Idylle der Stunde Null

■ Schauspiel Köln: wegen Asbest im Haus spielen „Die Troerinnen“ im „Zelt“

Wie Phönix aus der Asche sei das Kölner Schauspiel dem Asbeststaub entstiegen: dies Wort eines Kritikers der 'Frankfurter Rundschau‘ hat sich das Kölner Theater als Transparent an die Fassade gehängt. Denn das Schauspielhaus wurde im Dezember letzten Jahres wegen Asbest auf unabsehbare Zeit geschlossen. Nun wird in einem runden Zelt gespielt, das die Stadt auf Ratsbeschluß eilig hat errichten lassen. Nun kamen auch die überregionalen Kritiker mal wieder vorbei, die aus Furcht vor dem Mittelmaß das Kölner Schauspiel während der Intendanz von Klaus Pierwoß eher gemieden hatten. Und jubelten.

Das „Zelt“ eröffnete im Januar mit einer Produktion, die eigentlich in der „Werkstatt“ des Schauspielhauses - in Köln: die „Schlosserei“ - geprobt worden war, dann ins große Haus aufrückte und somit als erstes von der Asbestschließung betroffen war: Die Troerinnen von Euripides. Konventionell gelesen oder gespielt sind Die Troerinnen ein etwas langatmiges Friedens- und Klagestück: Die übriggebliebenen Frauen des Herrscherhauses von Troja beklagen ihr Unglück, bei Verlust ihrer Männer (Ausnahme: die Priesterin Kassandra), ihrer Herrschaft und ihrer Heimat in die griechische Sklaverei verschleppt zu werden. Während die Frauen noch klagen und mit Helena um ihren Schuldenteil am Krieg hadern, treffen weitere Unglücksnachrichten ein.

Dimiter Gotscheff (Regie) hat sich nicht verleiten lassen, über die Frauenschiene Friedenssolidarität einzuheimsen. Der Chor, bei Euripides ein Organ zur Verdoppelung der Klage, ist im Kölner „Zelt“ eine Gruppe von Yuppies, die in hellen Kleidern mit durchgebürsteten Mähnen ihre Verschleppung als sei es ein Abenteuerurlaub - kaum abwarten können. Das Schicksal der Töchter Hekabes, als Mätressen in die Betten griechischer sadistischer Heerführer verschleppt zu werden, begrüßen sie mit kaum noch zweideutigen Jauchzern. Auch Kassandra verdankt ihre Nervosität nicht nur ihrer seherischen Gabe. Kindgebliebene Jungfrau, aus seit Freud bekannten Gründen neurotisch geworden, hüpft sie und trommelt sich ihrem Schicksal entgegen.

Das Überraschende ist, daß die Klage der Frauen durch die ironisierende, kontrapunktische Setzung des Yuppie-Chors an Tragik gewinnt; vielleicht einfach deshalb, weil der Chor dem Zuschauer die Identifikation mit dem Leid der gebeutelten Feudalfrauen nimmt - und sie so noch einsamer stehen. Ihre verschrobene Hoffnung auf Lustgewinn per Niederlage erscheint als letzte, obskure Variante der ehemals Herrschenden, sich als unaufhebbar privilegiert zu verstehen.

Gotscheffs Theater, geschult an der Rigidität Lessings und der widersprüchlichen Dekadenz Müllers, ist nicht eigentlich kalt, aber auf spartanische Weise sportlich, das heißt gewaltsam. Jedes Requisit, das auf die Bühne kommt, erhält eine (wandelbare) Rolle: Hekabe adressiert ihren Mantel, den sie wie eine Figur vor sich hält, als Alter ego; ein trojanisches Spielzeugpferd, auf Rollen harmlos auf die Bühne gebracht, wird mit einem Stein zu Staub zertrümmert (ich muß an die Mord-Szene in Kieslowskis Kurzer Film über das Töten denken). Tatsächlich läuft dieses Theater leicht wie Kino, sobald man abschaltet; und ist extrem anstrengend, wenn man die strenge Verkettung von Symbolen versucht zu verfolgen.

Etwa zehn Zuschauer verlassen die Aufführung, was im Zelt, bei Holzböden und einem im Halbrund gebauten Zuschauerblock, einem Auftritt gleichkommt. Alle anderen harren zwei Stunden ohne Pause aus und werden, nach bravem, aber für die erzeugte Spannung erstaunlich mäßigem Applaus, im Zelt-Cafe mit Kölsch und seichter Schunkelmusik von CD belohnt.

Die Umstände des schwer subventionierten Theaters (circa 20 Millionen Mark im Jahr) selbst erscheinen abgebildet auf der Inszenierung nicht unkomisch: Während das Wiederaufbau -Theater (Baujahr 1961) zu tödlichem Staub verfällt, ist die Zeltvariante für das verwöhnte Abonnentenpublikum wie ein willkommenes Abenteuer in unglücklichen Umständen. In dem Zelt, wo nur halb so viele Leute hineinpassen wie ins nun geschlossene Haus, rückt man buchstäblich zusammen; die Stühle sind hart, das Erlebnis gesteigert. Idylle der Stunde Null.

Andererseits spürt man an Gotscheffs Inszenierung den Kompromiß, den das Zelt ihm abnötigt. Gewöhnlich bespielt der aus Bulgarien stammende Regisseur die volle Tiefe der Bühne, mit steilen, grellen Lichtern (im Sinne einer Raumarchitektur), durch die Schauspieler genutzt mit langen Gängen und Sprints. Nun drängt sich das Zuschauervolk unter dem blauen Zeltdach bis an die zu niedrig liegende Bretterbühne, der Radius der Scheinwerfer ist beschränkt. Fast wie bei Shakespeare, nur nicht mehr so lustig. Gotscheff zeigt seine Figuren als Betreiber und Opfer mächtiger Apparate, als Opfer einer langtradierten Disziplinierung. Unter den Umständen eines Wandertheaters gerät dieser Aspekt teils verloren. Das Spiel der Schauspieler wird also zu wichtig. So lernen wir an der Ausnahme auch etwas über das Theater im Haus, an das wir uns so gewöhnt haben.

Ulf Erdmann-Ziegler

Schauspiel Köln: Die Troerinnen, im „Zelt“ neben dem Schauspielhaus. Wieder bis zum 27.Februar 1989