Berlin braucht einen mütterlichen Glatzkopf

■ „Die metaphysische Komponente von Momper: Er ist ein Willy, kein Brandt, aber den Willy hat er. Aus Momper kann 'ne ganz große Nummer werden“ / Ein Gespräch mit Wolfgang Neuss über den unerwarteten Wahlausgang in Berlin

Wolfgang Neuss: Also die erste Frage stelle ich mir mal selbst: Haste mit einem solchen Wahlausgang gerechnet? Nicht mal im kühnsten Haschisch-Traum hätte ich mir eingebildet, daß wir hier in Berlin eine... Ganz zuletzt, habe ich gedacht, kriegen wir hier 'ne moderne Regierung. Erst kommt die Pfalz dran, Bayern, Schleswig-Holstein, Hessen nochmal richtig und NRW und ganz zum Schluß unsere abgelegene Insel hier.

taz: Und warum kam es so plötzlich in Berlin. Hast du eine Erklärung?

Die 150.000 Berliner Wähler, die AL gewählt haben, das ist doch so etwas wie ein Notschrei der großen Parteien nach dem Nachwuchs, nach Qualität, nach Jugend. Und das soll sich die AL als allererstes merken: Sie wird in die Regierung genommen - von der Berliner Bevölkerung und nicht von Momper - weil wir hier Jugend brauchen, und sie soll sich dafür mal fröhlich zur Verfügung stellen. Nicht so verkniffen wie dieses Führungsorgan Harald Wolf mit seinen Bemerkungen zur Gewalt. Diese drei Essentials, das muß man doch mal laut sagen, sind doch nun geradezu lächerlich. Dieses Winden um die Gewalt, als ob sie Magenkrämpfe hätten, dabei ist in der ganzen AL keiner, der auch nur Ohrfeigen austeilt.

Aber das staatliche Gewaltmonopol gilt nun mal als eine essentielle Angelegenheit.

Es gibt doch viel bessere Essentials. „Autofreie Stadt Berlin“ fordert die AL. „Machen wir nicht“ sagt Momper. Kann er auch nicht machen, denn die SPD ist die Autopartei. Ja aber die Autopartei ist doch die CDU - sie ist es abwechselnd mit der SPD, die die IG Metall im Hintergrund hat. Also autofreies Berlin läuft mit Momper nicht. Was machen wir denn da? Sollen wir jetzt Kunzelmann/Teufel -Essentials entwerfen, experimentelle Vorschläge machen? Genau das wird jetzt gebraucht in der Stadt. Magnus Enzensberger müßte dringend wieder in die Fregestraße ziehen, Grass wird gebraucht - wo sind die Leute denn? Alle sagen: Na ja, laß se mal Rot-Grün machen, wir warten mal ab, ob es ein Erfolg wird. Das ist falsch, sie sollten gleich mitmachen, sich einmischen. Es geht nicht um „Erfolg“, es geht darum, hier eine normale solide Vorreiterrolle fürs Bundesgebiet einzunehmen.

Also auch Anti-Alkoholiker Neuss mittlerweile voll koalitionsbesoffen?

Natürlich bin ich gegen Politik aus Besoffenheit, aber: mit diesem Wahlergebnis sind wir ausgezeichnet worden. Ich hätte mir das echt nicht träumen lassen. Wenn mir einer erzählt hätte, wir kriegen 'ne rot-grüne Regierung, hätte ich gesagt: Nie im Leben, der Diepgen sitzt wie angeschraubt im Sattel. Übersehen habe ich: die CDU hat das Soziale und das Persönliche, also das, worauf es in Berlin ankommt, völlig vernachlässigt. Das ist übrigens das wichtigste Essential für die rotgrüne Regierung, die Momper und Ströbele basteln: sie muß persönlich bleiben. Also all das vermeiden, wovor die Bevölkerung allgemein Angst hat beim Sozialismus: das Namenlose, die ungeschriebenen Gesetze, die Gleimacherei, das wollen die Leute nicht spüren. Trotzdem sind die Leute natürlich sozial - und genau dieses Gleichgewicht zu halten ist die Kunst einer rot-grünen Regierung.

Apropos Kunst, wen wünschst du dir als neuen Kultursenator?

Das ist natürlich die wichtigste Frage, denn von der Kultur geht das Soziale aus. Nun denk mal, was unser Kollege Hassemer für ein Geld ausgegeben hat in der vergangenen Zeit und wie es verpufft ist. Da hätte ja wirklich jeder Berliner 500 Mark bar auf die Hand kriegen können und dafür selbst mal ein Liedchen am Kudamm gesungen - aber nein, es mußten diese großkulturellen Ereignisse sein, die an uns vorbeigegangen sind wie ein Luftballon, nichts ist hängengeblieben von diesen Kulturimporten, von diesen Andre Hellers. Als Republikaner muß ich da sagen: Wenn schon Ausländer, dann wenigstens richtige.

