„Ich hatte die Grillen vergessen

■ Interview mit Michelle Shocked

„Woody Guthries lange verlorene Tochter“, die neue Joan Baez, der weibliche Billy Bragg. Jede Menge Label für eine einzige Frau und eine Gitarre.

Geboren 1963 in Austin, Texas, mitten im „Bible belt“ mit tiefreligiösen Eltern, wurde sie von ihrer Mutter wegen Aufmüpfigkeit in die Psychiatrie gesteckt. Irgendwann haute sie von zu Hause ab und besetzte Häuser in San Francisco, lebte schließlich fast zwei Jahre in Amsterdam, bevor ihr erstes Album aufgenommen wurde. Michelle Shockeds „Texas Campfire Tapes“ setzten die Tradition halboffizieller Pseudobootlegs fort (die komischerweise immer Tapes im Namen führen, wie die „Basement Tapes“ von Dylan und The Band oder die „Holiday Inn Tapes“ von Rocky Erickson), und landete auf Platz eins in den britischen Indie-Charts.

Auch ihre erste und bisher letzte richtige Studio-LP verkauft sich gut, aber eigentlich interessiert sie sich weniger fürs Plattenmachen als fürs Politikmachen.

Beim Interview nach ihrem Konzert beim Grenzgängerfestival ist sie nicht gerade in Stimmung.

Thomas Winkler: In einem Interview hast du gesagt, daß du als Kind niemals Fernsehen und Radio hattest.

Michelle Shocked: Ja, das stimmt. Es gibt eine sehr kleine, aber starke Minderheit in Amerika. „The Rise of the fundamentalists“, vor allem im Süden, Bible belt nennen sie das Gebiet. Mit Reagan kam auch eine Gruppe dieser militanten Hardcore-Fundamentalisten an die Macht, und meine Eltern waren Teil dieser Bewegung.

Also hattest du eine Menge Probleme, als du anfingst Musik zu machen?

Ich fing an Musik zu machen, als ich von zu Hause wegrannte. Ich hatte keine Probleme mit der Musik, nur Probleme zu überleben.

Du hast aufgehört Witze über Reagan zu machen, wie du es in den letzten Jahren getan hast. Statt dessen coverst du einen Song über eine Frau, die ihren Mann in Vietnam verloren hat. Bist du ernster geworden?

Es erschien mir so, daß die Leute das Gefühl hatten, ich würde sie manipulieren. Wenn du auf die Bühne gehst und den Bekehrten predigst, brauchst du nichts weiter zu tun, als „Reagan“ zu rufen, und sie buhen.

Aber für mich war das fast dasselbe. Du brauchtest nur eine Zeile wie „There were no cops around“ zu singen, und die Leute tobten. Fühlst du dich nicht unwohl dabei?

Ja, tue ich. Aber es waren auch Leute vor der Bühne, die mitsangen, und du würdest dann auch denken, daß es ihnen gefällt.

Ja, es gefällt ihnen, aber...

Du mußt wissen, daß ich viele Kompromisse gemacht habe, um so weit zu kommen. Ich denke nicht, daß ich diese Kompromisse nur gemacht habe, um weiter den Bekehrten zu predigen. Was ich versuche, ist die Balance zu finden, zwar eine politische Atmosphäre zu schaffen, ohne dabei notwendigerweise Politik anzusprechen, um dieses Gefühl zu kreieren. Die Kultur, die man schafft, macht genausoviele politische Statements wie Politik und Ideologie. Mein Ziel ist es vielleicht, die Truppen zu unterhalten. Erinnere dich an den Zweiten Weltkrieg. So wie damals. Ich will für Leute spielen, die an einer besseren Gesellschaft arbeiten.

Bist du neben dem Musikmachen noch anderweitig politisch engagiert?

Ich erinnere mich an die Hardcore-Bands, die sagten, sie bräuchten nicht auf Demonstrationen zu gehen, weil ihre politischen Songs alles sagen würden. Ich versuche immer noch in Kontakt mit der politischen Szene in San Francisco zu bleiben und mache auch manchmal bei Aktionen mit. Aber tatsächlich hat die Musik inzwischen die politischen Aktivitäten ersetzt. Aber noch einmal: Wenn ich es schaffe, Leute zu ermutigen, eine eigene Kultur zu schaffen, ist das fast dieselbe Arbeit.

Etwas, was ich nicht verstehe, ist, daß jemand wie du, mit so einer Vergangenheit, Hausbesetzungen usw., keine Hardcore -Musik macht. Folkmusic hat immer diesen Langhaarige -Körnerfresser-Beigeschmack.

Ja, die Leute wie Joni Mitchell wurden immer selbstbezogener und sangen nur noch (singt süßliches Lalala).

Aber das ist der Weg, den du auch gehst.

