Die Prager Politik bleibt surreal

■ Die Prozesse gegen Vaclav Havel und seine Mitstreiter deuten auf Verunsicherung der Führung

Am Montag noch übernahm das Parteiblatt 'Rude Pravo‘ eine Kritik aus der sowjetischen Zeitung 'Sowjetskaja Rossija‘ am Einmarsch von 1968. Am Dienstag verurteilte ein Gericht den Dramatiker Vaclav Havel zu neun Monaten Gefängnis, am Mittwoch folgten die Urteile gegen sieben Regimekritiker. Weitere Prozesse stehen an. Politische Wechselbäder in Prag: Eingeklemmt zwischen den Reformern aus Moskau, Warschau und Budapest, schlägt die Partei wild um sich. Wie lange noch?

Moc Bezmocnych - die Macht der Ohnmächtigen - so hatte Vaclav Havel einst die Position wie die Wirkungsmöglichkeiten jener kleinen Gruppen von Bürgerrechtlern beschrieben, die sich auf nichts stützen konnten als ihr Gefühl für Verantwortung und ihren Anspruch, „in der Wahrheit zu leben“. Das war 1977. Zehn Jahre später trug der Arbeiter Tomas Hradilek bei der 1.Mai-Demo im mährischen Olomouc ein Plakat mit der Aufschrift: „Die Charta fordert Euch auf, Zivilcourage zu zeigen“. Scheinbar war alles stillgestellt: in der Gesellschaft zwar mißvergnügte, aber konformistische Ruhe; die Leute der Charta zuverlässig isoliert.

Nietzsche hat einmal geschrieben, neue Ideen kämen auf Taubenfüßen. Wenn man genauer hinhörte und hinsah, entdeckte man eine neue Untergrundzeitschrift nach der anderen halböffentlich geäußerte Proteste gegen die Kulturpolitik bei Schauspielern und Künstlern, Theatergruppen und Bands am Rande der Legalität, Diskussionszirkel an den Unis. Dann das erste Donnern. Die Massenpetition der Katholiken für die Trennung von Kirche und Staat, die Demonstration der Gläubigen in Bratislava. Schließlich der Blitz, der nicht aus heiterem Himmel kam. 10.000 auf dem Wenzelsplatz am 21.8.1989. Von dort über den Verfassungstag im Oktober und den Menschenrechtstag im Dezember reicht die Kette der Manifestationen bis zu den beispiellosen fünftägigen Auseinandersetzungen im Januar, anläßlich der zwanzigjährigen Wiederkehr der Selbstverbrennung Jan Palachs.

Die Allmächtigen haben begonnen, die Ohnmächtigen zu fürchten. Denn nichts anderes als Furcht führte dem Sekretär die Feder, der am Tage des Havel-Prozesses in der 'Rude Pravo‘ namens des Politbüros der KP erklärte, bei den Aktionen der Angeklagten handle es sich um gefährliche Unternehmungen, Störfaktoren im Demokratisierungsprozeß, die resolut bekämpft werden müßten. So geschah es. Mit Gefängnisstrafen ohne Bewährung für Havel, Jana Petrova und Ota Veverka, mit horrenden Geldstrafen und Gefängnisstrafen zur Bewährung für fünf andere Demonstrationsteilnehmer.

Im Gefängnis sind weiterhin (bereits seit Oktober) Hana Marvanova und Tomas Dvorak von der Unabhängigen Friedensinitiative, denen vorgeworfen wird, die Demonstration am 21.8. organisiert zu haben. Ebenfalls seit Oktober in Haft sind der Kunsthistoriker Ivan Jirous, Petr Cibulka und jetzt neu die Schauspielerin Eva Vidlarova vom Brünner Theater am Schnürchen, erstere, weil sie die Behörden wegen des Todes von Pavel Wonka im Gefängnis angeklagt hatten, letztere, weil sie gegen die Inhaftierung Cibulkas protestierte. Andere sind nicht mehr im Gefängnis, warten aber auf die Prozesse, insgesamt - so haben die Behörden mitgeteilt - laufen 55 Verfahren.

Verteidigung

des Status quo

Warum schlägt die Parteiführung so blindlings um sich, warum nimmt sie in Kauf, mit dem transsylvanischen Vampir in einem Atemzug genannt zu werden? Die Antwort hierauf fällt nicht allzu schwer. Vergeblich hatte die Machtoligarchie der CSSR auf ein rasches Scheitern der sowjetischen Perestroika gehofft. Strougal und seine Freunde, die nach der Invasion 1968 auf die Seite der Normalisierer übergegangen waren, versuchten jetzt einen vorsichtigen Kurs gesellschaftlicher Verständigung, eine Annäherung an die Verfemten des Prager Frühlings. Ihre Zwangspensionierung hat diesen Weg abgeschnitten. Was bleibt, ist die Verteidigung des Status Quo. Aber ist das so einfach? Die Sowjetunion hat mehrfach zu verstehen gegeben, daß sie nicht zu intervenieren gedenkt, so daß sich Ärger und Verachtung der sowjetischen Emissäre leicht ertragen lassen. Viel schwerer zu bewältigen ist die offen zutage tretende ökonomische Krise. Entgegen westlichen Analytikern, die den Machthabern in der CSSR stets zugetraut haben, mit gefüllten Regalen politische Abstinenz zu erkaufen, ist gerade hierzu die Führung nicht mehr in der Lage. Während der traditionell hochstehende Maschinenbau bei sich verschlechternder Qualität immer mehr Kapital verschlingt, fehlen die Mittel zur Modernisierung der Konsumgüterindustrie, erhöht sich der Kaufkraftüberhang und damit die schleichende Inflation. Die Reformer von 1968 hatten mit der betrieblichen Selbstverwaltung und Schritten zur demokratischen Kontrolle der Wirtschaftspolitik die Arbeiter motiviert. Jetzt sinkt die Arbeitsmoral ins Aschgraue, während die second economy aufblüht.