Vor der Wahl hast Du gesagt: Achtung, Diepgen sitzt zwar wie angeschraubt im Sattel, aber der Berliner Wähler ist hinterfotzig, und die Sache ist noch nicht entschieden. Diese Hinterfotzigkeit hat uns jetzt, neben Rosa-Grün, die Republikaner beschert.

Die Republikaner sollten jetzt nicht, statt der CDU, am laufenden Band von der Regierung beschimpft werden. Sie sollten freundlich empfangen werden im Parlament, ein Höchstmaß an Verständnis für ihre Krankheit sollte ihnen entgegengebracht werden, kurz: die Republikaner müssen umarmt werden.

Was ist denn ihre Krankheit?

Ihre Krankheit ist das Nationale und all das, was wir mit borniertem Anti-Faschismus nicht wegkriegen. Und es ist natürlich Schönhubers Langeweile. Dieser Schönhuber ist überschaubar, das beruhigt mich. Im übrigen ist es die Aufgabe der Republikaner, Rot-Grün nicht nur in Berlin, sondern auch in Bonn und sogar in Bayern zu produzieren.

Kannst du dir wirklich vorstellen, daß Momper und die AL die Republikaner umarmen?

Wenn ich mal als Witzbold, als Kapielski, sprechen darf, würde ich mich vors Parlament stellen und sagen: „Wir haben jetzt eine Regierung, die heißt Momper halb und halb - der mit dem Schummelgespann.“ Da denkst du jetzt, das ist abwertend gemeint, nein, das ist im Gegenteil ganz grosse Klasse: Sieh mal, der Diepgen ist doch ein lieber Junge, aber die Leute, die er um sich rum hatte - diese Regierung war wie ein Kondom über Berlin. Und ab und zu möchte man auch als Stadt mal ein Kind zeugen. Und was zeugen wir? Wir übernehmen Bundesgesetze. Ich habe nichts dagegen, Berlin ist weit abgelegen und vielleicht darauf angewiesen, aber für das Experimentierfeld Berlin bedeutet das schon eine ziemliche Enteierung. Deshalb sollte über jedes zu übernehmende Gesetz ausführlichst gesprochen werden, wie natürlich auch über Gewalt in jeder Parlamentssitzung diskutiert werden muss. In jeder, nicht nur wenn Demos waren oder Steine geflogen sind, jedesmal, weil es ist doch verdammt nochmal klar: Wo mehr als zehn Leute zusammen sind, kommt was vor. Natürlich gibt's Gewalt, wir kennen uns doch. Wir können uns keine Regierung leisten, der diese fundamentale Menschenkenntnis abgeht, wie zum Beispiel der CDU. Die wissen gar nicht mehr, wer in Berlin wohnt, die ahnen gar nicht, daß Charlottenburg das Kreuzberg von morgen ist. Jetzt wird Landowsky sagen: Ach, der Neuss schimpft nur so, weil wir ihn nicht zum Ehrenprofessor gemacht haben und weil das jetzt die SPD machen muß. Aber ich nehme in jedem Falle an. Ich bin auf Ehrungen angewiesen und sehe, dauernd kriegen es andere. Weil ich nicht seriös bin - aber wenn du andereseits dir ankuckst, wer da geehrt wird, bleibst du lieber unseriös. Stell Dir mal vor, ich hätte ein Bank-Konto - ich wäre wirklich ein geschlagener Mann.

Wie kann man als Politiker „persönlich“ bleiben, wie Du es eben gefordert hast?

Harry Ristock ist das beste Beispiel für einen Sozialisten, wie man persönlich bleibt - mit Schrebergarten - und wie man privat bleibt - indem man Sachen sagt, die man eigentlich nicht sagt. Es wird langsam Zeit, daß wir uns unseren Harry Ristock vergolden. Und was das Schummelgespann Momper angeht: Wir sollten alle sehen, daß im Momper das Gesicht von Willy Brandt wirklich drin ist, um der Psychedelik und der Glatze einmal Rechnung zu tragen. Die metaphysische Komponente von Momper ist: er ist einfach ein Willy. Es muß ja nicht der Brandt sein. Aber den Willy hat er. Und seine Frau ist zehnmal Ruth, das heißt: Momper - das kann 'ne ganz große Nummer werden. Jeder denkt: Na ja, ne Übergangserscheinung dieser Momper, und Pagels hat schon recht, wir werden auch mal wieder einen mit Haaren oder Toupet kriegen. Nee, nee sag‘ ich da: Berlin braucht einen mütterlichen Glatzkopf. Den haben wir jetzt und können stolz sein. Und daß er regieren kann, verdankt er nicht der DKP, nicht der SEW, nicht den Fundamentalisten, nicht den Realos, sondern schlicht der Jugend dieser Stadt.

Die AL-Politiker wirken auf mich in den wenigsten Fällen jung und frisch, sondern eher wie beamtete Berufsjugendliche.

