Der Genosse Generalsekretär läßt bitten

■ SED-Chef Erich Honecker gibt dem FDJ-Organ 'Junge Welt‘ ein Interview / Die alte Garde will von der Neuererbewegung nichts wissen

In Budapest verteidigt Parteichef Karoly Grosz das Mehrparteiensystem. In Warschau verhandelt Ministerpräsident Rakowski mit der illegalen Gewerkschaftsopposition. Zur Disposition steht auch hier das Machtmonopol der Partei. In Ost-Berlin gibt Erich Honecker ein Interview. Gewiß, das ist noch nicht der Durchbruch zu einer neuen Politik, aber dennoch bemerkenswert. Normalerweise läßt sich der Parteichef und Staatsratsvorsitzende nur höchst selten zum Interview mit der einheimischen Presse bitten, daß er sich jetzt im FDJ-Organ 'Junge Welt‘ an die DDR-Jugend wendet, hat durchaus Signalcharakter: Da schwingt Unruhe mit - nicht nur im Hinblick auf die bevorstehenden Kommunalwahlen. Beginnt die SED die prekäre Situation zu begreifen, die mit der wachsenden Unzufriedenheit der Jugend für die zukünftige Legitimation des Systems aufzieht? Registriert sie die Verunsicherung über die Initiativen der Bruderländer, den Unmut über die eigene Reformresistenz, die auch in der Parteijugendorganisation um sich greift? Denn die DDR-Jugend kann sich nur schwer damit abfinden, daß die alte Garde sich der Neuererbewegung aus dem Osten - dieser globalen Sympathiewerbung für eine demokratische Variante des Sozialismus - auf Dauer widersetzen will. Sie will! Anders läßt sich - auch mit semantischem Spürsinn und wohlwollendem Verständnis für die mittlerweile zwischen West und Ost eingekeilte Parteiführung - nicht interpretieren, was 'Junge Welt'-Chefredakteur Hans-Dieter Schütt auf mehreren Seiten dem Munde des SED-Chefs entlockte.

Das ganze Interview liest sich wie eine hölzern-beredte Variation auf den Einstiegsakkord von Schütt, ein Liebknecht -Zitat: „Himmelhoch schlagen die Wogen der Ereignisse - wir sind es gewohnt, vom Gipfel in die Tiefe geschleudert zu werden.“ Eine sprachlich etwas überfrachtete, gleichwohl zutreffende Beschreibung der ideologischen Turbulenzen, denen sich die DDR heute ausgesetzt sieht. Und weiter? „Aber unser Schiff zieht seinen geraden Kurs fest und stolz dahin bis zum Ziel... Trotz alledem!“ Soweit die Kernaussage, von Honecker immer wieder metaphernreich variiert: „Wenn man einmal einen als richtig erkannten Weg eingeschlagen hat, dann muß man ihn weitergehen.“ So ist das, Dialektik hin oder her. Irritationen? Ja, doch: „Nun behaupten manche Leute... Aufgrund verschiedener Ereignisse in anderen sozialistischen Ländern...“ Honecker spricht es aus: Es gibt Zweifel am Marxismus-Leninismus. „Manche Leute“ meinten gar, er sei „überholt“. Einen Satz lang hält Honecker diese ungeheuerliche Hypothese in der Schwebe; um so entschiedener schließt er das ideologische Vakuum: „Davon kann selbstverständlich keine Rede sein.“ Dieser Brustton aus unangreifbarer Überzeugung, dem sich dann doch ein Gran Unmut über die Frage selbst beimischt: „...selbstverständlich keine Rede sein“, das hallt nach, die Platte mit dem Sprung. Klar ist, was Honecker seiner verunsicherten Jugend auf ihre „manchmal auch drängend und zugespitzt gestellten Fragen“ antworten will: das bitter -störrische „Laßt Euch nicht beirren“, das er dann doch nicht über die Lippen bringt, das gleichwohl überall zwischen den Zeilen dieser Altersapologie hervorbricht.

Da wirft einer seine antifaschistische Biographie in die Waagschale, die Utopie von der „Befreiung der Menschheit“, vom „Schönsten und Lohnendsten“ - wo vielen seiner jungen Leser fürs erste schon mit der Freizügigkeit gedient wäre. Für das Mißverhältnis aus grandioser Utopie und kleinlicher Realität fehlt ihm der Sinn. Vermittlung - ein Fremdwort aus der idealistischen Philosophie.

