Inflation der Andersdenkenden

In Ungarn sprießen zahlreiche neue Gruppen aus dem Boden, die sich an einem Mehrparteiensystem beteiligen wollen / Offener Markt für Untergrundpresse und Pornoblätter entstanden / Auch die Altstalinisten formieren sichwieder / Eine neu gegründete kommunistische Partei warnt vor der explosiven Situation  ■  Aus Budapest Roland Hofwiler

Als sei das etwas Selbstverständliches, warb vor kurzem das Parteiblatt 'Magyar Nemzet‘ für die neueste Ausgabe der legendären ungarischen Samizdat-Schrift 'Beszeloe‘. Interessantes findet man darin zu lesen, und die Herausgeber könnten sich mit Berufsjournalisten messen, schrieb die Tageszeitung. Seit wann so viel Lob für die Blattmacher Janos Kis, Ferenc Koeszeg und Ottilia Solt, weit über Ungarns Grenzen bekannte Dissidenten, denen in den letzten Jahren selbst Haftstrafen nicht verschont geblieben waren?

Gehören die Zeiten der Vergangenheit an, als man Kopf und Kragen riskierte, um ein paar druckfrische Samizdat-Hefte zu verkaufen? Autor Gyoergy Petri, ein totgeschwiegener Poet, der gerade mit der Herausgabe seiner Werke im größten Staatsverlag geadelt wird: „Ein paradoxes Dilemma vollzieht sich, wir leiden zur Zeit an einer Inflation der Andersdenkenden.“ Und wo immer man hinschaut, glaubt man sie zu erspähen. Die Zeiten scheinen vorbei zu sein, da man auf nächtlichen Expeditionen zu Dissidenten-Wohnungen angeblich große Dinge erfahren konnte. Ja, es könne über alles diskutiert werden, gesteht Tibor Philip von der Politart -Gruppe „Inconnu“ ein, „und weil man machen kann, was man will - selbst der Aufstand von 1956 ist ja kein Tabu mehr -, vergißt man so manches, was einem früher als heilig erschienen war“. So habe man den 13.Dezember im Politkalender übersehen und keine Protestnote an die Warschauer Regierung übersandt, endlich die Verhängung des Kriegsrechts 1981 als historischen Fehler einzugestehen und die verbotene Gewerkschaft Solidarnosc ohne Einschränkung wiederzuzulassen. Wie man sich auch keine Zeit nehmen wollte, gegen das Vorgehen der Prager Polizei anläßlich des 20.Jahrestages der Selbstverbrennung Jan Palachs eine Kundgebung zu organisieren. „So geht es, wenn die Freiheit einfach vom Himmel fällt“, meint Philip ironisch.

„Was noch vor kurzem als Ketzerei galt, empfinden wir jetzt als selbstverständlich - so schnell ändern sich die Zeiten“, schreibt da beispielsweise das Wochenblatt 'Magyar Ifjusag‘, Zentralorgan der ungarischen KP-Jugend, und spricht den Jungkommunisten Mut zu: Man könne wieder stolz sein, Kommunist zu sein, denn schließlich sei es die Partei gewesen, die den Startschuß für pluralistische Vielfalt gegeben habe.

Euphorie auf allen Seiten

Ja, man weiß es. Es stand in der 'Prawda‘, im 'Neuen Deutschland‘. Auf der letzten Plenartagung des ZK der USAP am 11.Februar erklärte Generalsekretär Karoly Grosz, man möchte „nicht noch einmal das Risiko tragen, Pluralismus unter den Bedingungen eines Einparteiensystems zu realisieren“, das hätte „das Studium der Ereignisse von 1956 offengelegt“. Grosz: „Wir haben uns für ein Mehrparteiensystem ausgesprochen.“

Ausgesprochen ist ausgesprochen. Und die Verlockungen sind groß, Euphorie herrscht auf allen Seiten. Unter Grosz -Anhängern, Marxisten-Leninisten, Reformkommunisten, Feministinnen, National-Liberalen, Christdemokraten, ja selbst unter Pfadfindern und Tierschützern, die fast über Nacht mit einem neuen Bewußtsein auftreten, alle glauben, ihre Stunde sei gekommen. Nein, mit den Reise-, Rede- und Demonstrationsfreiheiten - in den letzten Jahren erkämpft und in den benachbarten Bruderstaaten bewundert - gibt man sich nun nicht mehr zufrieden. Als sei Ungarn schon immer ein freies Land gewesen mit einer freien Presse, mit Buchläden, in denen es zum guten Ton gehören soll, neben einer 'Financial Times‘ eine 'Nepszabadsag‘ und eine Oppositionsschrift auszulegen. Ein Land, in dem fliegende Zeitschriftenhändler Hart-Pornos auf der Straße so ungeniert anbieten wie in Polen Solidarnosc-nahe Kirchenblätter öffentlich vor dem Kirchplatz den Besitzer wechseln. Ebenso selbstverständlich widmen sich seit neuestem Hunderte von Interessenzirkel und Bürgergruppen dem Aufbau als politische Partei oder Vereinigung.

