Amnesty kritisiert DDR-Geheimjustiz

■ Der Bericht von amnesty international über Menschenrechtsverletzungen in der Deutschen Demokratischen Republik wird im Arbeiter- und Bauernstaat als Störversuch gewertet / „Gefälschtes Material“ / Ai-Bericht moniert vor allem Gummiparagraphen und eine Rechtsprechung hinter geschlossenen Türen

Mit heftigen Abwehrreaktionen nach altbekannter Art reagierte die DDR, als sie kürzlich vom Europäischen Parlament kritisiert wurde. Aufgrund eines Berichtes von amnesty international über Geheimverfahren aus politischen Gründen hatte sich das Straßburger Parlament „zutiefst besorgt“ geäußert. Die DDR-Nachrichtenagentur 'adn‘ wies die Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen in ungewöhnlich scharfer Form zurück: „Eine sich als Gefangenenhilfsorganisation amnesty international bezeichnende Gruppe, die in enger Verbindung zu zahlreichen westlichen Geheimdiensten steht, hat versucht, beim Europaparlament in Straßburg gefälschtes Material gegen die DDR in Umlauf zu bringen. Darin wird die erlogene Behauptung aufgestellt, Hunderte von DDR-Bürgern würden jährlich aus politischen Gründen in Geheimverfahren zu Haftstrafen verurteilt.“ Offensichtlich, so 'adn‘ weiter, handele es sich um einen Versuch interessierter Kreise, die sich entwickelnden Beziehungen zwischen der DDR und der Europäischen Gemeinschaft zu stören.

Während in Moskau mittlerweile offiziell Vertreter von amnesty empfangen werden, in Budapest sogar ein Solidaritätskonzert für die ideologisch unverdächtige Gefangenenhilfsorganisation stattfinden konnte, setzt Ost -Berlin unverändert auf Abgrenzung. Anfragen von amnesty, über das Anliegen der Organisation zu sprechen, wehrt die DDR regelmäßig ab. Ebenso weigert sie sich, Informationen zur Verfügung zu stellen. Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen werden mit dem Hinweis, Inhaftierung aus politischen Gründen gebe es in der DDR nicht, zurückgewiesen. In diesem Sinne äußerte sich auch DDR -Außenminister Fischer Ende Januar vor der Wiener KSZE -Nachfolgekonferenz, als die DDR die Schlußresolution zur Einhaltung der Menschenrechte unterzeichnete. Wer gegen Gesetze verstoße, so Fischer allerdings, der müsse „mit Konsequenzen“ rechnen.

Das DDR-Strafgesetzbuch enthält zahlreiche Gummiparagraphen, mit denen auch von der DDR-Verfassung garantierte Grundrechte wie etwa Versammlungs- und Meinungsfreiheit unterlaufen und zu kriminellen Akten gemacht werden können. Besonders häufig und vor allem auf Ausreisewillige wird der Paragraph 219 zur „ungesetzlichen Nachrichtenübermittlung“ angewandt. Mit diesem Paragraphen kann schon ein Telefonat mit Verwandten im Westen zur feindlichen Nachrichtenübermittlung werden, während Interviews im 'Spiegel‘ etwa ohne Nachspiel bleiben. Entscheidungen über Inhaftierung und Freilassung, so resümiert amnesty, werden offenbar nach „politischer Zweckmäßigkeit“ getroffen. Im folgenden dokumentieren wir aus den Schlußfolgerungen des amnesty-Berichtes Deutsche Demokratische Republik: Rechtsprechung hinter verschlossenen Türen.

taz

Der Widerstand der Behörden, amnesty international Informationen über konkrete Fälle zur Verfügung zu stellen, hat zur Folge, daß amnesty international zur Informationsbeschaffung auf Quellen außerhalb der DDR insbesondere auf die Aussagen ehemaliger Gefangener, die inzwischen in der Bundesrepublik leben - zurückgreifen muß. Solche Informationen sind naturgemäß unvollständig und einseitig. Dennoch geben die über Jahre von ehemaligen gewaltlosen politischen Gefangenen gesammelten Informationen zusammen mit den wenigen von den DDR-Behörden zugänglich gemachten Dokumenten (Gesetzestexte, Kommentare und gelegentlich Gerichtsurteile) ein klares Bild darüber, daß Menschenrechte in der DDR mißachtet werden. Die Anliegen von amnesty international betreffen insbesondere folgende Punkte:

-Obwohl exakte Zahlenangaben nicht möglich sind, gilt, daß viele Menschen in der DDR festgenommen werden, weil sie ihr Recht auf Gewissensfreiheit und freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie ihr Recht, das eigene Land zu verlassen, wahrgenommen haben.

