„Alle Macht den Ratlosen!“

■ Zwischenbilanz nach elf Wochen Berliner Hochschulstreik

Felicitas Kraus/Martin Wildermuth

Hochschulpolitik ist wieder Thema. Daß es kurz nach Beginn des Wintersemesters an den Hochschulen zu brodeln beginnen würde, hätte noch zwei Wochen vorher niemand für möglich gehalten; daß die Proteste binnen kürzester Zeit - zumindest hier in Berlin - Tausende und Zehntausende auf die Straße zu bringen vermochten, auf die Schulen und den Zweiten Bildungsweg überschwappten und - etliche Male totgesagt noch immer nicht zu Ende sind, erstaunte am allermeisten die Studis selbst.

Denn die Studienbedingungen waren schon lange katastrophal, die Entdemokratisierung und die faktische Trennung von Lehre und Forschung durchgesetzt, die universitäre Selbstverwaltung zwischen Staatseingriffen, industrieller Auftragsforschung und den Sachzwängen einer überbordenden Bürokratie zum partizipatorischen Ornament verkommen. Protest dagegen regte sich nur vereinzelt und kurzatmig. Die Konservativen waren gerade dabei, ihre Uni 2000 - eine der Industrie vorgelagerte High-Tech-GmbH mit integrierter Reparaturwerkstatt für die Folgen - zu installieren, den Linken an der Uni fiel schon lange nichts mehr ein, und dem „neuen Sozialisationstypus“ traute niemand etwas zu - schon gar nicht Protest.

Als die Revolte begann, konnten ihr noch alle berechtigte Seiten abgewinnen. Ja, mehr Bücher, mehr Profs und ein Dach über dem Kopf sollen sie haben, sekundierte die öffentliche Meinung seltsam einhellig, und Gelder flossen mit einer für die Trägheit öffentlicher Haushalte ungewohnten Geschwindigkeit - mehr aber nicht. Während alle Berliner Hochschulen besetzt und bestreikt wurden, gingen Unileitung und Wissenschaftssenat wochenlang auf Tauchstation und hofften auf die Weihnachtsferien und die sedierende Wirkung der Not- und Überlastmittel.

Selten hat eine Protestbewegung so viel Aufmerksamkeit und Wohlwollen seitens der Medien genossen - und das obwohl sie zu Beginn des Streiks wenig um öffentliche Artikulation bemüht war. Selbst die Berliner Polizei, die ansonsten auch bei harmlosen Anlässen nicht mit martialischen Auftritten geizt, hielt sich zu Anfang erkennbar zurück. Erst nach Weihnachten trat der „Normalfall“ im Verhältnis zwischen Staatsmacht und sozialen Bewegungen ein. Nachdem die besetzten medizinischen Institute geräumt worden waren, wurde wenigen Studierwilligen der Zugang zu den Instituten erprügelt. Auch wenn der Polizeieinsatz wenig Sympathie fand, unterscheidet ein überwiegender Teil der veröffentlichten Meinung spätestens seither zwischen berechtigten - materiellen - und „überzogenen“ studentischen Forderungen und widmet sich mit einiger Hingabe dem studentischen „Vandalismus“, der vor allem in bemalten Wänden zu bestehen scheint. „Wir sind alle selbst schlau“

„Wir haben nie so viel gelernt“, verkündete unlängst ein Flugblatt, und in der Tat, der Streik befreit zunächst einmal seine Akteure von dem lähmenden Gefühl, zwischen Lernschwierigkeiten, Kontaktarmut und immer geringerem Sinn und Erklärungswert des Gelernten der großen Maschine Uni ausgeliefert zu sein. Es bedurfte nur eines vergleichsweise marginalen Anlasses, um den lange individualisierten Unmut in öffentlichen Protest umschlagen zu lassen.

Die Stillegung des normalen Lehrbetriebs war notwendig, um Zeit und Freiräume zur Selbstverständnisklärung, zur Rationalisierung der häufig diffusen Unzufriedenheit und zur Erarbeitung von Kritik und konkreten Alternativen zum herrschenden Unibetrieb zu gewinnen. Natürlich waren und sind die Forderungen, die StudentInnen an Staat und Unileitung stellten, ernst gemeint, gleichzeitig sind die Forderungskataloge aber auch Chiffren des eigenen Lernprozesses und „Arbeitsprogramm“, das es noch zu füllen gilt.