Ivan Baba, ein bekannter Grüner, Mitbegründer des „Duna Koer“, der ersten Umweltschutzgruppe, ja Umweltschutzbewegung Osteuropas überhaupt, Träger des alternativen Nobelpreises, ist nicht der einzige, der seiner alten politischen Tätigkeit abschwor. Niemand macht ihm aber deswegen einen Vorwurf. Abgesehen von der neu entstandenen „Bakunin-Liga“, die allen neu entstandenen Gruppen vorwirft, nichts als machtgeil zu sein, aber um nichts besser als die verhaßte korrupte Partei der Kommunisten. „Ach, laß die, das sind pubertierende Kinder, übrigens wie 'Fidesz‘. Die 'Fidesz'-Leute haben alle eine enttäuschte Liebe hinter sich, findet sie die wieder zurück, machen die keine Politik mehr - im Ernst“, erzählt im Vertrauen ein bekannter Philosoph - und er meint es ernst mit dem, was er sagt. Wie Ivan Baba durch die ungarische Provinz pilgert, um Anhänger für seine „Partei der Kleinlandwirte“ zu finden, wirbt er für die „Christlich demokratische Bewegung“ und vergißt dabei nie, vor dem „Bund der jungen Demokraten - Fidesz“ zu warnen, einem alternativen Sammelbecken meist junger Studenten. Der Bund seinerseits setzt auf Gegenagitation: „Trau keinem über 30“, lautet deren Devise. „Sucht neue Wege in der Politik und nicht nur eine Rückbesinnung auf die 'gute alte Zeit‘ der k.u.k.-Monarchie“, wie dies anscheinend die „Kleinlandwirtler“, die „Christlich Bewegten“, das „Demokratische Forum“ und ähnliche Gruppen, die alle vor 1947 schon eine Parteigeschichte hatten und jetzt wiederbelebt werden, populistisch auf ihre Fahnen geschrieben hätten.

Tägliche Neugründungen

Für einen „Dritten Weg“ in der Politik setzen sich außerdem die 'Beszeloe'-Macher Kis und Koeszeg ein. Kis gründete das „Netzwerk freier Initiativen“, Koeszeg die „Vereinigung junger Demokraten“. Wo zwichen den beiden Großen und „Fidesz“ ideologische Unterschiede zu finden seien, glauben Insider schon herausgefunden zu haben: Als Außenstehendm dünkt einem, es sind eher persönliche Querelen, Liebes- und Freundschaftsgeschichten, die den einen in die eine oder andere Bewegung zieht. Und nicht nur in diese Bewegungen. Wer mit wem und weshalb verschwägert oder verschwistert ist, wo die Trennlinien zwischen den einzelnen Gruppen verlaufen, weiß bei den täglichen Neugründungen niemand mehr zu sagen. Ein alternativer Wegweiser, von einem staatlichen Verlag zur Jahreswende herausgegeben, gilt längst als überholt, auch was die ideologische Selbstdarstellung anbelangt, die angegebenen Mitgliederzahlen stimmen ebenso wenig wie die politischen Ziele mit den neuesten Entwicklungen in den Gruppen überein. Nur eines steht fest: Allen gemeinsam ist der Wunsch nach einem Mehrparteiensystem, Abzug sowjetischer Truppen aus Ungarn und eine Verfassung nach bürgerlichem, westeuropäischem Vorbild.

Was offensichtlich ist und auch nicht verschwiegen wird: Ein ausgetüfteltes Programm besitzt noch keine der wie Pilze aus dem Boden sprießenden Formationen. Noch haben sie Zeit dazu. Denn erst am 14.August will das (kommunistisch besetzte) Parlament in Budapest die rechtlichen Voraussetzungen für ein Mehrparteiensystem schaffen.

