Polnische Regierung für neues Wahlsystem

■ Für eine Übergangsphase möchte auch die Opposition der Quotenregelung von 60:40 (Regierung und Opposition) zustimmen/ Zweite Kammer und Staatspräsidentenamt im Gespräch / Parlamentswahlen schon im Juni? / Die Opposition sieht „einen Schritt nach vorn“

Warschau/Berlin (ap/dpa/taz) - Gibt es bald demokratische Parlamentswahlen in Polen? Bei den Verhandlungen am runden Tisch zwischen der Opposition und der Regierung werden offensichtlich Nägel mit Köpfen gemacht. Am Samstag zeichnete sich ein Kompromiß ab, der den Weg für eine Übergangsregelung beschreibt.

Die Regierung bot der Opposition - also den Parteilosen, Solidarnosc und der Kirche - an, 40 Prozent der Parlamentssitze einzunehmen, während das Regierungslager die Kommunistische Partei, ihre Bündnisparteien und die offiziellen gesellschaftlichen Organisationen wie zum Beispiel der offizielle Gewerkschaftsbund - sich selbst noch 60 Prozent vorbehält. Nach den Vorschlägen der Regierung wird die kommunistische Vereinigte Arbeiterpartei jedoch schon gemäß dieser Vorschläge nicht mehr allein, sondern nur noch zusammen mit den bisherigen (Volksfront -)Koalitionsparteien ZSL (Bauernpartei) und SD (Demokratische Partei) im Parlament die Mehrheit haben. Parlamentswahlen sollen demzufolge bereits im Juni stattfinden. Außerdem soll das Amt eines „starken“ Staatspräsidenten eingeführt werden, der das Parlament auflösen, Volksabstimmungen veranstalten, Gesetze vorschlagen und den Ausnahmezustand verhängen dürfe. Er solle noch vom jetzigen Parlament, später aber direkt vom Volk gewählt werden.

In den einzelnen Wahlkreisen sollen je nach Größe zwei bis fünf Abgeordnete in das 460 Sitze umfassende Parlament gewählt werden. Neu ist auch, daß Kandidaten auch von den Bürgern selbst vorgeschlagen werden können, wenn 5.000 Unterschriften gesammelt sind. Die Einzelheiten der Wahltechnik werden noch in Arbeitsgruppen festgelegt, die bis zum 1.März ihre Vorschläge formulieren sollen. Politbüromitglied Reykowski nannte die vorgeschlagene Reform einen „sehr wichtigen, radikalen Wandel im Vergleich zu allen anderen Wahlsystemen nach dem Krieg.“

Auch Solidarnosc-Sprecher Onyskiewicz zeigte sich angetan und bezeichnete den Vorschlag als „akzeptabel“, wenn zugleich andere politische Reformen in Kraft träten. Als Beispiele nannte er den Zugang der Opposition zu den Massenmedien, die Unabhängigkeit der Justiz und das Recht auf Gründung von unabhängigen Vereinigungen. Selbst der Solidarnosc-Berater und ehemalige „Staatsfeind“ Jacek Kuron zeigte sich vom Regierungsvorschlag angetan. Eine solche Regelung könne zwar nur bei der nächsten Wahl angewandt werden, spätere Wahlen müßten „völlig demokratisch“ sein. Doch sei der Vorschlag ein Schritt nach vorn, es zähle vor allem der „breite demokratische Prozeß“. Für den Verhandlungsleiter der Opposition, Bronislaw Geremek, eröffnet der Vorschlag sogar den „Weg zu politischer Freiheit“ in Polen.

In den Verhandlungen am runden Tisch hatten beide Seiten schon in den letzten Tagen grundsätzlich vereinbart, Solidarnosc und die Bauernsolidarität als unabhängige Vertretung der Arbeiter und Bauern wieder zuzulassen. Weiterhin ist jetzt schon geklärt, daß unabhängige Organisationen ihre eigene Presse haben können und die Zensur gelockert wird. Doch zeigte sich die Regierung noch nicht bereit, eine unabhängige Tageszeitung der Opposition zuzulassen. Alle Vereinbarungen, wie auch die Reform des Wahlsystems, werden erst wirksam, wenn alle Streitpunkte bereinigt sind. Der zentrale Punkt der Verhandlungen steht noch an: die Wirtschaftsreform.

Studentendemonstrationen - In Krakau, Bialystok, Posen und Warschau haben am Freitag Gruppen von Studenten für die Wiederzulassung des Unabhängigen Studentenverbandes NZS und für die Liberalisierung des Hochschulgesetzes demonstriert. Die Polizei reagierte unterschiedlich: während in Bialystok eine Delegation der Studenten vom Bezirksparteichef empfangen wurde, schwangen die Ordnungskräfte in Krakau die Schlagstöcke. In Warschau war die Demonstration sogar angemeldet und führte von der Universität zum nahegelegenen Radziwill-Palast, wo die Gespräche am runden Tisch stattfinden.

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