„Aus innerer Überzeugung der Industrie“

■ Zum Verhältnis Berliner Wirtschaft und Rot-Grün / Interview mit Dr. Günter Braun, dem Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer zu Berlin / Große Differenzen zwischen Alternativer Liste und IHK / Konkurrenzfähigkeit der Stadt muß für die Industrie erhalten bleiben

taz: Was war denn an dem Gespräch der Industrie- und Handelskammer mit der AL in der letzten Woche so schlimm, daß Sie danach gleich in einer Presseerklärung die erheblichen Differenzen zur AL deutlich machen mußten?

Dr. Braun: Die IHK kann für sich in Anspruch nehmen, daß sie sich in allen Verlautbarungen nach der Abgeordnetenhauswahl bemüht hat, auch im unternehmerischen Lager vor übereilten Urteilen zu warnen. Ich mache gar keinen Hehl daraus, daß in der Unternehmerschaft Besorgnis über eine rot-grüne Koalition existiert. Aber die Unternehmerschaft spricht sich in dieser Phase der Urteilsbildung der Parteien nicht für eine bestimmte politische Gruppierung aus. Sie wird derjenigen politischen Gruppierung den Vorzug geben, die am ehesten geeignet ist, stabile Rahmenbedingungen, Glaubwürdigkeit und Kontinuität in der Politik zu gewährleisten. Vor dem Hintergund dessen mag es nicht ganz so überraschend sein, daß in dem Gespräch zwischen der AL und unserer Kammer erhebliche Meinungsverschiedenheiten erkennbar geworden sind. Diese betreffen vor allem die Berlinförderung, die Gewerbesteuer und Beschäftigungsprogramme. Ich bin überzeugt, daß Meinungsverschiedenheiten z.B. auch über den Flächennutzungsplan deutlich geworden wären, wenn wir noch Zeit gehabt hätten, darüber zu sprechen. Insgesamt vier ganz wichtige Punkte für die Unternehmerschaft in dieser Stadt. Neben vielen anderen.

Man weiß ja aufgrund der längeren Geschichte des Berlinförderungsgesetzes, daß es eigentlich nicht die Ergebnisse gebracht hat, die man - zumindest auf der politischen Seite - immer erwartet hat. Sie kennen vermutlich auch die jüngsten Gutachten zum Berlinförderungsgesetz, die noch unter Verschluß gehalten werden und die alle zu disaströsen Ergebnissen führen. Muß man das Gesetz nicht reformieren? Was spricht gegen die von der AL vorgetragenen Überlegungen, das Gesetz nach ökologischen und sozialen Gesichtspunkten zu verändern?

Ich gebe ohne weiteres zu: Wenn man die Berlinförderung heute noch einmal auf einem Reißbrett entwerfen könnte, sähe sie in verschiedenen Punkten etwas anders aus. Der Unterschied zwischen AL und uns besteht darin, daß die AL behauptet, die Berlinförderung müßte fundamental anders aussehen. Aus unserer Sicht brauchen wir nur einige Veränderungen, um sie alles in allem zu einem optimalen Instrument zu machen. Ich fürchte, die AL verkennt darüber hinaus die psychologische Wirkung der Erklärungen, die sie zur Berlinförderung abgibt. Was soll ein potentieller Investor machen mit der Aussage einer Partei, die sich an der Regierung beteiligen möchte, daß die Berlinförderung von insgesamt 9 Milliarden in einem ersten Schritt um 3 Milliarden reduziert werden soll? Eine solche Aussage verstößt gegen das Gebot der Sicherheit der Rahmenbedingungen. Ich behaupte darüber hinaus, wenn die Berlinförderung um 3 Milliarden gekürzt wird, dann wird ein Teil der Berliner Wirtschaft innerhalb kurzer Zeit nicht mehr wettbewerbsfähig sein. Das Ergebnis davon wäre der Verlust von Arbeitsplätzen, Ausfälle von Steuern, die die AL braucht und haben möchte, um sie an anderer Stelle für strukturpolitische Zwecke einzusetzen.

