Italien: Wieder mal alle unschuldig

Der Anschlag auf die Landwirtschaftsbank in Mailand 1969 bleibt ungesühnt / Ein Berufungsgericht in Catanzaro sprach den Angeklagten Stefano delle Chiaie frei / Mit dem Anschlag in Mailand begann die „Strategie der Spannung“  ■  Aus Rom Werner Raith

Die Fassungslosigkeit stand den Prozeßbeobachtern noch Stunden danach im Gesicht: am frühen Vormittag hatte das Gericht in Catanzaro alle Angeklagten freigesprochen. Keiner von ihnen, auch nicht der mehr als ein Jahrzehnt lang steckbrieflich in aller Welt als „Staatsfeind Nr.1“ gesuchte, in Abwesenheit dutzendmal verurteilte Chef der neofaschistischen „Avanguardia nazionale“, Stefano delle Chiaie, ist nach Gerichtserkenntnis für den Anschlag auf die Landwirtschaftsbank in Mailand 1969 mit 16 Toten verantwortlich. Die mehr als hundert angereisten Hinterbliebenen sind außerstande, diese unvorstellbare Unfähigkeit der Justiz zu begreifen - nach fast 20 Jahren und sechs Verfahren ist noch immer kein Täter ermittelt. Delle Chiaie, vor zwei Jahren endlich in Südamerika gestellt und ausgeliefert, kann sich gute Chancen ausrechnen, auf Dauer aus dem Knast zu kommen, auch wenn noch mehrere Verfahren wegen anderer Anschläge gegen ihn schweben.

Es war der vorläufig letzte Prozeß in einem der unrühmlichsten Kapitel der italienischen Justizgeschichte. Schon kurz nach dem Attentat von Mailand hatte die Polizei die angeblichen Täter verhaftet - zwei Anarchisten, von denen einer während des Verhörs aus dem fünften Stock des Polizeipräsidiums „fiel“. Der für den angeblichen „Selbstmord“ von der außerparlamentarischen Opposition verantwortlich gemachte Kommissar Calabresi wurde zwei Jahre danach ermordet - und im vergangenen Jahr präsentierten die Ermittler für diese Tat plötzlich den mittlerweile landesweit geschätzten Journalisten Adriano Sofri als „Auftraggeber“. Doch von einem Verfahren gegen Sofri hört man nichts mehr; auch über die rechtsradikalen Attentate breitet die Justiz nun offenbar endgültig den Schleier des Vergessens.

Nach dem Zusammenbruch der „anarchistischen“ These 1970 ermittelten die Behörden zunächst recht lässig in Richtung Rechtsextremismus; mit zwei Konsequenzen: die Neofaschisten fühlten sich durch die offenbare Protektion zu weiteren Anschlägen ermutigt (sie brachten bis 1980 über 150 Menschen durch Attentate um), die Linken gerieten über die Rechts -Blindheit des Staates immer mehr in Wut und schaukelten sich zu immer härteren Aggressionen hoch - 36 Tote zählte die Polizei bis zum Zerfall der Roten Brigaden 1981. Die „Strategie der Spannung“, die Italien ein Jahrzehnt lang von rechts wie links bis hin zur Putschgefahr destabilisierte, nahm tatsächlich vom Mailänder Attentat ihren Anfang.

Doch während heute nahezu alle Schüsse und Hinterhalte der Linken durch Verurteilungen juristisch abgeschlossen sind, sind die Rechts-Attentate durchweg ungesühnt oder - wie die Sprengung des Bahnhofs in Bologna 1980 (85 Tote) - in erster Instanz mit wenigen Handlanger-Verurteilungen behandelt.

So fragen denn die Hinterbliebenen der Opfer rechtsradikaler Anschläge - zusammengeschlossen in einer Interessengemeinschaft - nach dem neuerlichen Freispruch gerade hinsichtlich des seit Jahren von der Justiz als Oberbombenleger und Hauptdrahtzieher aller Attentate bezeichneten delle Chiaie: Haben die Behörden, vermutlich angeführt von den Geheimdiensten, mit dem Mann ein riesiges Ablenkungsmanöver aufgebaut, das nun nach seiner Verhaftung zusammenbricht? Oder ist die Justiz schlicht nicht willens, genügend Beweismaterialien für hieb- und stichfeste Anklagen zusammenzutragen?

So fordert die „Vereinigung der Opfer und Hinterbliebenen von Terroranschlägen“, daß das über viele Teile der Attentatsermittlungen verhängte Staatsgeheimnis unverzüglich aufgehoben wird - „damit“, so ein Sprecher der Vereinigung, „wenigstens klar wird, warum es hier keine Gerechtigkeit gibt und wohl auch nie mehr geben wird“.