-Die Gesetze geben den Behörden ein wirksames Mittel zur Inhaftierung gewaltloser politischer Gefangener an die Hand. Die Bestimmungen einiger Gesetze beschränken explizit die Ausübung von Menschenrechten, andere sind so vage formuliert, daß nahezu jede Form unerwünschter politischer Tätigkeit zur Inhaftierung führen kann. In anderen Fällen insbesondere hinsichtlich des Rechts, das eigene Land verlassen zu können - ist die Ausübung im Rahmen der Gesetzgebung so weit eingeschränkt, daß Personen bei der Wahrnehmung dieses Rechts zwangsläufig gegen Gesetze verstoßen.

Gesetze, die in politischen Fällen Anwendung finden, sehen hohe Strafen vor. Allerdings verbringen zur Zeit gewaltlose politische Gefangene selten mehr als zwei Jahre in Haft und viele sogar weniger als ein Jahr. Trotzdem kann die Androhung langer Feiheitsstrafen herangezogen werden, Dissidenten zur Ausreise zu bewegen.

-Politische Prozesse finden in der Regel unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Amnesty international ist der Auffassung, daß die Einschränkungen, denen die Zulassung der Öffentlichkeit zu politischen Prozessen unterliegt, weit über die im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte erlaubten Restriktionen hinausgehen. Auf diese Weise ist eine Einschränkung, inwieweit solche Prozesse möglicherweise auch in anderer Hinsicht international anerkannte Grundsätze verletzen, nur schwer möglich.

-Ein weiterer Grund zur Besorgnis ist die von den Behörden praktizierte Geheimhaltung. Amnesty international ist der Auffassung, daß die vage Formulierung der Gesetzestexte sowie die Tatsache, daß Informationen über die Anwendung von Gesetzen der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden, es den Bürgern der DDR erschweren, eine Unterscheidung zwischen gesetzlichen und ungesetzlichen Handlungen zu treffen. Auf diese Weise wird ein Klima der Unsicherheit erzeugt. Eine Reihe ehemaliger Gefangener berichtete, ihnen sei nicht bewußt gewesen, daß sie mit ihren Handlungen das Gesetz gebrochen hätten. Des weiteren erschwert die mangelnde Möglichkeit öffentlicher Kontrolle von Gerichtsverfahren eine Aussage darüber, ob die Gerichtsbarkeit politischem Druck ausgesetzt ist.

Es gibt Hinweise, daß Entscheidungen über die Inhaftierung und Freilassung von gewaltlosen politischen Gefangenen im Rahmen politischer Zweckmäßigkeit getroffen werden. Folgende Faktoren unterstützen diese Annahme:

-der „Freikauf“ politischer Gefangener;

-die fast zeitgleich mit der Bestätigung, Erich Honecker werde der Bundesrepublik einen offiziellen Besuch abstatten, erfolgte Ankündigung einer Amnestie im Juli 1987 - fast drei Monate, bevor die ersten Freilassungen tatsächlich stattfanden;

-die uneinheitliche Anwendung von Gesetzen. So entschied beispielsweise das Oberste Gericht im Jahr 1985, das Verfahren gegen Rolf Schälicke, den ein Bezirksgericht zu einer Haftstrafe von sieben Jahren verurteilt hatte, einzustellen, während andere wegen derselben Straftat verurteilt wurden;

-unvermittelte und willkürliche Freilassung werfen die Frage auf, ob die Behörden wirklich von der Schuld der betreffenden Gefangenen überzeugt waren. So folgte beispielsweise der öffentlichen Ankündigung der Staatsanwaltschaft, gegen sieben am 25. Januar 1988 festgenommene Personen werde wegen „landesverräterischer Verbindungsaufnahme“ oder „landesverräterischer Tätigkeit“ ermittelt, die Freilassung der Betreffenden Anfang Februar unter der Bedingung, das Land zu verlassen.