Rushdie: Unterschwelliger Pogromaufruf

Unterschwelliger

Pogromaufruf

Am Samstag seien sie da gewesen, hätten die drei Regale mit englischsprachiger Literatur durchsucht und auch die Schaufensterauslage, ob die Satanic Verses da seien, wollten sie wissen, und auch die Midnight Children hätten zu verschwinden. Wer das war? Perser.

N., eine befreundete Buchhändlerin in einer Hannoverschen Buchhandlung, die mir das erzählt, sagte sie habe erst lachen müssen, sie hätte das nicht wahrhaben wollen. Rückblickend schauderte ihr. Wenn sie Mut und Geistesgegenwart gehabt hätte, hätte sie diese Leute rausgeworfen und über Notruf die Polizei geholt, da hört der Spaß auf.

„Ich bin für eine offensive Antwort“, sagt Enzensberger am selben Tag in der taz. Jawohl. „Und wenn dem Rushdie auch nur ein Haar gekrümmt wird, dann wird es sehr teuer für den Islam.“ Halt mal, das hat es schon mal gegeben, daß eine Weltreligion sehr teuer zu stehen kam, daß einem ein Haar gekrümmt wurde. Ich mag das gar nicht denken, an was ich da denken muß, will den Vergleich verdrängen, der sich mir da aufdrängt, das hat Enzensberger nicht verdient. Und doch, als Dichter sollte er seine Worte besser, bewußter wählen. Überhaupt, was ist das für eine Sprache: “...und da möchte ich mich vielleicht direkt an diejenigen unserer Mitbürger werden, die muslimischen Glaubens sind.“ Ich weiß erst gar nicht, wen er meint; etwa die Handvoll deutscher Konvertiten zum Islam? Ach nein, der meint die Türken, unsere Türken, unsere „türkischen Mitbürger“.

Solche Worte kannten wir bisher immer aus anderen Mündern. Und wozu will er sich an unsere muslimischen Mitbürger wenden? „Wenn die Sprecher ihrer Religionen Morddrohungen äußern, wird sich die politische Lage in der BRD erheblich zuspitzen.“ Bisher gehörte es zur Perfidie der CDU vor Ausländerfeindlichkeit zu warnen und sie damit gleichzeitig zu transporiteren. Das ist ein unterschwelliger Pogromaufruf. Was um Himmels Willen haben unsere Türken damit zu tun? Sollen die sich distanzieren? Wie denn? Oft genug ging die Aufforderung zur Distanzierung der Verfolgung voraus.

Wenn es im Gefolge der Hetze gegen Rushdie zu Ausschreitungen gegen Türken hier kommt, ist es unsere Aufgabe, uns mit den Türken zu solidarisieren, so wie wir uns mit Rushdie solidarisieren. Der Islam ist eine der drei großen monotheistischen Religionen, alle drei haben miteinander gemein, daß sie Verbrechen begangen und Gutes getan haben, daß in ihrem Namen Verbrecher und Heilige gesprochen haben. Den Mordaufruf kann man nicht dem Islam in Bausch und Bogen und schon gar nicht den Türken hier anlasten.

Reed Stillwater

Läßt man dem ersten Aufwallen von Zorn, Empörung und Rachedurst über den Mordauftrag gegen den Schriftsteller Salman Rushdie kühlende Überlegungen zur allgemeinen Heuchelei folgen, dann fragt sich das so:

Schickte nicht Rumänien vor drei Jahren Killer gegen einen in Paris exilierten regimekritischen Autor? Werden nicht täglich in Mittel- und Südamerika und sonstwo Todesschwadronen gegen unliebsame Priester, Gewerkschafter und Umweltschützer in Marsch gesetzt? Hieß es nicht auch hierzulande im zivilisierten Europa noch vor kurzem „Legt um den Walter Rathenau...“, wurden nicht Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im staatlichen Auftrag abgeknallt? Wieviele Asylanten werden täglich von den westlichen Staaten ihren Henkern ausgeliefert, wieviele davon mit Qualitätsgerät „Made in Germany“ ermordet? Wieviele Menschen werden täglich von den östlichen und westlichen Geheimdiensten im Staatsinteresse eliminiert? Und weiter: Lassen sich gar soundsoviele zerstörte Existenzen und durch staatliche Macht unterbrochene Karrieren während der McCarthy-Ära in den USA und der Wackersdorfära in der BRD gegen einen gekillten Schriftsteller aufrechnen?

Das Bemerkenswerte an dem Vorgang ist doch nur, daß der Zynismus hier einmal blank daherkommt und die Paranoia schamlos öffentlich veranstaltet wird.

Das ganze zeigt, wie dünn das Eis der Zivilisation eigentlich ist und wie munter tief unten das Feuer der Barbarei brennt. (...)

Ulli Löchner, Frankfurt am Main 1