KNARRENFREITHEIT

■ Zur historischen Anthropologie des Wandschrifttums

Die Fähigkeit, Symbole zu bilden, ... ist die Basis und Substanz allen menschlichen Verhaltens. (Leslie White)

Wie bei jedem lebenden Wesen, so besteht auch beim Menschen ein tiefverwurzelter Drang zur Mitteilung seiner Empfindungen, seiner Sicht der Welt. Seit der Entwicklung der Sprache war dieser Drang auch immer das Bedürfnis, sich größeren Gruppen mitzuteilen. Diesem Bedürfnis waren aber durch die vorhandenen Kommunikationsstrukturen natürliche Grenzen gesetzt. Das persönliche Gespräch erreichte zu wenig Hörer, Weitergabe über Dritte beinhaltete das Risiko der Verfälschung der Botschaft, und das öffentliche Predigen brachte oft das Risiko schlimmer Konsequenzen mit sich (vgl. Bibel, Joh. d. Täufer, etc.). Um also einen größtmöglichen Kreis an potentiell Interessierten zu erreichen, verfiel die Menschheit am Ende des Paläolithikums darauf, ihre Botschaften in graphischen Darstellungen festzuhalten und zu verbreiten.

So wurde die Wand seinerzeit als Medium entdeckt, noch bevor es sie im eigentlichen Sinne als von Menschen geschaffene Baulichkeit gab. Waren in der ersten Zeit dieser artfremden Nutzung hauptsächlich kultische Maßnahmen der Grund derselben, so änderte sich dies mit der Einführung abstrahierender Schriftzeichen, welche mehr und mehr der Übermittlung sachbezogener Informationen dienten. Beim ersten Auftauchen dieser Mitteilungsvariante waren die Schriftzeichen noch von gegenständlich anmutenden Symbolen geprägt, und somit war deren Inhalt mutmaßlich noch nicht ausschließlich privilegierten Kennern zugänglich. Doch mit der Entwicklung immer abtrakterer Formen verstärkte sich auch der Ausschluß bestimmter Bevölkerungsschichten vom Kommunikationsfluß. Nach der Erfindung des Buchdrucks stellten die Herrschenden das neue (und erste echte) Massenmedium sofort unter staatskirchliche Kontrolle. Diese Maßnahme (Schaffung eines Mediums mit bisher unbekannter Reichweite und dezentrale Reservierung desselben für die Oberschicht) schloß die bisher schon Unterprivilegierten endgültig vom gesellschaftlichen Informationsaustausch aus.

Das von der Kommunikation ausgeschlossene Volk besann sich daher zurück auf das erste all dieser Medien, das zudem jedem kosten-, wenn auch nicht risikolos, zur Verfügung stand. Im größeren Rahmen wurde die Wand im Zuge revolutionärer Strömungen im angehenden Industriezeitalter Europas als Masseninformationsträger wiederentdeckt. Waren es bei der Pariser Commune noch in erster Linie Proklamationen der Räte, die die Grundfesten der Hauptstraßenhäuser zierten, so wurden es im Lauf der Zeit immer mehr die Pinselschwinger der Nacht, die diese vertikalen Maurerprodukte zur Verbreitung ihrer Parolen nutzten. Dem geradezu inflationären Gebrauch der politischen Wandparole im ersten Drittel des 20.Jahrhunderts gerecht zu werden würde den Rahmen dieses Artikels sprengen; daher wollen wir es bei der Feststellung belassen, daß es ihn gab. Erstmals völlig ausgeschöpft wurde das Medium Wand im revolutionären China, wo die Wandzeitung von jedem für jeden allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz erreichte.

In den späten Sechzigern dann, zu einer Zeit, als die Jugend hier sich entweder für die chinesische Kulturrevolution oder aber für den amerikanischen way of life begeisterte, war die Synthese der US-Errungenschaft Farbsprühdose und des China-Exportes Wandzeitung fast zwangsläufig. Das Mitteilen der individuell als wichtig empfundenen Sachverhalte vermittels der Wandmalerei wurde innerhalb kürzester Zeit zu einer Massenerscheinung in allen deutschen Großstädten. Mit diesem neuen, nach bernouillschem Prinzip funktionierendem „Pinsel mit eingebautem Farbtopf“ wurde die potentielle Schnelligkeit des Benutzers gegenüber der konventionellen Pinsel-Topf-Einheit um ein Vielfaches gesteigert, und das bei optimaler Handlichkeit, was wiederum unter dem Strich ein weitaus geringeres Festnahmerisiko mit sich brachte. Da die Botschaften kurz und prägnant waren, blieb dem Schreiber viel Zeit übrig, was einen Hang zur Ästhetisierung bis hin zum Wandbild zur Folge hatte. Da sich unter den Ergebnissen dieser technischen Revolution wahre Kunstwerke befanden, die das Auge des zufälligen Betrachters um ein Vielfaches mehr anzogen, als es ein bloßer Spruch je vermocht hätte, dürfte die Breitenwirkung nicht unbeträchtlich angestiegen sein. Doch auch wenn's unpolitisch wird, hat die Obrigkeit was gegen Farbe an den Wänden. Unlängst brachte der New Yorker Bürgermeister Ed Koch einen Gesetzesentwurf ein, der den Verkauf von Sprühdosen und Filzstiften an Jugendliche verbieten sowie den Einzelhandel zwecks Diebstahlverhinderung zum Wegschließen derselben verpflichten sollte.

