Wenn der Rote Stern in der Donau versinkt...

Nicht nur in West-Berlin, sondern auch an anderen Plätzen Mitteleuropas hat eine stille Handelsrevolution begonnen. Der Anhänger der Polski Fiat sah aus wie ein kleines fahrbares Klosett. Eine Woche lang campierten zwei polnische Familien damit unter meinem Fenster. Die Erwachsenen zwängten sich nachts in die Pkws, die Kinder schliefen im Anhänger. Tagsüber gingen sie ihren Geschäften nach, abends brieten sie am Propangaskocher neben der Augartenmauer Würste und Eier. Die Hausbewohner schauten ihnen von oben neugierig zu, sagten aber nichts. Die Polen räumten ihren Abfall sorgfältig wieder weg.

Tausende Polen wackelten in der warmen Jahreszeit im letzten Jahr, seit der Visumszwang aufgehoben ist, jede Woche mit ihren qualmenden Vehikeln nach Wien. Traditioneller Hauptumschlagplatz für ihre Ware ist dem Mexikoplatz am Donauufer, wo die Schiffe aus Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien und der Sowjetunion ihre Passagiere für einige Stunden freigeben.

Das Fußvolk der Touristen dealt - vor der orthodoxen Kirche an der Reichsbrücke, mit Blick auf die Uno-City jenseits der Donau. Selbst im Winter stehen hier am Wochenende 500 Leute, meist Polen, die den ärmeren Wiener Konsumenten aus ihren Taschen was anbieten: Kristallvasen, Kinderkleidung und sogar die Pelzjacken, die sie am Leib tragen.

Jugoslawische Putzfrauen kaufen hier Krimsekt oder kiloweise Käse. Man verständigt sich mit slawischen Gemeinwörtern, oder beide radebrechen, wie seinerzeit in der Monarchie, auf deutsch. Ein uniformierter Polizist zieht seine Runde, um den illegalen Handel zu kontrollieren. Die Taschen schließen sich vor ihm, und wenn er vorbei ist, öffnen sie sich wieder.

Ähnliche Szenen konnte ich in Budapest beim Westbahnhof am Leninring beobachten. Leinen und Bleikristall dient den Polen auch hier zum Erwerb von Forint, die wieder den Einkauf von Westware in Ungarn ermöglichen: Unterhaltungselektronik, Adidas-Schuhe, Bananen und Orangen.

Die Ungarn selber wiederum, die jetzt frei ausreisen dürfen, sind die Hauptkundschaft vieler österreichischer Händler geworden. In der Wiener Mariahilfstraße erfolgen die Durchsagen in den Kaufhäusern längst auf deutsch und ungarisch. Viele Ungarn haben in der Gegend kleine Läden aufgemacht, wo die begehrte Westtechnik in zweifelhafter Qualität angeboten wird.

Am vergangenen 7. November, dem sowjetischen Revolutionsfeiertag, der bisher auch in Ungarn arbeitsfrei war, fielen mit einem Schlag 100.000 Magyaren in Wien ein und lähmten den Verkehr in der Stadt. Sie ließen an diesem einen Tag über 100 Millionen Mark in den Geschäften. Am Mittwoch, dem 15. März, wird sich die Ungarnbelagerung von Wien wiederholen. Die ungarische Parteiführung ist auf nationalen Kurs gegangen. Sie hat den Lenin- Putsch vom 7. November gestrichen und feiert statt dessen den Ausbruch der (bürgerlichen) Revolution von 1848. Aus diesem Anlaß wird auch der Rote Stern dem alten Staatswappen weichen.

Im vergangenen Jahr hat Österreich seine Asylpolitik durch „beschleunigte Verfahren“ drastisch eingeengt. Jetzt verlangt die BRD von Österreich, die Jugoslawen nicht mehr an die deutsche Grenze zu lassen. Kommenden Mittwoch kommt Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann nach Wien, um mit seinem zögernden östereichischen Kollegen Franz Loeschnak zu beraten, wie man die aus Jugoslawien andrängenden Kosovo -Albaner und Roma möglichst unauffällig schon an Österreichs Südgrenze abfangen könnte.

Michael Siegert/Wien