zu dramatisieren, nicht gelöst. Auch Houstons Film ändert daran nichts.

der Ulysses von Joseph Strick ist nicht deshalb mißlungen, weil eine Bearbeitung aus ästhetischen Gründen unmöglich wäre. Strick ist zum Teil deshalb gescheitert, weil er die Stadt Dublin nicht dazu bewegen konnte, die Fernsehantennen verschwinden zu lassen und der Innenstadt wieder die Ansicht vom 16.Juni 1904 zu verleihen. Er mußte die Handlung aber ins heutige Dublin verlegen, es mußten englische Soldaten sein, die Stephen angreifen.

Strick hat den historischen Charakter des Buches und den irischen Freiheitskampf vernachlässigt. Er hatte auch nicht den Mut, nach filmischen Entsprechungen für die künstlerischen Experimente von Joyce zu suchen. Im Buch symbolisiert die Szene im Entbindungsheim in der Hooles Street das Wachstum des Embryos im Bauch der Mutter. Die Erzählung dieser Erzählung ist zugleich ein Streifzug durch die Geschichte der englischen Prosa. Was hat Strick daran gehindert, entsprechend die Geschichte des englischen Films zu resumieren? Der Grund für den Mißerfolg war ein Kompromiß - der Wunsch (oder die wirtschaftliche Notwendigkeit), den Film so konventionell zu machen, daß alle Welt ihn sehen will, und gleichzeitig auf den avantgardistischen Ruf des Romans zu spekulieren. Eine Schande!

Jeder Film nach einem Werk von Joyce darf das Territorium von Joyce nicht verlassen und muß ihm mit seiner eigenen Sprache beikommen, bearbeiten. Es ist gefährlich, sie auch nur geringfügig zu ändern, und mit Schauspielern, die allerdings heutzutage immer enttäuschend sind. Enttäuschend, weil die Personen bei Joyce immer von Innen vorgestellt werden und der Schauspieler auf seine äußere Erscheinung beschränkt ist. Enttäuschend, weil die Personen schon selbst alle überhaupt möglichen Interpretationen anbieten, der Schauspieler jedoch bietet immer nur seine eigene an oder die des Regisseurs. Immerhin wird die Technik, die Joyce benutzt, um die innere Welt sichtbar zu machen, der innere Monolog, vom Kino seit langem benutzt; die Verzerrungen etwa durch Tricks sind ein Versuch, die Veränderungen innerhalb der Personen und ihre unsicheren Wahrnehmungen innerhalb der Personen und ihre unsicheren Wahrnehmungen darzustellen, und das wiederum entspricht der impressionistischen Technik von Joyce.

Als ich versuchte, für das Fernsehen eine abgeschwächte Version von Finnegans Wake herzustellen, habe ich gemerkt, wie sehr dieses Werk, das sperrigste von allen, nach den Zeichentrickfilmen von Walt Disney verlangt. Der Film Schneewittchen und die sieben Zwerge startete, als Joyce gerade letzte Hand an sein Werk legte; kurz darauf wurde Finnegans Wake veröffentlicht.

Sigmund Freud hatte verstanden, das diese Art Film der einzige Weg wäre, einen Traum darzustellen, aber dieser extreme Traum, Finnegans Wake, erfordert eine so hohe Kunst der Verwandlung von Träumen, daß nur der farbige Zeichentrickfilm dem genügen könnte. Earwicker, der allzumenschliche Kneipier, wird zum Riesen Finnegan und seine Frau Ann wird die Liffey. Ihre Zwillinge Shem und Shaun verkörpern alle sich bekämpfenden Brüder seit Kain und Abel, ihre Tochter Izzy repräsentiert alle Verführerinnen. Sie alle bedürfen der komischen Verwandlung unter Disneys Pinsel, und selbst die traumhaften Wortspiele bräuchten den visuellen Witz von Filmen wie Alice im Wunderland. (Joyce‘ Buch verdankt Lewis Caroll viel.) Ein Wort wie „Cropse“ „Beerntigung“ etwa: enthält gleichermaßen die Vorstellung von Tod und Auferstehung, und der Schöpfer eines Zeichentrickfilms könnte eine Leiche abbilden, aus der Getreide wächst 1). Aber der Film, das populärste Kommunikationsmittel, ist noch längst nicht in der Lage, dieses ganz und gar nicht populäre Buch umzusetzen.

Immerhin gibt es Houstons Werk Die Toten, die Hommage eines großen Filmemachers an einen großen Schriftsteller. Der Film, der aus Bildern gefügt ist, muß einer Geschichte aus Wörtern unterlegen sein, denn die Wörter erweitern die Einbildungskraft, die Bilder schränken sie ein. Ein Film nach einem Buch von Joyce kann immer nur ein Kommentar zu diesem Buch sein. Häufig sind bedeutende Filme nach zweitklassigen Romanen gedreht worden, und die Macht der Kamera hat die mittelmäßigen Beschreibungen des Autors vervollständigt. Die Umkehrung gilt nicht immer. Houstons Film kann das Buch von Joyce nicht ersetzen und ist doch etwas Lebendiges dank seiner eigenen visuellen Magie, die uns ihrerseits wieder zur Wortmagie des Originals zurückbringen kann. Das war wohl die Absicht dieses außergewöhnlichen Regisseurs.

Übersetzung: Andreas Eisenhart nach der französischen Ausgabe von 'Lettre International‘, Nr. 16

1) Das ist natürlich vor allem auch ein Übersetzungsproblem: Bei Joyce heißt das Wort „cropse“, was aus „crop“ (Getreide, Ernte) und „corpse“ (Leiche) zusammengesetzt ist; „Beerntigung“ ist ein Versuch, aus Ernste und Beerdigung etwas ähnliches zu schaffen. Möglich wäre auch „Leichzen“, aus Leiche und Weizen...