Mammutverfahren um Mord und §129a

■ Heute beginnt in Frankfurt der Prozeß um die Todesschüsse an der Startbahn West

Die Schüsse, die am Abend des 2.November 1987 zwei Polizisten töteten und drei verletzten, haben auch die einst größte Bürgerbewegung gegen ein einzelnes Großprojekt getroffen. In den ersten Wochen danach hagelte es nicht nur Hausdurchsuchungen und Vernehmungen, sondern auch Gerüchte und gegenseitige Beschuldigungen - auf die die Bundesanwaltschaft jetzt größenteils ihre Anklageschrift gegen insgesamt neun Angeklagte aufgebaut hat.

Das Gebäude C des Frankfurter Oberlandesgerichts ist mit olivgrünen Platten verkleidet. Darauf prangt der eherne Schriftzug „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. In Höhe der Inschrift, im ersten Stock, beginnt heute der Prozeß gegen neun Angeklagte. Zweien von ihnen wird vorgeworfen, am 2.November zwischen 21 und 22 Uhr, am 6.Jahrestag der Räumung des Hüttendorfes an der Startbahn West, den Polizeihauptkommissar Klaus Eichhöfer und den Polizeimeister Thorsten Schwalm erschossen - ermordet - zu haben. Sie sollen außerdem die Polizeibeamten Köhler, Täufer und Nitschke durch Schüsse verletzt haben.

Insgesamt mindestens vierzehn Schüsse haben sie, so behauptet die Bundesanwaltschaft in ihrer rund 500seitigen Anklageschrift, „abwechselnd“ aus einer Pistole der Marke Sig Saur (Munitionstyp Sellier-Ballot, Kaliber 9 mm) abgefeuert. Die Waffe - Modell P 6, Nr.M 402293 - war am nächsten Morgen in der Wohnung von Andreas Eichlers Verlobter, Ina T., in Frankfurt-Niederrad beschlagnahmt worden. Sie soll einem Zivilbeamten ein Jahr zuvor während einer Demonstration am 8.November 1986 gegen die Nuklearbetriebe in Hanau gestohlen worden sein.

Die Bundesanwälte gehen davon aus, daß sich Eichler und Hoffmann, der nach der Nacht, in der die Schüsse fielen, in die Niederlande geflohen und dort am 18.März 1988 festgenommen worden war, dazu verabredet hatten, im Widerstand gegen die Startbahn West Polizisten umzubringen. Sie schlossen dies u.a. aus einem beschlagnahmten Papier, das sie Hoffmann als „theoretischem Kopf“ der sogenannten „Gruppe Eichler“ zuschreiben. In dem Papier wird - als Frage formuliert - darüber sinniert, wie Gebiete im Raum der Startbahn „besetzt“ beziehungsweise „befreit“ werden könnten: „Ist es eventuell möglich, die Startbahn zum Kippen zu bringen, wenn wir den Kampf mit Mollis und Stahlkugeln verstärken und Bullen töten, um den politischen Preis für die Herrschenden so in die Höhe zu treiben, daß sie uns hören und neue Verhandlungen eingehen?“ Eichler belastete unter dem Druck der Ermittler Frank Hoffmann: der habe ihm die Pistole zugesteckt.

In den Tagen und Wochen nach dem 2.November 1986 grassierten Gerüchte und Angst in der Startbahnbewegung. Da plauderten entsetzte Autonome ihre Schlachtordnungen und -strategien aus, ihre generalstabsmäßige Planung des Sonntagsspaziergangs. Gestandene Kämpfer gaben Gehörtes weiter, als hätten sie es selbst gesehen. In dieser Atmosphäre der allgemeinen Verunsicherung kristallisierten die Ermittlungsbehörden allmählich und ohne Zeitdruck die sogenannte „Gruppe Eichler“ heraus und fügten ihr Facette um Facette hinzu. Die ausgemachte Gruppe wuchs auf neun Personen an. Die hatten laut Anklage zwar nicht alle geschossen, die Schüsse auch nicht direkt geplant, waren aber dennoch Teil einer „Vereinigung“.

Diese „Vereinigung“ soll vom Juni 1986 - kurz nach Tschernobyl - bis zum Oktober 1987 im Rhein-Main-Gebiet und im bayerischen Wackersdorf 13 Anschläge und andere Straftaten verübt haben. Dazu gehören vier Anschläge auf Strommasten und sieben Brandanschläge auf am Startbahnbau beteiligte Firmen, eine Bank in Frankfurt-Bornheim und auf Elektrizitätsgesellschaften. Der Sachschaden betrug laut Bundesanwaltschaft rund 2,8 Millionen Mark. Außerdem sollen die Angeklagten am 5.April 1987 in einem Wahllokal in Mörfelden-Walldorf eine Urne gestohlen und vor der Tür verbrannt haben.

Dies alles taten - nach Meinung der Anklage - die sechs Männer und drei Frauen, die zwischen Mitte zwanzig und Ende vierzig Jahre alt sind, bis zum 1.Januar 1987 als „kriminelle Vereinigung“. Danach wurden sie per Gesetzesänderung (die Verschärfung und Ausweitung des Paragraphen 129a) zu einer „terroristischen Vereinigung“. Allein das kann die Angeklagten bis zu zehn Jahren hinter Gitter bringen. Macht sich das Gericht außerdem die These zu eigen, daß einer der beiden Hauptangeklagten als Rädelsführer fungierte, sind im Gesetz bis zu 15 Jahren Haft vorgesehen.