All diese künstlerische Weiterentwicklung der politischen Agitation ließ auf goldene Zeiten bunter werdender Wände hoffen, wären da nicht die Apologeten der Schriftparole gewesen. Während der letzten Bewegung sprachverweigernd tätig, was in Sprüchesammlungen eines gewissen Fliegendreckverlages seinen Niederschlag gefunden hat, versuchen die Pragmatiker der Nacht heute, via bürgerliche Hochsprache erneut den verbalen Zugang zur breiten Masse zu finden.

Einige von ihnen, durch jahrelange geistige Selbstgettoisierung dem Umgang mit ihren Mitmenschen entfremdet, verfallen plötzlich wieder der Idee, ihre Gedanken tausend anderen mitteilen zu müssen, und aus den oben dargelegten Gründen entscheiden sie sich erneut für die Anfertigung von Wandparolen. Nun ist es ein sicher jedem bekanntes Phänomen, daß Dinge, die man/frau lange nicht getan hat, meist nicht so gut gelingen wie früher. Was beim Klavierspielen, Radfahren oder Dreiecksberechnen der Fall ist, trifft natürlich auch beim Versuch des logischen Darstellens gewisser Sachverhalte zu. Während jedoch das Ergegebnis der mißlungenen Dreiecksberechnungsversuche im Papierkorb endet und das der Musiziererei im Raum verhallt, bleibt das der Meinungsäußerung per Graffito jahrelang sichtbar. So für die Ewigkeit bestimmt, müssen derartige Werke auch damit rechnen, nach einfachsten inhaltlichen, logischen und onomasiologischen (O.: Wissenschaft, die untersucht, wie Dinge, Wesen und Geschehnisse sprachlich bezeichnet werden, Bezeichnungslehre) Gesichtspunkten untersucht werden. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen sind eventuell auch dazu geeignet, Rückschlüsse auf die VerfasserInnen der untersuchten Äußerungen zu ziehen.

Nehmen wir als erstes Untersuchungsobjekt also ein Beispiel aus der Kreuzberger Wrangelstraße: „FEB in Frauen- und Lesbenhand!“ Diese bei oberflächlicher Betrachtung durchaus einleuchtend erscheinende Forderung offenbart bei näherer Betrachtung die völlige Befreiung der Form vom Sinn: In dieser Form durch „und“ verbunden, werden gemeinhin nur Begriffe, die einen gleichen Ordnungswert besitzen, also zwei Ober- oder zwei Unterbegriffe. Beispiele für eine solche (richtige) Verwendung des ausschließenden „und“ wären: „Dackel und Bernhardiner (Unterbegriff: Rasse) sind Hunde (Obergriff: Art)“ sowie „Deutsche und Türken (Unterbegriff: Nationalität) gemeinsam gegen...“.

Die Verwendung des ausschließenden „und“ impliziert ferner, daß die solchermaßen verbundenen Begriffe verschieden sind, und der Unterbegriff entspräche eigentlich nicht den Qualitätsansprüchen, die an den Oberbegriff gestellt werden. Als Beispiel dieser Form der Demagogie seien genannt: „Autos und Ladas“, „Nahrungsmittel und Hamburger“ sowie das Lübke -Wort „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger!“ Wenn hier also Ober- (Frau) und Unterbegriff (Lesbe) gleichrangig nebeneinander gestellt werden, ist die Aussage impliziert, Lesben seien eben keine „richtigen“ Frauen, wie der Lada (s.o.) kein „richtiges“ Auto oder der „Neger“ kein „richtiger“ Herr sei. In diesem Fall sind die VerfasserInnen der Parole also offensichtlich im Gewirr der logischen Zusammenhänge etwas vom geplanten Weg abgekommen und überraschen die LeserInnen mit einer Aussage, die mehr als nur unrichtig zu nennen wäre. Immerhin bringen sie es aber noch zu einer Aussage, was, wie wir im nächsten Beispiel sehen werden, durchaus nicht immer der Fall sein muß.