Es gehört zum Herrschaftswissen der Machthaber, daß sich einer apathischen und entpolitisierten Gesellschaft die Lasten der Krise relativ leicht aufbürden lassen. Das Umsichschlagen der jetzigen Führung hat gerade darin seinen Grund, daß sich gesellschaftliche Bedürfnisse wieder frei und furchtlos artikulieren, ja daß sie das Terrain der gesellschaftlichen Selbstverteidigung zu überschreiten beginnen. Mögen die im letzten Jahr entstandenen neuen Gruppen, wie z.B. die Unabhängige Friedensinitiative oder die Böhmischen Kinder auch nur wenige Mitglieder zählen, sie drücken in ihrer Sprache wie in ihrem Gestus die Gefühle einer Generation aus, auf der nicht mehr der Alp der Niederlage von 1968 lastet. Der Ton ist zum Teil brachial, wie im Brief der 271 Intellektuellen, gezeichnet von Ivan Jirous und Jiri Tichy, an die Staatsorgane anläßlich des mysteriösen Todes von Pavel Wonka, der im Frühjahr 1988 im Gefängnis starb (sie entschuldigen sich damit, daß man über ein Blutbad nichts Intelligentes ermitteln könne). Teils folgt er den Spuren des tschechischen Surrealismus, wie im Gründungsaufruf der Böhmischen Kinder. Sie feiern die Tradition der guten böhmischen Könige und verteidigen - als Monarchisten posierend - die Erde und die zukünftigen Generationen gegenüber der Zerstörungswut der Machtelite.

Dammbruch für

neue Koalitionen

Es ist jetzt sicher ein großes Verdienst der Charta 77, daß zwischen den Generationen jetzt keine Kluft aufreißt. Natürlich gibt es Konflikte zwischen denen, die 1968 noch Kinder waren, und denen, für die dieses Jahr zum entscheidenden Lebensdatum wurde. Nichts wäre aber falscher, als den „Politikern“ der Charta 77 die „Antipolitiker“ einer subkulturell geprägten Generation gegenüberzustellen. Ivan Jirous zum Beispiel, einer der großen Promotoren der Untergrundkultur, ist ein typischer Vertreter der 68er -Generation. Der 27jährige Sasa Vondra, Mitherausgeber der „subkulturellen“ 'Revolver-Revue‘, ist gerade zu einem der neuen Sprecher der Charta gewählt worden. Der künstlerische und literarische Untergrund wendet sich der Politik zu. Auch diejenigen, die den Debatten über eine künftige freie Staatsform, wie sie in der Vereinigung für bürgerliche Freiheiten geführt werden, wenig abgewinnen können, trotzen dennoch auf dem Wenzelsplatz der Miliz als Bürger. Sie singen die Nationalhymne und skandieren „Svoboda“.

Halten wir uns diesen Prozeß vor Augen, so wird klar, daß die Solidarisierung mehrerer tausend Künstler und Wissenschaftler mit Vaclav Havel für die Machtelite zu einer Niederlage von kaum absehbaren Folgen zu werden droht. Jetzt kann der Familienvater, der mit Rücksicht auf das Studium seiner Kinder nach 1968 die sowjetische Invasion billigte, jetzt kann die Schauspielerin, die ihre Überzeugungen ihrer Karriere opferte, wieder hoffen, daß es für freie, autonome Entscheidungen nicht zu spät ist. Ein Dammbruch, der Raum für Aussöhnungen schafft, für neue Koalitionen, für eine Vielfalt neuer gesellschaftlicher Vereinigungsformen - nicht nur im Milieu der Intellektuellen. Es gibt Anzeichen, daß einige Politbüromitglieder, die als früh gereifte Neokonservative ins Amt gehievt wurden, die Bedeutung dieses Dammbruchs erkennen. Ein wohl verstandener Opportunismus könnte den einen oder anderen von ihnen dazu bringen, sich aus der Festung abzuseilen. Die neu entstandenen Klubs von Gorbatschow-Fans würden mit ausgebreitetem Sprungtuch auf sie warten.

Aber soweit ist es noch nicht. Noch hagelt es Geld- und Gefängnisstrafen, noch wird Angst und Schrecken verbreitet, werden Existenzen vernichtet. In Krakau haben 2.000 Demonstranten sich mit den Verfolgten in der CSSR solidarisiert. Auch bei uns wird protestiert pflichtschuldig, mit einer Resolution, auf einem Stück Papier.

Christian Semler