Konservative Jahre unbeschadet überdauert

■ Seit zehn Jahren wird im Rahmen der Berlin-Forschung sozialwissenschaftlicher Nachwuchs gefördert / Mit Billig-Etat werden Berlin-Themen erforscht: Von der „NS-Renaissance“ unter Schülern über Hausbesetzungen bis zum Konflikt um den Skulpturen-Boulevard

Wie sich nach dem Studium finanzieren und weiterqualifizieren? Der Politologin Jeanette fiel die unter Berliner Hochschulabsolventen übliche Wahl, entweder ein Promotionsstipendium oder ein Berlin-Forschungs-Projekt zu beantragen, leicht. „Nach der Diplomarbeit wollte ich nie wieder derart allein und isoliert arbeiten. Weil man die Projekte zu zweit machen kann, kam für mich nur Berlin -Forschung in Frage.“ Seit dem Sommer 1987 führt sie zusammen mit einem männlichen Kollegen eine vergleichende Studie zur Wirtschaftsförderung in Berlin, Stuttgart und Mannheim durch. Jeanette gehört damit zu jenen 278 NaturwissenschaftlerInnen, die seit dem Bestehen der Berlin -Forschung jeweils zwei Jahre lang erste Erfahrungen in empirischer Forschung sammeln konnten.

Die Berlin-Forschung, bundesweit die einzige Einrichtung ihrer Art, gibt es seit 1973. Sie geht auf eine Initiative von Peter Grottian, Politologie-Professor an der FU, zurück, der die Berlin-Forschung mit Unterstützung des damaligen Wissenschaftssenators Peter Glotz und des Uni-Präsidenten Eberhard Lämmert an der FU einrichtete. „Es ging darum, durch ein Forschungsprogramm die Uni den Problemen Berlins näherzubringen und gleichzeitig dem Nachwuchs, vor allem der Sozialwissenschaften in Zeiten von Akademiker -Arbeitslosigkeit, den Berufseinstieg zu erleichtern“, erläutert Peter Grottian den Zweck der Berlin-Forschung.

Entsprechend ist das Konzept: Die Themenwahl ist frei, doch müssen die Projekte Berlin-bezogen und anwendungsorientiert sein, die MitarbeiterInnen haben mit Senatsverwaltungen, Bezirksämtern, Gewerkschaften, Verbänden oder auch Projekten der Alternativszene zusammenzuarbeiten und werden von einem Beirat, bestehend aus betreuenden WissenschaftlerInnen und Praktikern, beraten. Antragsberechtigt sind alle Absolventen der Berliner Hochschulen, deren Abschluß nicht länger als zwei Jahre zurückliegt. Von den 60 bis 70 Anträgen pro Ausschreibung jeweils zu Jahresbeginn werden etwa zwölf bis 18 Projekte gefördert. Der Grund für die richtige Auswahl: Die Berlin-Forschung hat lediglich einen Jahresetat von 2,2 Millionen Mark.