Der „129a“ war 1976 gegen heftige Proteste verabschiedet worden und umfaßte bis 1987 vor allem Mord, Totschlag, Völkermord, Entführungen und deren Planung. Dabei war eine direkte Tatbeteiligung nicht maßgeblich. Dann wurde er um den Straftatbestand Anschläge auf Verkehrswege, „fremdes technisches Arbeitsmittel“ sowie die Wasser- und Stromversorgung erweitert.

Daß die Angeklagten alle ihnen zur Last gelegten Straftaten - einschließlich der tödlichen Schüsse - kontinuierlich gemeinsam geplant und ausgeführt hätten, wird die Bundesanwaltschaft gar nicht erst zu beweisen versuchen. Nach ihrer Konstruktion gliedert sich die Anklage in den Vorwurf des Mordes und Mordversuches gegen Eichler und Hoffmann und den der Rädelsführerschaft von Eichler, der seinerseits drei „Hauptmitglieder“ und vier „einfache Mitglieder“ um sich geschart habe. Dabei - um es noch komplizierter zu machen - sind die einen schon vor dem 1.Januar 1987 „Terroristen“, andere sind bis dahin noch „Kriminelle“, die die „terroristische Vereinigung“ unterstützen. Sie werden erst ab 1.Januar 1987 - durch die Erweiterung des „129a“ - zu „Terroristen“.

Der 5.Senat des Oberlandesgerichts („Staatsschutzsenat“) wird sich unter Vorsitz von Richter Erich Schieferstein in dem vermutlich mindestens ein Jahr dauernden Verfahren durch einen Wust von widersprüchlichsten Aussagen der Angeklagten und anderer hindurcharbeiten müssen. Ein ganzes Aussagenpaket ergab sich aus dem, was als „Beschuldigte“ vorgeladene StartbahngegnerInnen berichteten, ehe die Vorwürfe gegen sie fallengelassen wurden. Achtzehn namhafte StrafverteidigerInnen werden im Saal Platz nehmen, der für rund 100.000 Mark umgebaut und mit einer Trennscheibe versehen wurde. Die Öffentlichkeit hat vor Eintritt mit hochnotpeinlichen Kontrollen zu rechnen.

Ob alle Angeklagten außer Frank Hoffmann Aussagen gemacht haben, oder ob zwei von ihnen schwiegen beziehungsweise nur sich selbst belasteten, darüber wird in der Szene gestritten. Die Solidarität der Startbahnbewegung mit ihren Opfern ist jedenfalls gebrochen. Eichler zumindest kann sich ihrer gar nicht mehr erfreuen. Er gilt als labil und unzuverlässig, er habe Aussagen gemacht und diese nicht komplett wieder zurückgenommen. Er wolle, ließen Autonome vorwurfsvoll wissen, nur die Schuld von sich auf Frank Hoffmann „verschieben“. Unter diesen Umständen könne er nicht damit rechnen, unterstützt zu werden und schon gar nicht hoffen, daß vielleicht Leute, die den wahren Tathergang kennen, Aussagen machen, die ihn entlasten - um den Preis, sich selbst oder Dritte in Gefahr zu bringen.

Im Vorfeld des Prozesses klingt noch einmal autonome Selbstkritik an bewaffneter Militanz bei Demonstrationen an. Eichler sei nicht der Unschuldsengel, der am Tag seiner Verhaftung ahnungslos „vom Himmel gefallen“ sei, er habe „seine Geschichte“ mit der Startbahnbewegung: „Er steht, wie viele andere, für die Tendenz, (zu zögernd) geforderte Auseinandersetzungen um kontroverse Vorstellungen in der Herangehensweise zu boykottieren“, heißt es da verklausuliert in einem Beitrag, der im 'Arbeiterkampf‘ erschien.

Einer der vielen Dreh- und Angelpunkte des Verfahrens werden die üppigen Aussagen sein, die der Angeklagte Michael K. und der damals als Beschuldigter vorgeladene Baldur 0. bei ihren Vernehmungen gemacht haben. Michael K. ist in der Frankfurter Szene seit langem kein Unbekannter. Er kam von Berlin an den Main, nachdem er Anfang der 70er Jahre durch einen Plenumsbeschluß aus dem in Kreuzberg besetzten Georg -von-Rauch-Haus geflogen war. Er stand damals im Verdacht, mit der politischen Polizei zusammenzuarbeiten. In Frankfurt machte er sich immer wieder als Provokateur bemerkbar, sei es bei der Räumung eines Jugendhauses, sei es auf Demonstrationen. Er erwarb sich dann den Spitznamen „Öko -Mike“ und arbeitete im „Umwelt-Laden“. Um seinen Abgang dort rankten sich Gerüchte (Hintergrund: der leidige Streit ums Geld).

In der Startbahnbewegung tat er sich durch große Worte sowie bei Aktionen hervor. Am 10.Oktober 1986 wurde er zusammen mit Andreas Eichler auf der Rückreise aus Frankreich an der bundesdeutschen Grenze bei Kehl festgenommen. Die beiden sollen Leuchtmunition im Gepäck gehabt haben. Nach umfangreichen Aussagen war er damals schnell wieder auf freien Fuß gesetzt worden.

Heide Platen