Die AL ist verkrampft, noch verkrampfter als die taz, was schon was heißen will. Die taz ist immer ein Spiegelbild der AL, da kann sie machen, was sie will, weil die taz auch „die Jugend“ ist. Warum kauft man die taz - weil sie von jungen Leuten gemacht wird.

Kannst du noch was zu den „besseren“ Essentials sagen, wir hatten am Anfang die autofreie Stadt...

Autofreie Stadt geht nicht. Erstens, weil die SPD 'ne Autopartei ist und zweitens, weil du den Leuten nicht ihr Auto wegnehmen kannst. Du kannst aber als Regierung der Bevölkerung 500.000 Auto-Scooter mit Wasserstoffmotor und Gummipuffern verkaufen, die auch schon von Sechsjährigen gesteuert werden können. Eine Nahverkehrskultur-Attraktion, die die ganze Welt hier herlocken würde. Oder ein anderes Beispiel, Berlin könnte sagen: Der Trend geht zum Nicht -Arbeiten, wir versuchen jetzt nicht, mit Beschäftigungsprogrammen idiotische Arbeiten erledigen zu lassen, sondern wir fangen endlich an, im Nicht-Arbeiten eine nützliche Sache zu sehen. Wie fängt man damit an? Indem man darüber dauernd nachdenkt und spricht. Arbeitslosigkeit kann eine nützliche Sache werden, wenn wir sie dazu machen. Kommt mir jetzt nur nicht mit Programmen wie „1.000 Arbeitslose im Grunewald Papier aufsammeln“ - dafür brauchen wir keine alternative SPD-Regierung, gegen solche Phantasielosigkeit hat sich die CDU mit Recht gewehrt. Wir brauchen schon etwas intelligentere Ideen.

Hast du noch ein Beispiel?

Na nimm die Wohnungsnot in Berlin - wozu haben wir eigentlich soviel Wasser. Hausboote vom Wannsee bis zum Paul -Lincke-Ufer - so viele Universitäten haben wir gar nicht, wie dort Studenten wohnen könnten, Wohnschiffe sind allemal besser als Betonsilos.

Tolle Idee, nur werden die Brötchen, die Rot-Grün bäckt, sehr viel kleiner sein.

Das dürfen sie nicht. Wir haben hier in Berlin jetzt eine Vorreiter-Rolle, nicht nur was die Bundesrepublik, sondern in erster Linie - und das dürfen AL und SPD nicht vergessen

-was die DDR betrifft. Warum sollen die denn keine Grünen in die Regierung kriegen? Die haben keine - wir können jeden Tag ersticken hier, es muß nur in Rheinsberg der Kraftwerksschlot explodieren, und wir müssen ganz Berlin räumen. Daran denkt niemand, nur ich rechne täglich mit einem solchen Super-GAU. Unsere rot-grüne Regierung muß den Vorreiter spielen, auch im Hinblick auf Gorbatschow und das, was in Ungarn und sonstwo an sozialistischer und ökologischer Erneuerung läuft. Dazu gehört zum Beispiel auch ein Ost-West-Schwarzmarkt mit Krakauer und Salami, die Polen sind ein Segen für die Stadt. Wenn ich aber höre, daß Zimmermann jetzt die Jugos ausgrenzen will, werde ich vom Polen sofort zum Jugoslawen: Das ist unerhört.

Du hast gesagt, Leute wie Enzensberger sollen jetzt hier mitarbeiten, wirst du auch selbst bei einem rot-grünen Bündnis mitmischen?

Mein verstorbener Partner Müller ist wieder aufgetaucht, ein neuer Müller, der mit mir im UFA-Gelände auftreten will

-ich weiß noch nicht, ob ich es mache, aber eines ist sicher: Alles, was die neue Regierung sich nicht traut, wird öffentlich gemacht. Wir werden nicht den Fehler machen, das neue Bündnis zu schonen und mit Kritik sparen - im Gegenteil: Die noch zu wählende Regierung kann sich jetzt schon darauf einstellen, daß wir sie schonungslos lächerlich machen. Im übrigen steckt im Schummelgespann Momper ja nicht nur ein Willy, sondern auch was Chinesisches, ein tibetanischer Tempelhund, und schon deshalb gilt für die neue Regierung Lao Tse: „Wer trachten wollte, die Regierung zu nehmen und sie zu machen, ich sehe, daß es ihm nicht gelingt. Die Regierung ist ein geistiges Gefäß, sie kann nicht gemacht werden. Der Macher zerstört sie, der Nehmer verliert sie. Daher: der heilige Mensch (der heilige Berliner) meidet das Übersteigen, meidet die Überhebung, meidet das Überragen.“

Soweit Lao Tse, jetzt kommt nochmal Neuss: „Wir rot-grüne Regierung schwören (Fahneneid!): Wir lassen uns unsere Sensibilität für das Geringste nicht nehmen, wir haben eine Ader für das Größte, aber - wir verehren das Mittelmäßige.“ Das Interview führte

Mathias Bröcker