Die Jahre konservativer Hochschulpolitik hat die Berlin -Forschung unbeschadet überstanden. Gewandelt haben sich in den zehn Jahren ihres Bestehens lediglich die Projektthemen. „Die Projektthemen spiegeln quasi die jeweiligen Problemlagen der Stadt wieder“, resümiert Peter Grottian, der als Mitglied der Auswahlkommission die Berlin-Forschung begleitet. 1979 griff beispielsweise ein Projekt die damals Berlin bewegende NS-Renaissance unter Berliner SchülerInnen auf. 1986 wurde ein Projekt zum Berliner Hausbestzungskonflikt durchgeführt, und gegenwärtig laufen Projekte zum „Sexualverhalten von Jugendlichen unter der Bedrohung von Aids“, zur Auseinandersetzung um den Skulpturenboulevard im 87er Jubeljahr oder zu „Durchsetzungsstrategien autonomer Frauenprojekte“. Die Themenschwerpunkte haben sich insgesamt von den Bereichen Wirtschaft und Politik auf die Bereiche Umwelt und Frauen verlagert. Dennoch hat die Berlin-Forschung nur selten die politische Sprengkraft entfaltet, die Initiator Grottian mitunter gerne sähe. „Viele Projektmitarbeiter haben vorrangig im Auge, zwei Pappdeckel zu füllen, weniger das Thema politisch anzuspitzen.“ In nur wenigen Ausnahmen konnte die Berlin-Forschung Wirbel produzieren, berichtet Ellen Fröhlich, die in der Altensteinstraße die Berlin -Forschung verwaltet. So paßte beispielsweise 1979/80 dem Kultursenator der Ansatz der Studie „Zur Lage der Schriftsteller in Berlin heute“ nicht. Und in dem 1986 begonnenen Projekt „Bewertung von wohnortverbessernden Maßnahmen - Eine Untersuchung des Märkischen Viertels Berlin“ rückte die kooperierende Wohnungsbaugesellschaft „GeSoBau“ im Verlauf der Arbeit von den Projektzielen ab. Heute ist die Berlin-Forschung unumstritten. Ellen Fröhlich: „Gegen die Berlin-Forschung gibt es keine Vorbehalte mehr in der Stadt. Die Einrichtungen haben die Erfahrung gemacht, daß ihnen das, was die Berlin-Forschung macht, in der Regel Nutzen bringt.“

Probleme entstehen häufig zu einem früheren Zeitpunkt. „Den Studenten wird überhaupt nicht beigebracht, wie sie Forschungsmittel an Land ziehen können und wie ein Forschungsprojekt anzulegen ist“, klagt Peter Grottian.

Jeanette kann das bestätigen: „Die schwierigste Hürde war für mich der Antrag“, erinnert sie sich. „Ansprechpartner zu finden, sich als Person einzubringen und zu überzeugen, bedeutete eine ungeheure Umstellung gegenüber dem, was ich während des Studiums gemacht hatte.“ Doch die Mühe lohnt sich. „Man qualifiziert sich durch die Berlin-Forschung ungeheuer“, so Jeanette. „Wenn man dem main stream am OSI folgt, hat man doch von Tuten und Blasen keine Ahnung, was beispielsweise die Methodik empirischer Forschung betrifft.“

Ein Berlin-Forschungsprojekt verbessert natürlich auch die späteren Berufsaussichten. Eine jüngst abgeschlossene Studie über Erfahrungen und weiteren Verbleib der Berlin -ForscherInnen hat ergeben, daß drei Jahre nach Beendigung der Förderung nur 17 Prozent von ihnen arbeitslos waren.

Doch rundum zufrieden sind Jeanette und ihre KollegInnen nicht. Mit der Förderungsdauer von zwei Jahren, in denen die NachwuchswissenschaftlerInnen mit 1.200 Mark im Monat für ihren Lebensunterhalt unterstützt werden, kommen die meisten Projekte nicht aus. Häufig können sie die Abschlußberichte erst nach Ablauf der Förderungszeit fertigstellen. Der Forderung der Wissenschaftlichen Mitarbeiter (WiMis) im letzten Streik nach gleichen Arbeitsbedingungen für alle WiMis und durchweg fünfjährigen Arbeitsverträgen, haben sich die Berlin-ForscheInnen allerdings nicht angeschlossen. Sie fordern die Möglichkeit einer Nachförderung im Anschluß an die zwei Jahre. Begründung: „Ich hab‘ keine Lust, diesen Job fünf Jahre zu machen. Berlin-Forschung ist doch Billigforschung“, so Jeanette, die damit auf die geringe Sachmittelausstattung von 5.000 Mark pro Jahr anspielt. Auch die räumliche Ausstattung ist mager: Neun Projekte sind in der Friedenauer Sarrazinstraße beherbergt, der Rest notdürftig an den Fachbereichen.

Thomas Werres