IM ZEICHEN DER SCHILDKRÖTE

■ Langsamkeit als Reiseziel oder Puzzle ohne Vorlage

Im berühmten City Lights Bookshop in San Fracisco kam ich mit einer Frau ins Gespräch. Eine Deutsche, wie sich bald herausstellte, gerade angekommen. „Was läuft denn hier so?“ wollte sie wissen, „wo sind die Kneipen, in die man geht, welche Kinos kennst du“ usw. Ich antwortete, ich wüßte das alles nicht so genau, ich sei erst seit fünf Tagen da. Großes Erstaunen bei meiner Gesprächspartnerin: „Was? Schon fünf Tage hier und weißt noch immer nicht, was läuft?!“ Ich zuckte mit den Achseln. Eine Antwort fiel mir nicht ein.

Auf Reisen imitieren wir meist Reiseformen vergangener Zeiten, ob wir das nun wissen oder nicht. Drachenflieger und Wildwasserfahrer treten in die Fußstapfen der Entdecker und Abenteurer. Kunstreisende betreiben weiterhin das hohe Geschäft des Bildungsreisenden. Und die Frau im City Lights Bookshop könnte man als Nachfolgerin der rasenden Reporter auffassen, die in den zwanziger Jahren mit Blitzlicht und Stenoblock die Welt eroberten. Immer am Pulsschlag des Geschehens, immer dort, wo „was läuft“.

Und ich? Bildungsreisen habe ich hinter mir, die großen Abenteuer erhoffe ich mir sicher nicht vom Drachenfliegen. Und dort, wo was läuft, fühle ich mich gar nicht am Platze. Was mich anzieht, geschieht auf Hinterhöfen und in Nebenstraßen. Einer Reisegruppe schlösse ich mich niemals an. Auch Reisebekanntschaften interessieren mich nur, wenn sie flüchtig und unverbindlich bleiben. Mit all diesen Vorlieben profiliere ich mich als Einzelgänger. Mein deutlichstes Kennzeichen aber ist die Langsamkeit meiner Wahrnehmungen und Reaktionen.

Damit ist das Vorbild preisgegeben, dem ich nachreise. Seit Eisenbahnen, Automobile und Aeroplane durch die Welt schießen, verlangsamen einige Müßiggänger ihr Zeitmaß. Im 19.Jahrhundert hielten sie sich noch Schildkröten als Haus und Wappentiere. Am goldenen Kettchen führten sie sie durch die Boulevards und ließen sich Richtung und Geschwindigkeit vorgeben. Wenn die werktätigen Massen zur Arbeit gingen, kamen ihnen elegante junge Herren entgegen und schwenkten ihre Rohrstöckchen. Sie hatten nichts anderes zu tun.

Unter dem Namen Flaneure sind diese Herren in die Kulturgeschichte der Moderne eingegangen. Vor allem Walter Benjamin hat aus ihnen eine philosophisch bedeutsame Figur abstrahiert, der er die Fähigkeit zuschrieb, auf die Krisen und Räusche der Neuzeit adäquat zu reagieren.

Und solch ein Flaneur trifft nun auf eine rasende Reporterin. Natürlich führt er keine Schildkröte mehr mit sich, sie keinen Stenoblock. Wir leben im Zeitalter der Simulation. Sie sind beides normale Touristen. Aber in ihrem Reiseverhalten bewahren sie etwas vom alten Typus.

Sie geht gleich am ersten Tag zu einem Knotenpunkt im Informationsnetz und klinkt sich ein. Vernetzt sich. Dadurch verliert sie keine Zeit mit Suchen. Denn schließlich ist es ungut, wenn man am ersten Abend in einem Durchschnittsburgershop landet, weil man die interessanten Bars nicht kennt.

Genau das aber passiert ihm dauernd. Als Wiedergänger des Flaneurs will er nämlich alles alleine finden. Stundenlang läuft er durch nichtssagende Straßen, die kein Reiseführer je empfohlen hat. Nach zwei Tagen weiß er dann z.B., daß die Salzkörner auf den Brezeln in San Francisco größer sind als in Mannheim. Und am fünften Tag sieht er vielleicht drei chinesische Drachen mit weit ausgreifenden Schweifen am Himmel über Fisherman's Wharf. Und immer so weiter, wie es sich gerade anbietet. Er hat es nicht eilig.

Aus diesem Unterschied in der „Zeitbewirtschaftung“, wie Thomas Mann es nennt, ergibt sich klarerweise, daß sie denkt, er sei „schon“ fünf Tage unterwegs, während er sich an „erst“ fünf Tage erinnern kann. Nach der Uhr und dem Kalender gemessen, ist das gleich viel. Für die Verarbeitung der Reiseeindrücke macht es einen Riesenunterschied. Sie hat gleich am Anfang sozusagen eine Zeichnung im Kopf angefertigt, auf der alle wichtigen Punkte der Stadt eingetragen sind. Den Rest ihrer Zeit verbringt sie damit, diese Zeichnung bunt auszumalen. Er dagegen will auf Reisen ein Puzzle spielen, und zwar ohne Vorlage. Ein Steinchen da, ein Steinchen dort. Ganz am Ende führt auch das zu einem Bild, aber zu einem, das er am Anfang noch nicht kennt.

„Und deshalb kann ich keine Auskünfte geben über das, was läuft. Denn solche Auskünfte verlangen einen schnellen Überblick. Den kriegt man aber mit meiner Puzzle-Methode nicht. Im Zeichen der Schildkröte erkennt man nicht, was läuft, aber alles, was kriecht oder stillsteht, sieht man um so besser.“ - So könnte ich jetzt, nach langer Überlegung, der jungen Dame im Bookshop antworten. Aber sie ist natürlich längst verschwunden.

Hermann Schlösser