Kreuzberg, Mariannenplatz: „Front entsteht als kämpfende Bewegung!“ Hier scheiterte der Versuch, den Hades der Sinnentleerung zu überschreiten (du meinst wahrscheinlich den Fluß, der zum Hades, also in die Unterwelt führt, und der heißt immer noch Styx, mein Lieber! d. säzzer), an der Begegnung mit dem Cerberus der Onamosiologie. Angesichts der so postulierten Behauptung stellen sich Brechts lesendem Arbeiter (und nicht nur dem) folgende Fragen: Kann „Front“ überhaupt als ein Subjekt per se begriffen werden? Ist „Front“ als theoretische Trennungslinie zwischen zwei Exemplaren eines Begriffs (Armeen, Luftmassen etc.) nicht existentiell auf deren Benennung angewiesen, ähnlich wie ein Loch nur in irgendetwas, niemals aber für sich alleine existieren kann? Weiter: Kann etwas erklärtermaßen Statisches wie eine Front überhaupt als etwas Dynamisches wie eine „Bewegung“ entstehen? Kann das statische Loch in der Scheibe als ein dynamischer Steinwurf entstehen oder nicht vielmehr nur durch denselben? Noch schöner aber ist das Beispiel Skalitzer Straße Nähe U-Bahnhof Görlitzer Straße: „Westeuropa kommt!“ Hier wird, was in der vorgenannten Parole nur als dezenter Unsinn auftritt, als hochgradiger Schwachsinn manifest. Ist der Begriff „Westeuropa“ nicht als ein geographischer Terminus per definitionem ein statischer, der seinen ganzen Sinn ausschließlich aus der bewegungslosen Lage einer Region am westlichen Ende der eurasischen Landmasse herleitet? Und, würde der westliche Teil Europas, so er wirklich „kommen“ (wohin?) würde, nicht augenblicklich aufhören, eben jener zu sein? Oder ist die Parole als das Ergebnis fruchtloser Beschäftigung mit der Kontinentaldrifttheorie zu werten?

So es darum geht, subjektive Inhalte Außenstehenden zu vermitteln, kann die deutsche Hochsprache zwar ein adäquates Medium sein. In diesem Falle aber ist ihre richtige Handhabung Voraussetzung für korrekte Informationsübermittlung. Die unsachgemäße Benutzung dieses Mediums bricht nicht zuletzt auch den Kommunikationsfluß zur sogenannten breiten Masse.

Glücklicherweise gibt es hier mehrere Ausweichmöglichkeiten. Die erste wäre, die Hochsprache zugunsten des alten, aber bewährten plakativen Kurzstils zu verlassen. Parolen wie „Nazis raus!“ sind zwar nicht sonderlich phantasievoll, bergen aber klare und prägnante Aussagen, die jedem zugänglich sind. Eine andere Möglichkeit, die gleichzeitig noch das normalerweise eher geringe Interesse des potentiellen Lesers an Textparolen erhöht, ist die auffällige Verletzung orthographischer und/oder grammatischer Regeln in Simpelparolen wie „Vill bunt gutt“ oder „Nida mitta Intapunxion“.

Aber ein anderer Verdacht liegt nahe: Handelt es sich bei den o.g. Hochspracheergüssen womöglich gar nicht um Agitation im klassischen Wortsinn? Dienen solche Parolen vielleicht eher der Insiderkommunikation bestimmter sozialer Gruppen? Historische Beispiele derartiger Mechanismen gibt es genug, wir finden sie in den bekannten „Zigeunerzinken“ und im Rotwelsch der Sinti und Roma, in der Gestenkommunikation einiger Freimaurerlogen oder in der Priestersprache vorkolumbianischer Kulturen Mittelamerikas. Gemeinsam ist allen Fällen der Umstand, daß die Nachrichtenträger, also Worte, Gesten, Symbole etc., dem Uneingeweihten völlig unverständlich sind und so die Kommunikation der Gruppe gegen Außenstehende abschotten. Ähnliche Mechanismen liegen wohl auch Formeln wie „P5 bleibt“, „Q-bat“ oder „Hönkel“ zugrunde. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob für eine derartige interne Kommunikation die öffentliche Wand das adäquate Medium darstellt.

Eine weitere, viel zu oft übersehene Variante des Graffitos soll zuletzt auch noch zur Sprache kommen: das Reviermarkieren, ein u.a. aus der Tierwelt bekanntes Phänomen. Das persönlich beanspruchte Revier wird vermittels Urin, akustischer Signale oder anderer Informationsträger gekenntzeichnet. So deutet das scheinbar wahllose Anbringen von Anarcho-As und Besetzerzeichen an Kreuzberger Wänden auf eine eher verdrängte Wiederholung dieses Mechanismus hin. So stellt sich abschließend die Frage, welcher Gattung des politischen Graffitos die Zukunft gehören wird: Ob Mülch, Milsch oder Molloko plus, das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.

Otto Graf Vieh