Es waren zu Beginn des Streiks überwiegend die ganz jungen, Zweit- und Drittsemester, die sich ganz materiell die Uni angeeignet hatten. Anders als die ältere StudentInnengeneration, die Lebensmittelpunkt, politisches Engagement und soziale Identifikation weitgehend von den Unis abgezogen und in die städtischen Szenen verlagert hatten, ist es ihnen gelungen, ein sehr emphatisches Bildungsideal gegen die taylorisierte Realität der Massenuniversität zu mobilisieren und die Unis als Politikfeld zurückzuerobern.

StudienanfängerInnen lernen schnell, was von ihnen verlangt wird: Je nach Studienfach sollen sie sich entweder aus unübersichtlichen Lehrangeboten autodidaktisch ein sinnvolles Studium basteln oder sich in überfüllten Massenveranstaltungen unhinterfragtes repetierbares Wissen eintrichtern lassen. Die Folge ist Individualisierung, und zwar nicht nur eine soziale - was schlimm genug ist -, sondern auch eine intellektuelle und politische. „Fight or flight“ war bislang die gängige studentische Reaktion: „Gib's auf oder beiß dich alleine durch!“

In und mit dem Streik hat sich eine andere Handlungsmaxime verbreitet: „Wir sind selbst schlau!“ Es entstanden autonome Seminare und die Forderung nach Tutorienprogrammen als studentische Lehr- und Forschungsprojekte. Der Impetus, studentische Autonomie an der Universität zu erkämpfen und zu verankern und eine neue Verbindung von Theorie und Praxis zu versuchen, ist nicht neu. Auch wenn dabei Rad und Schießpulver neu erfunden werden sollten, so drücken die arroganten Kommentare verbeamteter Wissenschaftsverwalter „Kenn‘ ich, wird nix“ - nur aus, daß die Universität auf den Hund gekommen ist.

Natürlich kann die Forderung nach „Praxis“ - Theorie gilt eher als Herrschaftswissenschaft, mehr verschleiernd als erhellend -, die durch die Unis geistert, leicht in eine weitere Verschulung und „Anwendungsorientierung“ bestimmter Studiengänge umgemünzt werden. Sicher wurde der Forschung vor lauter Insistieren auf Formen und Inhalten der Lehre kaum größere Aufmerksamkeit gewidmet. Gleichwohl liegt hier die eigentlich politische Qualität der „neuen StudentInnenbewegung„; daß sich erstmals mehr als ein paar Unentwegte gegen Funktionalisierung wehren und sich die Frage nach politischen Implikationen, praktischer Relevanz und den gesellschaftlichen Folgen universitärer Wissenschaft aufs Banner geschrieben haben und, damit verbunden, die Auseinandersetzung um die Demokratisierung von Hochschule und Gesellschaft wieder aufgenommen haben.

Dies nur als „Revolte der Überflüssigen“ abzutun greift zu kurz. Sicher hat die strukturelle Arbeitslosigkeit, der viele entgegenstudieren, und die rapide Verschlechterung der sozialen Lage die Verbreiterung der Proteste befördert. Andererseits haben gerade auch naturwissenschaftliche und technische Fachbereiche, deren Absolventen es nicht eben an Karrierechancen mangelt, lange und heftig gestreikt. Ohnehin scheint das Vorurteil, das zwischen „kritischen“ Geistes und SozialwissenschaftlerInnen und „angepaßten Fachidioten“ in den karriereträchtigeren Disziplinen unterscheidet, nicht länger zu halten zu sein. „Verwaschener Minimalkonsens“