Gut - wir ahnten es -, Honecker zweifelt nicht an der Zukunftshaltigkeit der Lehre, am Erfolg des „einmal eingeschlagenen Weges“. Aber hat er keine Berater, die ihm mit den Informationen über die ideologischen Gärungsprozesse in der Parteijugend - wenn schon keine kurskorrigierenden so doch wenigstens ein paar didaktische Ratschläge mit auf den Interviewtermin geben? Denn wenn die DDR-Realität nicht zufriedenstellt und die überkommenen Mechanismen der Herrschaftssicherung nicht mehr lückenlos greifen, wenn selbst ernstzunehmende Abrüstungsinitiativen das Legitimationsdefizit des DDR-Sozialismus nicht mehr decken was um Himmels willen bewegt Honecker zu der Annahme, er könne die Unanfechtbarkeit der SED-Linie mittels seiner Weimarer Erinnerungen aus der Kommunistischen Jugendorganisation vermitteln? Motto: „Ich gewann ein klares Weltbild.“ Glaubt er wirklich, mit seinen Lektüreverweisen auf Lohn, Preis, Profit oder Als Rotarmist vor München die durch Westfernsehen oder SU-Publikationen bewirkten ideologischen Irritationen der DDR-Jugend zu kompensieren? Auch die „revolutionären Lieder der roten Matrosen“ dürften am durchschnittlichen Dt-64-Hörer ebenso vorbeizielen wie Honeckers musikalisches Identifikationsangebot an den hedonistisch angehauchten Jungkommunisten: „Es zogen auf sonnigen Wegen drei lachende Mädchen vorbei.“ - Der Leser ahnt es, da tun sich Mißverständnisse auf, da kriegt der alte Genosse denn doch nicht mehr die Kurve zum Dialog mit der Jugend.

Aber da ist ja noch Hans-Dieter Schütt - durch seine Kommentare als Hardliner bekannt -, ein einfühlsamer Interviewer, der Honecker weit ausholen läßt, weiß, was er seinem Generalsekretär schuldig ist: nirgends eine Formulierung, in der auch nur der Anflug von Unbotmäßigkeit mitschwingt. Er gibt Stichworte, transportiert gemeinsame Überzeugungen in Frageform. Und dennoch, Schütt weiß sich als 'Junge Welt'-Chef auch seinen Lesern verpflichtet, spürt wohl auch, wie die alte Propagandaformel an den Bedürfnissen der Jungen abtropft. In der Ausübung dieser doppelten Loyalität ist Schütt einfach meisterhaft: Verfremdet durch das Genossen-„Du“ triefen seine Formulierungen von Ehrfurcht - und versuchen dennoch, dem SED-Chef auch brenzligere Themen unterzujubeln: die „fragwürdigen Vorschläge aus allen möglichen Richtungen“ etwa, gegen die es „unsere sozialistische Planwirtschaft“ zu verteidigen gelte; oder die „Perspektive des Wehrdienstes“ - Klartext: Ersatzdienst

-, nach denen in Zeiten internationaler Entspannung „manch junger Mensch“ in der DDR fragt; oder geschichtsphilosophisch Verklausuliertes zur Parteilinie: „Lenin wies darauf hin, daß die Geschichte der Revolutionen stets inhaltsreicher, vielseitiger, lebendiger, vertrackter ist, als es die besten Parteien sich vorstellen.“ Eine kleine, mit Lenin geschickt verbrämte Provokation. Wenn Honecker was zu beichten hätte - 'nen Knick in der Parteioptik etwa, den es zukünftig zu korrigieren gelte -, jetzt könnte er es tun; selbst unter Lenins strengem Blick bliebe seine Partei „die beste“. Aber da ist nichts zu korrigieren, und so nutzt Honecker die Frage zu einem Exkurs in Histo Mat, pathetisiert über die „Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen“, über „Leidenschaft und Phantasie der Millionen“ und das „tiefe Vertrauensverhältnis der Partei zu den Werktätigen“. Historisch konkret dann übers „Werden und Wachsen“ der DDR und die Jahreswohnungsproduktion, mit deren Ergebnissen sich alle kritischen Einwände - von Menschenrechte bis Lebensstandard

-mühelos parieren lassen: 200.000 Einheiten pro Jahr - da kommt der Generalsekretär ins Schwärmen: „Was das bedeutet, vom Standpunkt der Schöpferkraft des Menschen auf allen Ebenen unseres gesellschaftlichen Lebens!“ Ja, was bedeutet das? “...Neben WC, Bad, Dusche auch Teppiche, Gardinen, der Kühlschrank, die Waschmaschine, der Fernsehapparat und vieles andere.“ Spätestens an diesem Punkt erinnert sich der Leser an Lenin, Hans-Dieter Schütt und die „vertrackte“ Unerforschlichkeit der Geschichte. Und Genosse Honecker? Er erinnert auch den letzten noch zweifelnden Jungkommunisten: „Wir können glücklich darüber sein und wir brauchen uns vor niemandem zu entschuldigen, daß es den Bürgern der DDR so gut geht.“

Weil mit solchen verqueren Statements der Bruch zwischen den Alltagserfahrungen der DDR-Bürger und der Wahrnehmung der Parteispitze nicht überbrückt, sondern immer wieder dokumentiert wird, gerät man in Zweifel über die Absicht des Interviews. Zur inneren Entspannung jedenfalls kann es kaum beitragen. Denn, daran läßt Honecker keinen Zweifel: Die alte Garde bleibt entschlossen - zur Stagnation.

Biberkopf