So kocht es - sieht man einmal von der Landeshauptstadt ab

-in der alternativen Experimentierküche Ungarns noch auf kleiner Flamme. Die Bevölkerung teilt von der Aufbruchstimmung der Intellektuellen wenig. Für sie bot die Demokratisierung bisher wenig Greifbares. Weder die allein regierenden Kommunisten noch die neuen Parteien wissen materielle Verbesserungen anzubieten. So die allgemeine Meinung. Die neuen Politakteure teilen sie. Die Sprecher der „Neuen März Front“, eine linke Intellektuellenbewegung getragen von „oppositionellen“ Wirtschaftsexperten wie Zoltan Kiraly und Mihaly Bihari geben es offen zu: „Eine Lösung der Wirtschaftskrise ist vorerst nicht in Sicht.“ Sie glauben aber in ihrer Grundsatzerklärung, dies sei vorerst auch nicht das vorrangige Ziel für Ungarn - sie sagen es trotz zwei Millionen Menschen, die unterhalb der offiziellen Armutsgrenze ihr Leben fristen, trotz zehntausender Arbeitsloser, trotz beständig fallendem Lebensstandard. Sie schreiben: „Wichtigste politische Aufgabe des Landes ist die Verständigung, die Schaffung des Übergangs in eine neue politische Struktur, in die auf freie Wahlen beruhende repräsentative Demokratie. Nur von dieser Veränderung können wir die Lösung der Wirtschaftskrise erwarten.“

Elend und Luxus

„Verständigung“, „Versöhnung mit der Gesellschaft“ Begriffe, die im heutigen politischen Leben Ungarns häufig in den Mund genommen werden, und nicht nur von Kommunisten. Denn man wünscht sich nicht, daß sich die Ereignisse von 1956, und wenn, nur in abgeschwächter Form, wiederholen, daß alles bisher Erreichte niedergeschlagen werden könnte. Nein, man glaubt nicht an einen Einmarsch der Sowjets, man vertraut Gorbatschow. Aber man spürt, daß sich auch Altstalinisten und Dogmatiker neu zu formieren wissen. 'Magyar Nemzet‘ wußte bereits im Dezember davon zu berichten, daß sich im dritten Budapester Stadtbezirk heimlich die „Ferenc Muennich Gesellschaft“ gründete. Schon allein der Name löst bei vielen Ungarn Unbehagen aus. Der einstige Ministerpräsident Muennich war maßgeblich an der Repression nach der Niederschlagung des Oktoberaufstandes beteiligt. Sein Name steht für die Unterdrückung ungarischer Eigenständigkeit. Die neuen „Muennich-Gesellschaft„ -Aktivisten malen denn auch in grellen Farben die Gefahr einer erneuten Konterrevolution wie jene 1956 an die Wand, und das im Zuge der politischen Öffnung seit ein paar Wochen in aller Öffentlichkeit.

Als noch geheimnisumwitterter gilt die Gründung der „Neuen Kommunistischen Partei“, an das Wochenblatt 'Reform‘ sandten sie einen Brief, in dem es heißt: In Ungarn sei die Gefahr explosiver als in der CSSR um 1968. Wie selbst aus regierungsnahen Kreisen zu hören ist, nimmt Parteichef Grosz die Formationen beider Gruppen nicht auf die leichte Schulter. 'Magyar Nemzet‘ schreibt: „In Ungarn steht ein großer Teil der Bevölkerung schon an der Grenze des Existenzminimums, während eine begrenzte Schicht auf verhältnismäßig hohem Niveau lebt. So können die Ärmeren immer mehr zu Chancenlosen der Gesellschaft gedrängt werden. Und so könnte ein Teil der Benachteiligten in dem einem jeden mit Armut beschenkenden, stalinistischen Modell den Ausweg sehen.“

Zu überspannte Befürchtungen? Die 'Beszeloe'-Macher meinen, man soll die Dogmatiker, die sich zur Zeit innerhalb der Partei-Oligarchie nicht zu erkennen geben wollen, im Auge behalten, das genüge, und es gelte genau zu balancieren, in welchem Tempo und welchem Umfang man den Pluralismus in die Tat umzusetzen habe. Klingen diese Worte nicht wie die eines Parteiphilosophen? Verwischt sich allmählich der Unterschied zwischen „demokratischer Opposition“ und den regierenden Kommunisten? Ferenc Koeszeg: „Was wir meinen, schrieben wir schon vor Jahren - und unseren Träumen und Zielen sind wir weiterhin treu.

Es ist das Problem der kommunistischen Partei, mit ihrer eigenen Geschichte, ihren Fehlern und internen Spaltungen klar zu kommen, wir haben unsere eigene Geschichte, die war immer offen und nur im Interesse der Gesellschaft.“

Foto: Petra Schrott