Kürzung um 800 Millionen

war schon zuviel

Besteht außer der quantitativen Differenz auch eine qualitative Differenz zwischen den Kürzungen der Berlinförderung durch die CDU um 800 Millionen und der AL mit ihrer Kürzungsforderung von 3 Milliarden? Wo würden Sie die Grenze ansetzen?

Mit Sicherheit nicht bei 800 Millionen, weil sie nach Darstellung der Industrie- und Handelskammer wesentlich zu hoch gewesen ist. Das war eine Fehlentscheidung von Bundesregierung und Bundestag. Ich bin noch nicht sicher, wie sich diese Kürzungen zukünftig auswirken werden. Alle diese Kürzungen treten ja erst zum 1. Januar 1990 in Kraft. Wenn die von uns befürchteten negativen Wirkungen eintreten, dann haben wir die verbindliche Zusage der Politik für eine Rückgängigmachung dieser Senkungen.

Welche Veränderungen der Berlinförderung würden Sie denn für sinnvoll halten?

Ich habe es für falsch gehalten, daß die Investitionszulage für Forschung und Entwicklung reduziert worden ist. Investitionen für die Forschung und Entwicklung sind für die Stadt lebensnotwendig. Zweitens halte ich eine vorsichtige Förderung von überregionalen produktionsnahen Dienstleistungen in dieser Stadt für sinnvoll. Sie sind bisher zu wenig hier angesiedelt. Aber wir würden mit solchen Wünschen erst in der nächsten Legislaturperiode des Bundestages in Erscheinung treten. Wir halten es einfach für unrealistisch, jetzt schon wieder in Bonn mit Forderungen zum Berlinförderungsgesetz aufzuwarten. Von den Vorstellungen der AL zur Berlinförderung scheint mir aber auch die Reduzierung beziehungsweise Streichung der Abnehmerpräferenz extrem problematisch. Außerdem glaube ich, daß sie bezüglich der Herstellerpräferenzen zu weit gehen wollen, immer mit dem Ziel, die flachen Produktionen zu beseitigen. In Wirklichkeit sind wir auf diese flachen Produktionen angewiesen, um Ungelernte beschäftigen zu können. Und für ganz problematisch halte ich die Ablösung des Anspruchsprinzips durch das Antragsprinzip. Das ist eine der wesentlichen Stärken der Berlinförderung, daß der potentielle Investor weiß, er hat einen Rechtsanspruch und ist nicht abhängig von der Entscheidung irgendwelcher Gremien und schon gar nicht irgendwelcher Kiezgremien.

Die IHK sagt, daß die Beschäftigungsentwicklung in den letzten Jahren in Berlin deutlich positiver geworden ist, als es noch Anfang der Achtziger war. Nun sind die 35.000 neuen Arbeitsplätze zum größten Teil im Dienstleistungssektor entstanden, doch viele davon sind Teilzeitarbeitsplätze mit keinem allzu hohen Entlohnungsniveau. Widerspricht sich das nicht?

Ich meine nicht. Jedenfalls nicht unserer Kernaussage, daß die Arbeitslosigkeit in Berlin geringer wäre, wenn die vorhandenen Arbeitsplätze in vollem Umfang von Berlinern hätten besetzt werden können. Dies war jedoch nicht der Fall, weil vor allem Facharbeiter nicht in genügender Zahl vorhanden waren, um die angebotenen Arbeitsplätze zu besetzen.

Beschäftigungsprogramme

bringen nicht viel

Das ist auch unser Hauptargument gegen das Beschäftigungsprogramm - etwas, das sich nicht nur gegen die AL richtet, sondern auch gegen die Sozialdemokraten, die auch ein Beschäftigungsprogramm wollen. Warum sind wir dagegen? Erstens haben wir alle vielfache Erfahrungen sammeln können mit Beschäftigungsprogrammen. Es gibt nicht ein einziges Beschäftigungsprogramm, daß auch nur mittelfristig positive Beschäftigungseffekte gehabt hätte. Kurzfristig ja, aber nicht mittelfristig, und immer nur um den Preis einer größeren Neuverschuldung des Staates.