Nein, ich nicht. Die Ideen für mein nächstes Album kommen hauptsächlich aus den Anstrengungen, die Alternativen und die Grüne Partei zu organisieren. (ruft in die Runde:) Kann ich hier ein paar politische Ideen unter die Leute bringen? Es ist die Idee, daß es immer das Establishment gibt und auch immer die Leute, die auf diese oder jene Weise versuchen an die Macht zu kommen. Du kannst das auch die Opposition nennen. Die Entwicklung, die ich sehe, sind die Alternativen. Und die Alternativen sollten sich darum kümmern, ein Gleichgewicht der Macht zu erreichen. Immer wenn ich solche Dinge sage, fühle ich mich, als wenn ich mitten in der Nacht schweißgebadet aufwache und schreie: „Habe ich das gesagt?“

Der normale Weg, solche Ideen auszudrücken, die Wut auszudrücken, ist schnelle, laute, wütende Musik, eben Hardcore zu spielen. Die andere Tradition, Protest auszudrücken, z.B. Joan Baez...

Ich beziehe mich auf eine bessere Tradition. Ich komme vom Blues.

Ich weiß. Du hast heute abend auch zwei Leadbelly-Songs gecovert, aber ich würde deine Musik nicht Blues nennen.

(leicht erzürnt) Aber es ist Blues. Sag mir irgendeinen Song außer „Ancourage“, und ich zeige dir die Wurzeln, wo er Blues ist. (demonstriert auf der Gitarre für einige Songs, daß sie auf Blues-Schemata basieren) All das ist Blues.

Wie war es, mit Billy Bragg zusammen zu arbeiten?

Es war sehr gut, und es war sehr schlecht. Man kann viel von ihm lernen. Vor allem, wie man mit Leuten und zu Leuten spricht. Das Problem, das ich damit habe, ist, daß man damit auch immer die Prämisse akzeptiert, für Leute zu sprechen. Das ist das Angry-Young-Man-Syndrom. Es ist gut und schlecht, aber meistens gut.

Ist das ein Mann-Frau-Problem?

Nein, nein

Oder ist es nur im Fall von Billy Bragg so? Vielleicht, weil er Sozialist ist?

Ja, aber ich bin Feministin. Sehr, sehr oft sehe ich die feministischen Argumente sehr deutlich, und sie lassen sich sehr genau auf meine Sitution anwenden. Es gibt keine Tradition der Angry-Young-Women. Jedesmal, wenn man rausgeht und versucht diese Rolle zu spielen, wird man entweder Primadonna oder Moralistin genannt. Und zwischen diesen beiden Polen fühle ich mich nicht sehr wohl. Beides ist ziemlich sexistisch. Und ich versuche eine alternative Frauenkultur hochzuhalten, die du nicht wegschieben kannst, indem du dich über Körnerfresser und Joan Baez aufregst. Es geht um Zorn und dabei zu flüstern, anstatt zu schreien.

Zwischen zwei Songs hast du eine Geschichte erzählt und am Ende betont, daß sie wahr ist. Ist Wahrheit so wichtig für dich? Denn ich denke, wenn man eine Geschichte erzählt, ist es nicht so wichtig, ob sie wahr ist, sondern ob sie gut ist.

Die Grenze zwischen einer guten Geschichte und einer dreisten Lügengeschichte ist ziemlich dünn. Und die Leute kümmern sich nicht oft um den Unterschied. Mit der Einstellung könntest du wahrscheinlich ins Weiße Haus kommen.

Es kommt darauf an, was du damit erreichen willst. Und sind etwa alle Geschichten, die du in deinen Songs erzählst, wahr?

Ich hasse das Wort Künstler, aber ich beanspruche eine Art künstlerischer Konzession für mich. Und das Publikum muß seine Vorstellungskraft benutzen. Es ist nicht wichtig, ob die Geschichten wahr oder falsch sind. Wichtig ist die Möglichkeit, daß es wahr oder falsch sein kann. In meinen Songs ist nur sehr wenig erfunden, das meiste habe ich selber erlebt oder habe ich gehört. Manche Sachen erfinde ich auch, aber ich werde dir nicht erzählen welche.

Du hast mal gesagt, daß du sehr gerne reist, aber jetzt lebst du in London.

Es ist verrückt, ich muß dir mal meinen Reisepaß zeigen. Als ich mein Boot kaufte und es nach Tottenham brachte, hatte ich das Ideal, wirklich in Tottenham zu arbeiten. Von da aus eine politische Gemeinschaft aufzubauen, in der ich meine politischen Prinzipien hätte leben können. Aber tatsächlich bin ich alle zwei, drei Monate eine Woche in London.

