■ Von Prognosen des Weltgeschehens und der Sicht auf das kleine Glück / Von Petra Dubilski

Achthundert Millionen Chinesen bewegen sich auf Europa zu. Über die Türkei, und Griechenland wird das gesamte Festland besetzt. Es wird grauslig gemetzelt und gemordet. Die Sowjetunion erbarmt sich und schließt sich mit den USA zusammen, um der Invasion Einhalt zu gebieten. Ein Weltkrieg bricht aus und großes Elend kommt über die Völker. Die Großmächte zeigen Einsicht und schließen Frieden. Das Goldene Zeitalter beginnt. Es dauert 730 Jahre.

Oder: Italien, Frankreich und Spanien werden kommunistische Kolonien. Die Bolschewisierung der Welt beginnt. Schon nach ein paar Jahren werden neun Zehntel der Erde von Moskau beherrscht, nachdem drei schreckliche Weltkriege, die die vorherigen in den Schatten stellen, die Welt erschütterten.

Oder: Das Ende des Kommunismus in der Sowjetunion bricht an. Die USA und die UdSSR sind als Verbündete die Hoffnung einer neuen Gesellschaft, die friedlich und weltweit zusammenarbeitet. Rotchina wird zur Demokratie, und das Christentum findet dort weite Verbreitung. Allerdings, was die Menschen nicht schaffen, schafft dann die Natur. Die Erdachse verschiebt sich, die Pole schmelzen, in Kalifornien bricht der Andreasgraben auf und zerstört Los Angeles und San Francisco und die japanischen Inseln werden zum größten Teil im Meer versinken. Dafür wird ein neues Land vor der Ostküste Amerikas auftauchen. Atlantis kommt zurück.

Furchtbare Aussichten? Keineswegs. Die Chinesen sollten eigentlich in der Zeit zwischen 1972 und 1982 kommen, hat einige Jahre davor der italienische Astrologe Mario de Sabato prophezeit. Die Herrschaft Moskaus über die Erde haben wir, laut Prognose des französischen Wahrsagers Barbault, bereits 1975 hinter uns gebracht. Und die drei schrecklichen Weltkriege fanden alle vor 1989 statt.

Sowohl die Prophezeiung von der Zusammenarbeit der USA und der Sowjetunion als auch die der Polverschiebung hat Edgar Cayce, einer der berühmtesten Hellseher seiner Zeit, bereits in den dreißiger Jahren gemacht, mehr als 50 Jahre vor der Ära Gorbatschow. Zufallstreffer oder wahre Hellsicht?

„Lies alles, was vorhergesagt wurde, davon sondere ab, was sich bereits vollzogen hat, das übrige wird noch geschehen“, soll ein gewisser Augustinus gesagt haben. Geht man von obigen Beispielen aus, hat sich das meiste überhaupt nicht ereignet. Das läßt hoffen, daß auch andere Voraussagen nicht eintreffen werden. Dennoch ließen und lassen sich Astrologen, Kartenleger, Wahrsager und Seher seit jeher nicht davon abhalten, weiterhin in die Zukunft zu schauen. In jeder Kultur, und davon auch jeweils gefärbt, gibt es zumeist düstere Prognosen über kommende Zeitalter.

Die älteste Prophezeiung über die heutige Zeit stammt aus Indien, niedergeschrieben im Visnu Purana, einem alten heiligen Text. Wir befinden uns demnach derzeit im Kali -yuga, dem Zeitalter der düsteren Göttin Kali, dem schlimmsten aller Zeitalter: „Die Herrscher werden unter dem Vorwand von Steuern und Abgaben ihre Untertanen plündern und ausrauben und das private Eigentum werden sie somit vernichten.“ Das paßt. Das paßt aber genaugenommen auch für jede andere Zeit. Prophetische Texte, sofern nicht mit Namen und Daten versehen, fallen dem Zufall der jeweiligen Interpretation anheim.

Auch die 966 Vierzeiler seiner berühmten zehn Centurien des französichen Supersehers Michel Nostradamus werden je nach Zeitgeist interpretiert. Gelebt hat der Astrologe im 16. Jahrhundert, und behauptet wird, daß er seine Prophezeiungen absichtlich verschlüsselt formuliert habe, um jeglichem Mißbrauch einen Riegel vorzuschieben. Ausschließen konnte er diesen Mißbrauch aber offenbar nicht. Wo Hineingedeutetes bezweifelt wird, werden komplizierte Berechnungen zur zeitlichen Festlegung angestellt. Namen werden als Anagramme wiedergefunden. So soll das unverständliche Wort Ripas Paris heißen, und wenn er Diktatur meint, schreibt Nostradamus Sparta. In der Cent. VIII, 77 heißt es: „Der dritte Antichrist wird bald vernichtet, sein Krieg wird siebenundzwanzig Jahre dauern. Die Häretiker tot, gefangen, im Exil. Sein menschlicher Leib wird das Wasser röten, und Erde hageln.“ Wen oder was meint er nur? Seine esoterischen Interpreten datieren diese Aussage auf unsere heutige Zeit, der Antichrist kommt immer aus dem Osten, er ist entweder Araber oder Slawe. Damit sind sie sich wenigstens mit Ronald Reagan einig. Ein kleines Hintertürchen lassen sich die Nostradamus-Kommentatoren lieber doch offen: „Nostradamus kann man nur verstehen, wenn die Ereignisse schon eingetreten sind. Dann erscheint auf einmal klar, was vorher dunkel war.“