Zweitens: Ich behaupte aber auch, daß wir die Haushaltsmittel für diese Art von Programm nicht hätten. Entscheidend ist: Wenn wir keine schlechten Erfahrungen mit solchen Programmen gesammelt hätten und wenn die Mittel da wären, dann ließe sich trotzdem ein Beschäftigungsprogramm, so wie es von der AL und den Sozialdemokraten vorgeschlagen wird, immer noch nicht durchführen. Es fehlen einfach die Fachkräfte dafür.

Das war ein weiterer wichtiger Punkt in dem Gespräch zwischen der AL und uns. Wir haben darauf hingewiesen, daß ein Beschäftigungsprogramm größtenteils nur mit Facharbeitern abgewickelt werden kann, die aus Westdeutschland gewonnen werden müssen - wenn es sich nicht gerade um Gartenarbeit handelt. Das Beschäftigungsprogramm würde also nur in einem geringen Umfang zu einer Minderung der Arbeitslosigkeit in der Stadt führen.

Man kann ja auch so argumentieren: Weil die Industriestruktur hier so schlecht ist, weil die verlängerten Werkbankstrukturen dominieren, sind die Ausbildungsverhältnisse in den Betrieben entsprechend schlecht. Entsprechend gering sind die Qualifikationen, die man hier erwerben kann. Deshalb können alle auf Expansion ausgerichteten Maßnahmen nicht auf ein ausgebildetes breites Reservoir an Arbeitskräften zurückgreifen, sondern bedürfen offensichtlich einer höheren Qualifikation. Und das ist ja auch Bestandteil des AL-Programms. Die haben doch gar kein explizites Beschäftigungsprogramm, sondern heben stark auf Qualifizierung ab, mit strukturpolitischen Einsprengseln.

Es kann gar nicht die Rede davon sein, daß die Industriestruktur hier so schlecht ist. Sie mag verbesserungsbedürftig sein. In dieser Hinsicht sind aber schon in den vergangenen Jahren bereits gute Fortschritte erzielt worden. Auch die Ausbildungsleistung der Unternehmen war und ist respektabel. Zum Werkbanksyndrom: In dem Maße, in dem die Politik in den letzten Jahren auf Förderung mittlerer und kleiner Unternehmen gesetzt hat, hat sich dieses Problem ein wenig zurückgebildet. Werkbänke kann es immer nur geben in dem Verhältnis zu großen Unternehmen in Westdeutschland. Außerdem würde ich immer sagen, daß die Werkbankproduktion auch eine wichtige Produktion ist, unter Fertigungsaspekten ebenso wie aus Gründen der Beschäftigung.

Ist es nicht so, daß aufgrund dieser Struktur die Konzernentscheidungen, die die Umstrukturierung der Produktion betreffen, sehr schnell auf Berlin durchschlagen? Wie schätzen Sie denn den Abbau von Arbeitsplätzen bei SEL oder Siemens ein? Ist das nicht eine Quittung für verfehlte Wirtschaftspolitik?

Ihre Behauptung träfe nur zu, wenn Sie den Nachweis führen könnten, daß Siemens oder SEL - oder wer auch immer in Berlin - Personal einschränkt, hier stärker zurückfährt als an anderen Plätzen. Siemens hat immer großen Wert darauf gelegt, daß der Siemens-Standort Berlin überproportional an den Investitionen von Siemens in der Bundesrepublik insgesamt beteiligt gewesen ist.

Siemens investiert

noch überproportional

Wenn das stimmt, dann ist es zwar zu bedauern, daß die Zahl der Arbeitsplätze und die der Arbeitskräfte hier zurückgegangen ist. Aber dann spräche auch das für die Richtigkeit meiner These, daß hier vieles geschehen ist, um die Fertigung zusätzlich zu qualifizieren und wettbewerbsfähig zu machen, auch für den europäischen Binnenmarkt.