Du hast auch mal erzählt, daß du den Rest deines Lebens auf einem Segelboot verbringen möchtest. Wie läßt sich das mit dieser Vorstellung, politisch zu arbeiten, vereinbaren?

Ich dachte mir, ich könnte nur mit Städten arbeiten, die einen Hafen haben.

Und was ist so wichtig für dich an Booten, am Wasser, am Meer?

Das kommt von meinem Vater in Texas. Die anderen nannten ihn Noah. Als er ungefähr in meinem Alter war, begann er ein Segelboot zu bauen. Der Noah von Texas. Und es gibt da absolut kein Wasser. Das Boot sollte sehr groß werden, und er wollte um die Welt segeln und versprach uns mitzunehmen. Zehn Jahre brauchte er, um das Boot zu bauen, und als es fertig war, wollte er nicht mehr segeln. Ich habe sehr oft seine Träume aufgenommen, weil es gute Ideen waren. Dasselbe taucht übrigens auch bei Leadbelly auf: (singt) „My home is on the water/I don't like no land at all.“

Wieviel hast du in San Francisco mit der Hardcore-Szene zu tun gehabt?

Soviel, wie Hardcore mit der Hausbesetzerbewegung zu tun hatte. Ungefähr 1982, als es die Kämpfe in Berlin und Amsterdam gab, haute ich von zu Hause ab und ging nach San Francisco. Ich kümmere mich nicht um den Stil. Ich konnte hinter dem Stil sehr genau die Idee sehen, und hinter dem Stil war eine Idee vom Überleben. Wir bauten z.B. eine Suppenküche auf. Jeder brachte sein Essen mit, und wir kochten füreinander. Das ist eine Art zu überleben.

Wie fühlst du dich als Frau in einem immer noch von Männern dominierten Geschäft?

Es ist eine gute Chance. Es gibt Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten, so was wie ein Pionier zu werden. Und ich fühle mich niemals, als würde ich zu den bereits Bekehrten predigen, wenn im Publikum auch Frauen sind, die mich unterstützen.

Willst du irgendwann mal mit einer Band spielen? Nicht nur jammen, zusammen mit der Oyster Band, wie heute abend.

Musik hat was mit Interaktion zu tun, mit einem Gemeinschaftsgefühl. Aber ich habe Angst, für mich ist es ein Spiel mit dem Feuer. Aber es stimmt, ich habe die Absicht, mit Musikern zu arbeiten und zu zeigen, daß Swing ein Gefühl ist und der Stil nicht wichtig ist, sondern nur, ob Musik Swing hat. Rap oder Hardcore oder Reggae, diese ganzen Stile sind egal, aber das Beste davon hat immer Swing. Aber ich weiß nicht, ob ich das kann, und ich bin auch besorgt, weil, wenn du anfängst für ein Major-Label zu arbeiten und sie dich drängen, mit Musikern zu arbeiten und Geld in dich stecken, fängst du an die Kontrolle zu verlieren. Dann sagen sie dir, wir müssen das Geld wiederkriegen, das wir ausgegeben haben, und du sollst das und das machen. Natürlich mußt du nicht, du kannst sie auch ihr Geld verlieren lassen, aber ich möchte sie niemals mit meiner Musik Geld verlieren lassen. Ich weiß natürlich, daß denen nur das Geld wichtig und die Musik völlig egal ist. Also, wenn ich zeigen kann, daß diese Musik finanziell verwertbar ist, gibt es vielleicht mehr Chancen für diese Musik, die ich einfach lieber mag als andere finanziell verwertbare Musik. Ich weiß, daß Heavy Metal sich gut verkauft, aber ich mag ihn nicht.

Was ist dran an der Geschichte um deine erste Platte, die „Campfire Tapes“, von der du nicht einmal wußtest, daß sie aufgenommen und gepreßt wurde, und die dann Nr.1 in England wurde.

Alle fragen mich, ob das wahr ist. Die Umstände waren sehr natürlich. Meine Musik war so lange Underground, daß es ziemlich natürlich war, daß jemand mit einem Walkman auftaucht und sagt, ich will eine Platte machen, willst du nicht deine Lieder singen. Also nahm er auf, ich sang, irgendwann streikten die Batterien. Er ging zurück nach London, und ich glaubte immer noch nicht, daß er eine Platte machen wollte. Als ich schließlich von der Idee hörte, sagte ich okay. Da hatten sie aber schon Flexies für ein Magazin gepreßt und wohl auch die Kassette kopiert. Es war Nummer 26 in England, bevor ich überhaupt davon hörte. Und als ich es schließlich erfuhr, lachte ich nur und dachte, du hast jetzt also eine Platte gemacht, hoffentlich hast du wenigstens gut gesungen. Aber ich hatte die Grillen vergessen, und die waren auch drauf und sind auch gut zu hören.

Interview: Thomas Winkler