Konkreter wird da schon der Seher von Vorarlberg, ein Bauer aus der Bregenzer Gegend, der im Jahre 1922 Furchtbares für die Zukunft zu sehen glaubte: „Politische Revolten, in deren Verlauf viele eingesperrt werden - Die Rheingebiete werden durch Flugzeuge und eindringende Heere zerstört - Marseille wird in einen Abgrund versinken, der sich um die Stadt herum gebildet hat - Drei Tage und drei Nächte lang Dunkelheit. Sie beginnt mit einem fürchterlichen Donner und Erdbeben. Schwefeldämpfe und Gestank erfüllen die Luft. Die Erde liegt verlassen da wie ein riesiger Friedhof.“ Mit neuem Schrecken erfüllen, kann eine solche Prophezeiung heutzutage niemanden mehr. Man muß kein Hellseher sein, um sich die Gefahren einer atomaren Bedrohung auszumalen.

Nur Schreckliches scheinen die Hellsichtigen zu sehen. Dunkel ist jedes Zeitalter, im Rückblick von zeitgenössischen Historikern und in der Vorschau von erleuchteten Gestalten betrachtet. Lebens- und Liebenswertes der Gegenwart wird offenbar nicht wahrgenommen. Oder ist die Gegenwart selbst so furchtbar, daß der Schrecken in die Zukunft projiziert wird? Der Konfrontation mit dem Hier und Jetzt aus dem Wege gehen, benennen das die Psychologen ebenso wie die Gurus. Dennoch, was es an rationalen wie an irrationalen Ängsten gibt, wurde in sämtlichen Prophezeiungen aufgezeichnet. Und nicht anders als die „wissenschaftlich“ erstellten Prognosen treten die Dinge ein - oder auch nicht. Ob zum Glück oder bedauerlicherweise hängt jeweils vom prognostizierten Sujet ab.

Glücklich sind nur die - mehr oder weniger -, die sich um die Zukunft des Weltengeschehens überhaupt nicht scheren, sondern statt dessen ihr ganz privates Glück im Auge haben. Liebe, Geld und Gesundheit sind die drei Bereiche, die von den Zeitungsastrologen fast ausschließlich angesprochen werden. Nun kann man der täglichen Horoskop-Lektüre vertrauen oder auch nicht. Nach eigenen Angaben glauben die meisten Zeitgenossen ohnehin nicht daran. Lesen tun sie es trotzdem. Für ganz Raffinierte gibt es auch andere Möglichkeiten, das individuelle Schicksal herauszufinden.

Zu Zeiten als Frauen noch sehr darauf erpicht waren zu heiraten - möglicherweise läßt sich dies auch auf Beziehungswünsche übertragen - gab es eine Vielzahl von Tips, wie man erfährt, ob der Angebetete anbeißt oder nicht. Eine besonders reizvolle Methode: „Kaufen Sie an drei verschiedenen Orten drei kleine Schlüssel, binden Sie diese vor dem Schlafengehen mit Ihrem Strumpfband (vielleicht tut's auch eine Strumpfhose) zusammen, stecken Sie sie mit einem kleinen flachen Pfannkuchen, auf den Sie den Anfangsbuchstaben des Namens Ihres Herzallerliebsten geritzt haben, in ihren linken Handschuh; tragen Sie dies an Ihrem Busen, wenn Sie sich schlafen legen; wenn Sie jetzt von dem Mann träumen, dann hat er angebissen.“ Voila!

Weniger kompliziert ist die Prognose mit Teeblättern. Beim gemütlichen Beisammensein läßt sich auf diese Art gleich Wissenswertes herausfinden. Voraussetzung ist natürlich, daß die altmodische Zubereitung ohne Filter und Teebeutel angewendet wird. Auf welche Art die Teeblätter in der fast leeren Tasse schwimmen, läßt tiefe Rückschlüsse ziehen. Wer lieber Kaffee trinkt, kann es auch mit Kaffeesatz probieren. Sehen Sie in dem Rückstand die Alpen? Gut, das ist ein Zeichen für hohe Bestrebungen. Wenn Sie darin noch einen Adler zu erkennen glauben, dann sind diese Bestrebungen auch noch von Erfolg gekrönt.

Für unstete Kopfarbeiter, die sich mit der meditativen Ruhe des I-Ging, des chinesischen Schafgarbenorakels, oder mit der komplizierten Auslegung der Tarot-Karten nicht befassen mögen, gibt es auch die Möglichkeit des Fremdwörterbuch -Orakels: Man stelle eine Frage, schlage willkürlich eine Seite dieses Buches auf, weise blind auf eine Stelle dieser Seite und prompt erhält man die Antwort.

Sinnvoller ist es jedoch, die Gegenwart so zu gestalten, daß die Zukunft im eigenen Bewußtsein definiert ist. Das ist allerdings eine Prognosemethode, die ungleich schwieriger zu vollbringen ist als Teetassen-Schau und astrologische Berechnungen. Aber wer in die Zukunft sehen mag, der sehe eben. Und stolpere über die Gegenwart.