Die AL fordert ja auch die ökologische Modernisierung der Industrie. Was halten Sie davon? Gibt es da nicht einen gemeinsamen Strang von IHK und AL?

Nur bedingt. Das Problem ist, daß die AL so tut, als wäre bis jetzt von der Industrie auf dem Gebiet des Umweltschutzes überhaupt nichts oder nur wenig getan worden. Richtig ist: Es ist viel getan worden. Ich bestreite auch nicht, daß in der Zukunft hier noch mehr getan werden muß. Was aber in der Vergangenheit getan wurde, ist aus innerer Überzeugung der Industrie geschehen. Es ist ihr nicht erbittert abgerungen worden. Die Bereitschaft wird auch zukünftig da sein, für den Umweltschutz etwas zu tun. Die Industrie wirbt lediglich um Verständnis dafür, daß der Aufwand für Umweltschutz mit Augenmaß vorgenommen werden muß. Die Produktion hier darf nicht unverhältnismäßig stärker belastet werden, als das in Frankreich, Großbritannien oder den Niederlanden der Fall ist.

Die AL will den Flächennutzungsplan wieder zugunsten von mehr Grünflächen verändern. Warum sind Sie so vehement dagegen?

Darum hat es eine jahrelange und qualvoll lange Diskussion in der Stadt gegeben und dann ist mit Verantwortungsgefühl entschieden worden. Souverän hat sich das Parlament über viele Einwände von uns hinweggesetzt. Wir sind wirklich nicht die Sieger, sondern die Besiegten beim FNP gewesen, und nun kommt eine politische Gruppierung und erklärt, daß der FNP aufgehoben werden muß und noch stärkere Anstrengungen unternommen werden müßten, Gewerbeflächen in Grün- und Wohnflächen umzuwandeln. Heute ist es in bezug auf die Gewerbeflächen schon so: Wenn ein großer, nach objektiven Kriterien interessanter Investor hier herkäme, hätten wir große Schwierigkeiten, ihm aus dem Stand Grundstücke anzubieten. Das können alle konkurrierenden Standorte in der Bundesrepublik, nur wir nicht.

Gibt es schon einen konkreten Fall?

Nein, aber ich fürchte, daß es in Zukunft so sein wird. Hinzu kommt, daß die Verknappung des Gewerbegrundstücksmarktes zu einem Anheben der Gewerbegrundstückspreise geführt hat - mit dem Ergebnis, daß sich unsere Position gegenüber konkurrierenden Gebieten verschlechtert. Außerdem sind die Wohnflächen im Rahmen des FNP so knapp bemessen, daß mit absoluter Sicherheit ein Wohnungsneubauprogramm auch nur mit 7.500 Wohnungen jährlich nicht verwirklicht werden kann.

Was ist das für eine Politik, die auf der einen Seite den Eindruck erweckt, als ob man ein solches Programm verwirklichen könnte, und auf der anderen Seite genau wissen müßte, daß die Fläche dafür nicht zur Verfügung steht?

In Brüssel ist zu hören, daß das Berlinförderungsgesetz als Subventionsprogramm den zukünftigen EG-Richtlinien nicht mehr entsprechen wird. Da wird sich doch schon bald eine sehr dramatische Frage nicht nur nach einer Novellierung, sondern sogar nach der Streichung des ganzen Gesetzes stellen. Dann wird Berlin aus den Peripherietöpfen, aus den Entwicklungsprogrammtöpfen der EG finanziert werden müssen. Machen Sie sich darüber Gedanken?

Es gibt gegenwärtig keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß die Berlinförderung oder auch nur Teile von ihr nicht EG -Vertragskonform sind - auch nicht im Hinblick auf den Binnenmarkt. Dies ist übereinstimmende Auffassung der EG -Kommission, der Bundesregierung und des Senats. Wenn Teile wider Erwarten nicht vertragskonform sein sollten, dann sind technische Anpassungen erforderlich, die aber ebenfalls nach allgemeiner Auffassung die Substanz der Berlinförderung und vor allem deren Volumen unangetastet lassen.

Interview: Kurt Hübner und Max Thomas Meh