Der Sprung aus dem Sinn

■ Erstmals erschienen sämtliche Anagramm-Texte von Unica Zürn / Eine Welt ohne Sinn, aber voller Botschaften

Birgit Bosold

Im Westberliner Verlag Brinkmann & Bose sind als erster Band einer vierbändigen Gesamtausgabe erstmals sämtliche Anagamm -Texte Unica Zürns erschienen. Es ist ein sehr schön gemachtes Buch, gebunden in azur-blaues Papier - wohl in Anspielung auf Oskar Pastiors Namensanagramm „Unica Zürn Azur in Nuce“ - und versehen mit einer editorischen Nachbemerkung von Sabe Scholl, die den Band zusammen mit Erich Brinkmann und Günter Bose herausgegeben hat. Ergänzt werden die Texte von einer Reihe faksimilierter Manuskript -Blättern und einigen Zeichnungen Unica Zürns.

Geboren wird Unica Zürn 1916 als Tochter eines Rittmeisters in Berlin. Nach ihrer Ehe, die nach sieben Jahren 1949 geschieden wird - ihre beiden Kinder bleiben beim Vater -, schreibt sie Kindergeschichten und Kurzgeschichten für Berliner Zeitungen. 1953 begegnet sie dem Maler und Schriftsteller Hans Bellmer, der, nach seiner Emigration 1933 nicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt, in Paris lebt und dem sie dorthin folgt. „Die Besessenheit“, schreibt sie über diese Begegnung, „von einem bestimmten Gesicht begleitet sie seit Tagen. Plötzlich sieht sie sich einer großen Ähnlichkeit mit diesem Gesicht gegenüber ... das Gesicht Bellmer. Sie schneidet sich die Haare, um diesem Gesicht noch mehr zu gleichen.“ In Paris beginnt sie zu zeichnen und Anagramme zu schreiben. Bellmer wird bis zu ihrer Wiederentdeckung im Kontext der Diskussion um „weibliches Schreiben“ Mitte der siebziger Jahre zum Garant ihrer Überlieferung. Seiner Prominenz verdankt sie die Veröffentlichung der zu ihren Lebzeiten publizierten Schriften.

1957 trifft sie den Dichter Henri Michaux; sie erlebt „in ihrem Leben das erste Wunder. In einem Pariser Zimmer steht sie dem Mann im Jasmin gegenüber.“ Dieser Mann aktualisiert eine Vision ihrer Kindheit: „Der Schock dieser Begegnung ist für sie so gewaltig, daß sie ihn nicht überwinden kann. Sehr, sehr langsam beginnt sie, von diesem Tage an, den Verstand zu verlieren.“

1960 wird sie zum ersten Mal in einer psychiatrischen Anstalt eingeliefert, nach vier Monaten wieder entlassen, um kurze Zeit später, nach einem gemeinsam mit Bellmer verbrachten Sommer erneut eingewiesen zu werden, diesmal für zwei Jahre. In den nächsten Jahren, die sie zum Teil in psychiatrischen Anstalten verbringt, schreibt und zeichnet sie; 1963/64 Orakel und Spektakel, ein Heft mit in Zeichnungen eingeschriebenen Anagrammen, 1965 Der Mann im Jasmin, in dem sie die Zeit ihres ersten Klinkaufenthalts beschreibt, 1967 Dunkler Frühling, die „erotischen Erlebnisse eines Mädchens“, 1970 beginnt sie mit den Aufzeichnungen einer Geisteskranken.

Am 19.Oktober 1970 stürzt sie sich, während eines Besuchs bei Bellmer, aus dem Fenster der ehemalig gemeinsamen Pariser Wohnung.

Unica Zürns Leben scheint in gewisser Weise die Instanz, von der aus ihre Texte lesbar werden, jedoch keineswegs in der einfachen Variante biographischer Lektüren, die ihre Texte als Resultate ihres Wahnsinns und/oder über die Zuordnung Zürns zum Surrealismus lesen. Viel komplexer, in einer unheimlichen Weise überschneiden sich Leben und Werk, Biographie und Text; bis hin zu ihrem Freitod präfiguriert sich das eine um anderen: “...sie möchte schön aussehen, wenn sie tot ist“, schreibt Unica Zürn in Dunkler Frühling: „Sie möchte, daß man sie bewundert: nie hat man ein schöneres totes Kind gesehen... Sie steigt auf das Fensterbrett, hält sich an der Schnur des Fensterladens fest und betrachtet noch einmal ihr schattenhaftes Bild im Spiegel... Sie fällt auf den Kopf und bricht sich den Hals. Ihr kleiner Körper liegt seltsam verzerrt im Gras.“

Ein „unerschöpfliches Vergnügen“ nennt Zürn das Anagrammatisieren, die Suche in einem Satz nach dem einem anderen Satz. „Anagramme“, beschreibt sie ihr Verfahren, „sind Worte und Sätze, die durch das Umstellen der Buchstaben eines gegebenen Wortes oder Satzes entstanden sind. Nur die gegebenen Buchstaben sind verwendbar, und keine Anderen dürfen zur Hilfe gerufen werden.“ Aus einem Ausgangswort „Beil“ können auf diese Weise die Worte „Leib“ und „Lieb'“ erstellt oder in einem Ausgangssatz ein ganzes „Anagrammgedicht“, wie es Zürn nennt, gefunden werden.

