Swinging Metropolis

■ 19. Wildes Lachen

MontmartreCharme & HinterhofTristesse, Spott & pralle Komik en masse bieten zahlreiche literarmusikalische Kabaretts der Stadt; besonders konzentriert in den Zwanzigern, da sich Kleinkünstlergrößen aus allen Ecken des Landes - und darüber hinaus - die Garderobentürklinken in die Hände geben. Fachfrau Nummer Eins, Helga Bemmann, weiß kurzweilig davon zu berichten in vierzehn launigen Abrissen, opulent bebildert, in den Berliner Musenkinder-Memoiren, erschienen bei Lied der Zeit, Berlin DDR. Ein räschlicher Rundumschlag, hiermit zum Schauen & Lesen empfohlen als Ergänzung dieser bescheidenen TazSerie. Geboten wird eigentlich alles für jeden in jenen Jahren, und die Kollegen helfen sich gegenseitig aus. Hochpolitisch präsentiert Leon Hirsch seine Wespen, für die Erich Kästner, Else Lasker-Schüler oder das Wiener Urviech Roda Roda mit eigenen Manuskripten auf die Bühne klettern. Dreie gibts, zu denen ich mich gar nix zu sagen trau, sonst müßte hier angebaut werden: In Werner Fincks Katakombe, Friedrich Hollaenders Tingel-Tangel und dem absoluten Nonplusultra Kabarett der Komiker beehren sich nicht nur die Hausherren wechselweis mit Gastauftritten, darüber hinaus bepflastern prominenteste Chanson- & Vortragskünstler des deutschsprachigen Raumes den endzeitlich rotierenden Berliner. Aber das heben wir uns für Folge 2.569 auf, gelle.

Carows Lachbühne, eröffnet 1927, steht & fällt mit dem Chef. „Schwejk des Berliner Nordens“ genannt, krönt ihn die Presse auch noch zum preußischen Pendant Karl Valentins. Urbane Zivilisationshektik, gernstens auch von olle Reutter thematisiert, macht er zum Gegenstand des beliebten Sketches, in dem zwei Zeitungsjungen mit ihren Rädern zusammenrumpeln. Zur fälligen Auseinandersetzung hingegen kommt es nicht. Quasi „mit drr Uhrr in drr Hand“ schwingt sich der eine wieder in den Sattel, um, halb schon unterwegs, dem anderen zuzurufen: „Mensch, hau dir selber 'n paar in die Fresse. Ick hab keene Zeit!“

Zeit, sich beim proletarisch gewandeten ChaotenCarow am Weinbergsweg zu verlustieren, finden sie nach & nach alle, die kritischen Eggheads aus künstlerischem Umfeld, selbst der allseits vergötterte Charlie Chaplin amüsiert sich wie Bolle - obwohl er doch einen ganz anderen Dialekt spricht als „Zickenschulze aus Bernau“, dessen Hochzeitsfeier sich Strophe um Strophe genußvoll destruktiv zum besoffen familiären Tohuwabohu steigert. Verfaßt & dargeboten von Erich Carows pingelig feinem Bühnenpartner Freddy Sieg, wird das sensibel gebaute Brachialchanson zu einem beliebten Bonbon samstagnachmittäglicher Rundfunksendungen werden. Zille, Toller, Pallenberg, Henny Porten zählen zu den Stammgästen, auch Trude Hesterberg, höchstselb gewesene Kabarettleiterin: Von 1921 bis 1923 hatte sie die Wilde Bühne im Keller des Theaters des Westens bemuttert. Mit damals noch komplettem Vornamen packt Frollein Gertrude ihre Operettenpopularität ins Kalkül und schmückt das Unternehmen mit Stars & Skandalen.

Alles andere als berühmt ist jener unscheinbare junge Augsburger, der dort seinen ersten BerlinAuftritt absolviert und sofort ein Eins-a-Ärgernis auf die Brettlreihe kriegt was Frau Bemmann (s.o.) rechtschaffen antiimperialistisch freut. Vermittelt von Walter Mehring, der bereits seine textende Hand im wilden Spiele hat, tapert Bertolt Brecht ins Scheinwerferlicht, leiert alsbald mit geliehener Laute die Ballade vom Knaben Jakob Apfelböck, der seine Eltern abmurkst, um ihre Leichen im Wäscheschrank zu verstauen. „Ein Schuß Dämonie“ wird dem mageren Manne bescheinigt, der da erstaunlich souverän das Publikum vor die Bürgerbirnen stößt. Textsicher ist er zwar nicht, dafür hängt ein Spickzettel an der Bühnenrückwand. Im zweiten Vortrag folgt auch noch 'n Kadaver; als die ärztliche Kommission „zog zum Gottesacker hinaus / Und grub mit geweihtem Spaten den gefallenen Soldaten aus... / Die Nacht war blau und schön / Man konnte, wenn man keinen Helm aufhatte, / Die Sterne der Heimat sehn“, als also solch Blasphemie & Friedenshetze beschwörend ins Sälchen dringt, kommt endgültig Unruhe auf. Es trifft sich, daß der Dichter grad einen Hänger hat, nach rückwärts zu seinem Zettel strebt. In die entstehende Pause röhrt des wunden Spießers Horn, und zwar so intensiv, daß die Prinzipalin den Vorhang fallen läßt. Mehring tritt vor denselben, brüllt zorngebeutelt zurück: „Meine Damen und Herren! Das war eine große Blamage, aber nicht für den Dichter, sondern für Sie. Und Sie werden sich eines Tages noch rühmen, daß Sie dabeigewesen sind!“

Nicht nur die bonzigen Besucher der eben stattfindenden landwirtschaftlichen Woche ereifern sich - grundsätzlich bringt grade das „sektschlürfende Publikum in großer Toilette“ dem kleinen HesterbergImperium die Überlebensknete. Wen sonst auch sollt man provozieren mit den Texten von Wedekind, Max Herrmann-Neiße oder Heinrich Mann? Ist das nicht allemal besser, als im eigenen, links -intimen Saft des hundertfünfzig Personen fassenden Raumes zu schmoren? Und so haut die kesse, rothaarige Trude - in Zeiten rasanter Inflation - ihr „Börsenlied“ & die „Arie der großen Hure Presse“ live den Empfängern um die Ohren, denen eben, die's angeht und die sich beim Zuhören so schön abreagieren können.

Norbert Tefelski