„Alle Macht den Ratlosen“, hat jemand an die Wand des besetzten OSIs gepinselt, überrumpelt von der eigenen Stärke haben sich die Studis zu Beginn des Streiks erst einmal neue Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen geschaffen und dabei in einem wilden egalitären Reflex so ziemlich alles übereinandergepackt, was sich je eine soziale Bewegung hat einfallen lassen. Die Trägheit und Komplexität der so entstandenen Strukturen haben den Studis Zeit zur Selbstverständnisklä- rung gegeben, hemmen uniweit aber politische Initiative und schnelles Handeln. Auch die Fachbereichsplena und VVs gestalten sich nicht selten als Wettlauf zwischen Gruppendynamik und Rationalität, der Verdacht von Eigenmächtigkeit, Kungelei oder Profilierung reicht aus, um ungeheure Eruptionen auszulösen, und das Konsensprinzip macht auch die unwichtigste Entscheidung zum nervenzehrenden Marathon und verhindert klare Entscheidungen zugunsten eines verwaschenen Minimalkonsenses. Und wenn wirklich keiner mehr durchblickt, wird mit Hingabe versucht, den Ausnahmezustand zumindest in ein ordentliches Regelwerk zu kleiden. Ein außerordentlich akribischer Bürokratismus kontrastiert dabei schrill das fundamentale Mißtrauen gegen Institutionen.

Mit den Forderungen nach „kritischer Interdisziplinarität“ und anderen Formen und Inhalten des Studiums verweist die neue StudentInnenbewegung sehr präzise auf dieses Versagen der Massenuniversität, die unfähig war und ist, den Diskurs über ihre eigene, gesellschaftliche Rolle zu führen. Auch linke Wissenschaft ist schon lange nicht mehr in der Lage zur Reflexion auf der Höhe der Zeit, zu Parteilichkeit oder „eingreifendem Denken“ - dem sich das von Studis gegründete interdisziplinäre Berthold-Brecht-Institut im Untertitel verschrieben hat. Das Elend der 68er

Nicht wenige der linken Profs fühlen sich von der neuen StudentInnenbewegung zutiefst ungerecht behandelt. Haben sie nicht kritische Wissenschaft gegen den hinhaltenden Widerstand der Rechten an der Uni etabliert? Haben sie nicht jahrelang wie Don Quichote den Windmühlenflügeln dem rechten Roll-back getrotzt? Und jetzt diese neue StudentInnenbewegung! Bemängelt wird allenthalben das Theoriedefizit, ein wildgewordener Radikalismus und natürlich mangelnde Kooperationsbereitschaft und - ganz entschieden - gepflegte Formen bürgerlichen Anstands gegenüber den GralshüterInnen linker Wissenschaft.

Immerhin, der Vergleich mit 68 macht die Runde. Die Studis selbst mögen ihn nicht - die Selbstgefälligkeit und der kampferprobte Zeigefinger derer, die seit damals als linke Profs die Unis bevölkern, mag das seine dazu beigetragen haben. Zu fragen wäre allerdings, ob das studentische Theoriedefizit nicht durchaus angemessen den Niedergang linker Gesellschaftstheorie reflektiert, ob die linken Profs sich das Mißtrauen der Studis nicht durch eine politische Praxis innerhalb der Unis redlich verdient haben, die realpolitisch nur noch das Schlimmste zu verhindern sucht. Der neue Versuch der emphatischen Neuformulierung des Wissenschaftsbegriffs und die Frage nach der Rolle der Universität in Staat und Gesellschaft mag an 68 erinnern. Nur gilt im Inneren der Universität der Widerstand nicht mehr der „Ordinarienherrschaft“, sondern einer neuen, versachlichten und deswegen verschleierten Form bürokratischer Herrschaft.

Dem studentischen Protest fällt es bei der postmodernen Anything-goes-Ideologie weit schwerer, die repressiv toleranten Liberalen zu provozieren und als Herrschende zu entlarven. War es in den 60er Jahren noch möglich, mit wenigen gezielten Regelverletzungen eine verkrustete Gesellschaft durchzuschütteln, so sind heute politischer Protest und soziale Bewegungen nichts Neues mehr, und die Möglichkeiten des Tabubruchs ist erschwert. Die Dauer und Militanz der Besetzungen und Aussperrungen, die Gesprächsverweigerung und die Abgrenzungswut gegen alles, was nicht StudentIn heißt, ist auch dadurch bedingt.

