Die Knäste bleiben, der Vollzug wird humaner

■ AL/SPD-Justizexperten einigen sich über mögliche künftige Politik zum Strafvollzug und zur Kriminalitätsbekämpfung / Offener Vollzug soll die Regel, Bagatelldelikte entkriminalisiert, statt dessen Wirtschafts- und Umweltkriminalität stärker bekämpft werden

In Berlin wird es auch unter einer rot-grünen Koalition weiterhin Gefängnisse geben, aber der offene Vollzug soll zum Regelvollzug werden. Offener Vollzug bedeutet, daß die Gefangenen die Anstalt tagsüber verlassen und draußen arbeiten. Darauf verständigten sich am vergangenen Samstag die Fachexpertinnen und Fachexperten von AL und SPD in der Unterarbeitsgruppe Justiz, die im Rahmen der Koalitionsverhandlungen tätig ist. Das von der Gruppe erstellte Diskussionspapier über eine mögliche rot-grüne Justiz- und Kriminalpolitik soll am Donnerstag der Haupt -Verhandlungskommission vorgelegt werden - falls die überhaupt noch tagt.

Der in groben Zügen umrissene und bislang unveröffentlichte Einigungsvorschlag für eine rot-grüne Justiz belegt, daß sich die Positionen beider Parteien in Sachen Strafvollzugspolitik bereits in den vergangenen Jahren deutlich angenähert haben: Er kommt von einer SPD, unter deren Ägide das horrende Knastbau- und Sicherheitsprogramm überhaupt erst entwickelt wurde, und einer AL, die in ihrem Parteiprogramm für die Utopie einer Gesellschaft ohne Gefängnisse eintritt. Der Zusatz in dem Programm, es sei nicht von heute auf morgen „gesellschaftlich möglich“, Haftstrafen „prinzipiell abzuschaffen“, ermöglichte es beiden Parteien am Samstag, ohne großes Gerede in wesentlichen Punkten schnell zu einer Einigung zu kommen.

Leitlinie für die Strafvollzugspolitik soll demnach das im Jahre 1977 verabschiedete Strafvollzugsgesetz sein, das den Gefangenen auf dem Papier viele Rechte garantiert. Die Reformansätze des Gesetzes waren Ende der siebziger Jahre jedoch nur kurze Zeit zum Tragen gekommen und von immer mehr Sicherheits- und Ordnungsvorschriften zurückgedrängt worden. Nach den im September 1983 von der CDU erlassenen neuen Ausführungsvorschriften ist von den Reformen heute nicht nur nichts mehr übrig, sondern sind längst wieder Gegenreformbestrebungen hin zum alten Verwahrvollzug mit allen seinen Auswüchsen spürbar. SPD und AL wollen die ursprünglichen Reformansätze wieder aufgreifen, was im Sinne des Gesetzes heißt, daß der offene Vollzug zum Regelvollzug werden soll und die Unterbringung nur ausnahmsweise im geschlossenen Bereich erfolgt. Augenblicklich gibt es rund 4.000 Haftplätze im geschlossenen Vollzug und rund 750 im offenen, die noch nicht einmal voll belegt sind.

Würde der offene Vollzug zur Regel, würde dies in der Konsequenz bedeuten, daß viele Haftanstalten umgebaut werden müßten und auch auf die eine oder andere Mauer insbesondere auf die des Jugendknasts - verzichtet werden könnte.

Darüber, daß schwangere Frauen und Mütter von Kleinkindern nicht in den Knast gehören, sind sich AL und SPD schon lange einig, und Konsens herrscht auch darüber, daß Jugendliche und Frauen in der Regel im offenen Vollzug untergebracht werden sollten. Daß die geplante Umstrukturierung der Anstalten zu kleineren Einheiten nicht von heute auf morgen zu realisieren, sondern ein langwieriger Prozeß sein wird, darüber sollten sich die Gefangenen nach dem Stand der Gespräche keine Illusionen machen. Das Vorhaben soll, so heißt es, in jedem Fall unter Einbeziehung und Mitsprache von Gremien wie Anstalts- und Vollzugsbeiräten sowie Beamten -Personalvertretungen erfolgen. Daß der Hochsicherheitstrakt unter einem AL/SPD-Senat aufgelöst werden soll, ist bislang unumstritten.

Bei der Diskussion über die Leitlinien der zukünftigen Kriminalpolitik kristallisierte sich heraus, daß die Staatsanwaltschaft nicht mehr die Strafverfolgung von Bagatelldelikten zum Maßstab aller Dinge machen, sondern ihr Hauptaugenmerk mehr auf die Verfolgung des organisierten Verbrechens sowie der Umwelt-, Wirtschafts- und Korruptionsstraftäter richten soll. Dafür wären Umorganisationen und Umbesetzungen bei der Staatsanwaltschaft nötig, die mit Computerfortbildung - auch des richterlichen Personals - einhergehen soll. Die AL hat unabhängig davon eine Entkriminalisierung der Bagatelldelikte gefordert und sich für die Auflösung ganzer Abteilungen der Staatsanwaltschaften - wie die politische und die Ausländerabteilung - eingesetzt. Für die Alternativen steht nicht die Strafverfolgung von Umwelttätern im Vordergrund, sondern die Behebung des riesigen Vollzugsdefizits, was Straftaten verhindern soll: Genehmigungs- und Kontrollbehörden sollen voneinander getrennt und ausgebaut werden.

Die Verhandlungsrunde wurde von beiden Seiten positiv bewertet. „Wir haben wirklich ein konstruktives Gespräch geführt“, erklärte der Landesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen (ASJ) Christopf Flügge der taz. An vielen Stellen müsse wohl noch hart gerungen werden, aber bei beiden Seiten sei die erkennbare Bereitschaft da, sich zu einigen. Rechtsanwältin Margarete von Galen (AL) merkte beiden Seiten das große Bemühen um grundlegende Verbesserungen in Strafvollzug und U -Haft an. Renate Künast (AL) hob hervor, daß mit der Wiederaufnahme der Reformen des Strafvollzugsgesetzes nicht gemeint sei, auch die negativen Teile umzusetzen. Sie spielte damit auf die Behandlungs- und Resozialisierungsangebote des Gesetzes an, die in der Praxis weniger eine Hilfestellung für den Gefangenen als eine Erweiterung der Zwangsmittel bedeuten: „Das muß auch die SPD lernen.“

Plutonia Plarre