Toenendes Erz und klingende Schelle / Gellend entzuenden des Kirchenoels / Donner zischende Lendenlust. Kegele / in Geldern des Nutzens. Lohe lecke den / Nonnensterz. Du, Heldenesel, leg‘ dicke / Seelen in Zucker. Tod, send‘ Geld, Lehnen / des edlen Klerus, echte Zinn -Gondeln, / Heiden-Geldsteckel zur elenden Sonn‘.“

Das Anagrammatisieren ist ein Verfahren der Dekonstruktion von Sinn und Bedeutung. Der Ausgangssatz wird in seine selbst nicht mehr bedeutenden Elemente - Buchstaben zerlegt. Nicht mehr der Sinn eines Satzes oder Wortes wird verstanden, sondern wird als reine Signifikantenkette der materiellen Seite der Zeichen gefaßt, ohne ein Gramm Sinn. Anagramme durchkreuzen die Gewohnheiten des Lesens, weil keine Instanz Autor mehr hinter den Texten steht, kein schöpferisches Subjekt, dessen Intention, dessen Aussageabsicht lesend verstanden werden könnte, nur das leitende, verleitende Wort. Der Sinn muß dann als Produkt betrachtet werden, als unveränderliches Produkt eines kombinatorischen Würfelspiels mit den Zeichen und nicht als vorrangige, nicht veränderliche Gegebenheit. Statt Sinn und Bedeutung legen Anagrammtexte ein vieldimensionales Geflecht von Bezügen und Verweisen offen, Worte hinter den Worten, andere Sätze im Satz, das vielstimmige Gemurmel der Sprache hinter dem Gesagten der Rede. Sinn ist nichts anderes mehr als ein nachträglicher Effekt, hervorgerufen durch das, was nicht benannt wird: „Entschwundenes gibt Sinn“, heißt es in einem der Anagramme, „oder / nicht gestorben sind sie und wenn / und wenn gestorben - sind sie nicht.“

Wörter werden zu Namen, auf ihre bloße Verweisfunktion reduzierte Zeichen, und so können Jahreszahlen oder Adressen zu Ausgangssätzen von Anagrammen werden: „Ruth Zürn, Berlin-Grunewald, Dunckerstrasse zwei (die Adresse meiner Kindheit) / Renn‘ herbei, der Wackelsand grunzt zur Wurstluise: / Wasseruhren, Zuckergelb, Staub rinnt in der Wurzel. / Willst es, heb‘ es - rennt zur Wand er, ri und rag zurück. / Wenn du hundert Rirag willst, essen Zaub'rer Zucker.“

Liest man jedoch die Texte, so löst sich das durch ihre Produktionsweise gegebene Versprechen nicht ein. Sie setzen keine vielfältigen, vieldeutigen Lektüren in Gang, sondern bleiben monolythisch und blockierend. Vielleicht bewirkt das „gefährliche Fieber der Anagramme“, die Arbeit ohne die an die Instanz Autor gebundene Botschaft, sein Gegenteil und schlägt um in eine Manie des Bedeutung-setzen-Müssens. Die Anagramme der Unica Zürn sind von einer beängstigenden Sinnhaftigkeit, die die Arbeit, denen sie sich schuldet, ausstreicht: „Ich weiß nicht wie man Liebe macht / Wie ich weiss, 'macht‘ man die Liebe nicht. / Sie weint bei einem Wachslicht im Dach. / Ach sie waechst im Lichten, im Winde bei / Nacht. Sie wacht im weichen Bilde, im Eis / des Niemals, im Bitten: wache, wie ich. Ich / weiss, wie ich macht man die Liebe nicht.“

Und über ihre Manie der Dechiffrierung von Botschaften schreibt sie in Der Mann im Jasmin: „Sie liegt im Bett und studiert die Annoncen in 'France Soir‘. Eine Beschäftigung, die zur Manie wird, denn in fast jeder Annonce, in fast jedem Titel eines Theaterstücks oder eines Filmes glaube sie Botschaften zu entziffern, sie sich an ihre Person richten.“

Vielleicht rettet aus einer solchen mit Botschaften und Bedeutungen überfrachteten Welt nur der Sprung aus dem Fenster.

Unica Zürn, Gesamtausgabe, Bd.I, Anagramme. Herausgegeben von Erich Brinkmann, Günter Bose und Sabe Scholl, Verlag Brinkmann & Bose, Berlin, 34 Mark