Überraschend stark bestimmen die Frauen Erscheinungsbild und Forderungen des Streiks. Strikt wird auf weibliche Endungen geachtet, die Forderung nach Quotierung und der Etablierung feministischer Wissenschaft fehlt in keinem Fachbereichsforderungskatalog. Es scheint, als habe sich die Frauenbewegung im Alltagsbewußtsein der StudentInnen zumindest in Form eines vulgärfeministischen Common sense verallgemeinert, der sich jedoch nicht selten als brüchig erweist, sobald er eingelöst werden müßte. Dort, wo offene Ignoranz nicht mehr gesellschaftsfähig ist, verschanzen sich die Männer nicht selten mit taktischem Opportunismus hinter einem vorauseilenden Einverständnis jegliche Frauenforderung betreffend, anstatt sich der fälligen Diskussion zu stellen. Die Bereitwilligkeit, sich „feministische Wissenschaft“ aufs Banner zu schreiben, ist sicher nicht zuletzt einer gewissen Ratlosigkeit geschuldet, wie „befreiende Wissenschaft“ denn nun auszusehen hätte. Feministische Ansätze sind hier schlicht die einzig vorhandenen, die Ganzheitlichkeit, Parteilichkeit und ein radikales „Erkenntnisinteresse an Befreiung“ einzulösen versprechen.

Ob sich allerdings Feminismus analog zum Marxismus der 70er Jahre als neues Paradigma linker Wissenschaft etablieren wird, ist noch offen, ob er dergestalt einem patriarchalen Wissenschaftsverständnis aufhelfen soll, fragwürdig. Trotzdem: Kaum eine Institution ist so fest in Männerhand wie die Uni. Schon deshalb sind mehr Frauen im Wissenschaftsbetrieb und die Etablierung feministischer Forschung und Lehre, die den „bösen Blick“ auf die patriarchale Veranstaltung Wissenschaft pflegt, für die Frauen bitter notwendig.

Rot-Grün: Gefahr und Chance

Für die Berliner Entwicklung der Revolte war und ist die Wahl vom 29.Januar zwar kein bestimmender, aber keineswegs zu unterschätzender Faktor. Im Dezember und Januar hat der Wahlkampf den hochschulpolitischen Absentismus von Regierung und Hochschulleitung gefördert und der Revolte Schonfristen zugestanden. Die rechnerische Mehrheit von AL und SPD ist nun Chance und Gefahr zugleich. Chance, weil - eine rot -grüne Regierungsbildung unterstellt - den vor wenigen Wochen noch utopischen studentischen Forderungen nach viertelparitätischer Mitbestimmung, nach Rücknahme des konservativen staatlichen Einflusses auf die universitäre Autonomie und der Auslieferung der Universität an Kapitalinteressen eine geringe Realisierungsmöglichkeit eröffnet ist. Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, daß nun, benebelt von rot-grünen Zukunftsträumen, allzuviel Hoffnung auf den Segen staatlicher Gesetzesinitiativen gesetzt wird. Die aber können zunächst nur duch Hochschulrahmengesetz und Bundesverfassungsgericht kastrierte Strukturreformen sein; verwirklicht mit einer Sozialdemokratie, die derzeit die Rezepte von vor zwanzig Jahren als Frischware anbietet und dabei vergessen machen will, daß es sozialdemokratische Senatoren waren, die in den frühern 70er Jahren den hochschulpolitischen Roll-back einleiteten.

Wenngleich jede Paritätenänderung in den akademischen Gremien einen Fortschritt bedeuten würde, so müssen die entscheidenden Auseinandersetzungen um Inhalt und Formen von Forschung und Lehre geführt werden. Wie auch immer die Mobilisierung im Sommersemester ausfallen mag, die vielen StudentInnen, die in den letzten Wochen einen Crash-Kurs in (Hochschul-)Politik gemacht haben, werden eine Herausforderung für die Universität bleiben.

Die 68er haben fünf Jahre gebraucht, um zur gesellschaftlichen Kraft zu werden. 1963 wurde in Berlin ein Asta-Vorsitzender abgewählt, 1989 ein Regierender Bürgermeister: Weder wollte damals die FU, noch will heute Berlin Eberhard Diepgen. Ein gutes Omen, mehr nicht, aber immerhin.