„Nach dem Krieg war's ja genauso“

■ Auf dem Krempelmarkt am Reichpietschufer drängten sich am Wochenende 8.000 polnische Händler und eine Handvoll Zollfahnder Über Nacht ist Westberlin ein gutes Stück von seiner Randlage befreit worden / Wird aus der Teilstadt ein Handelsplatz?

Rund 8.000 Polen fanden auch an diesem Wochenende den Weg in die Stadt, um auf dem Krempelmarkt am Reichpietschufer alles feilzubieten, was der polnische Supermarkt zu bieten hat. Die Polen, die zum größten Teil in Bussen und Autos aus allen Teilen des Landes angereist waren, verursachten riesige Verkehrsstaus. Am Grenzübergang Dreilinden hatte der Zoll die Ost-Touristen in der Nacht zum Samstag auf acht Spuren abgefertigt. Das Reichpietschufer mußte am Sonnabend mehrere Stunden für den Durchgangsverkehr gesperrt werden. 54 Fahrzeuge ließ die Polizei abschleppen, 78 Falschparker sahen eine Verwarnung an die Windschutzscheibe ihres Autos geheftet.

Wesentlich ungemütlicher bekamen die angereisten Händler die Staatsgewalt in puncto Zollfahndung zu spüren. In einer konzertierten Aktion von Polizei, Zollfahndung sowie Beamten der Bezirksämter Tiergarten und Kreuzberg mußten die Polen stichprobenartige Kontrollen über sich ergehen lassen. Dabei wurden nach Angaben der Polizei unter anderem rund 30.000 Zigaretten, elf Liter Wodka und zwölf Schmuckketten sichergestellt. Gegen 19 Polen sei ein Steuerstrafverfahren eingeleitet und die sofortige Ausweisung angeordnet worden.

Schokolade „Bettina“ und Zigaretten „Carmen“

West-Berlins geopolitische Lage hat sich fast über Nacht verändert. Zwar steht die Mauer noch, aber die Abschaffung der Visumspflicht für polnische Besucher hat den Westteil der Stadt ein gutes Stück von seiner Randlage befreit. West -Berlin auf dem Weg zu einem mitteleuropäischen Handelsplatz? Der polnische Schwarzmarkt jedenfalls blüht, und längst vergangene Zeiten werden auf kuriose Weise wieder wach. Ein unüberschaubares Chaos breitet sich auf dem zugigen Platz am Reichpietschufer aus. Da, wo normalerweise an den Wochenenden nur Flohmarkthändler mit Schmuck und Antiquitäten zu finden sind, appellieren die angereisten Polen an den guten Geschmack der Berliner Bevölkerung. Nahrungsmittel „made in Poland“ sind der Renner. Dem Angebot nach scheint sich polnische Wurst großer Beliebtheit zu erfreuen, sie ragt aus jeder zweiten Tasche. Außerdem gibt es „Gewürzsardinen Universal“, undefinierbare Süßigkeiten, Teebeutel in chinesisch anmutenden Packungen, und Schokolade der Sorte „Bettina“ oder „Konzertewa“ in unverkennbar östlich-puristischer Hülle. Neben der Zigarettenstange Carmen“ liegen ein schwarzes Schraubenschlüsselset, einige Bausätze für Jagdflieger, Kristallschalen, Messer und Küchengeräte. Es gibt Schachspiele in Holz, aber auch in Popdesign auf Kunststoff mit lila- und rotorangen Feldern. Polen jeden Alters sind die Anbieter, die Kunden zumeist Türken. „Ein Mark“, „drei Mark“ - mehr wird nicht gesprochen, gehandelt wird lachend per Zeichensprache. Die wenigsten Verkäufer sprechen Deutsch, viele Türken ebenfalls nicht - trotzdem scheinen sich alle Beteiligten gut zu verstehen.

Samstag vormittag zur Hauptverkaufszeit: Eine junge Frau wird von zwei Zöllnern in Zivil abgeführt. Kaum verschwunden, raunt schon Volkes Stimme auf dem Gehsteig am Rande des Marktes. Und nicht wegen „dit Verkehrschaos“ hinter der Staatsbibliothek. „Die würd‘ ich alle mit 'nem Flammenwerfer rausjagen“, raunzt ein Berliner Bierbauch mit Doppelkinn, als er die Festnahme beobachtet. Auch vor den geschäftstüchtigen Polen macht die Ausländerfeindlichkeit anscheinend keinen Halt.

Die Zollpolizisten haben an diesem Morgen einiges zu tun. Sie gehen gegen Leute vor, die durch Zigaretten- und Alkoholschmuggel die Zollvorschriften verletzt haben. Zwei Männer werden zur Ausreise aufgefordert, weil sie 40 Stangen Zigaretten gebunkert haben. Schmuggler müssen nach der „Aufforderung zur Ausreise“ damit rechnen, daß die polnischen Behörden die nächste Reise verbieten.

Gegen den Handel mit Haushaltswaren, so der Einsatzleiter der Polizei, sei rechtlich nichts einzuwenden. „Gewerbe ist das noch lange nicht.“ Wenn jedoch ein Pole zwanzig polnische Elektrorasierer zu verkaufen versuche, dann solle er dafür auch Steuern zahlen, meint der Einsatzleiter. Gegenüber den Händlern des Flohmarktes am Reichpietschufer sei das nur fair. Auch die kreuzberger Gesundheitsstadträtin Brunhild Duthe (AL) findet, daß der Markt in seinem jetzigen Chaos nicht bestehen bleiben dürfe. Sie will den Handel „legalisieren“, Stände einrichten und Gebühren verlangen, um die anfallenden Reinigungsarbeiten des Geländes und das Aufstellen von Toiletten davon zu bezahlen. „Ick sehe nich ein, daß mir die Leute jetzt jedet Wochenende in die Blumenbeete scheißen“, beschreibt auch ein Anwohner treffend das Fäkalienproblem.

Käufer und Händler

Bodo L.: Eigentlich bin ich nur interessehalber hier. Einkaufen wollte ich gar nicht. Ich wollt's halt gern mal sehen, weil ich den Polenmarkt bisher nur von der Presse her kenne. Aber das ist schon ziemlich billig hier, und ich habe jetzt Wurst und Butter mitgenommen. Butter, Stück 'ne Mark, und ein ganzer Beutel Wurst, vier Mark. Die sieht zwar 'n bißchen merkwürdig aus, so total fettig eben, aber sie riecht gut. Das ist so wie hausgeschlachtet. Ich komme aus der DDR, und da sieht die Wurst genauso aus. Ich kenn‘ das.

Walther D.: Ich wollt‘ eigentlich auch nur mal gucken, hab‘ von dem Markt durch's Fernsehen erfahren. Also die Lebensmittel gehn ja noch, aber teilweise gefällt mir die Ware ja überhaupt nicht. So Folklore-Schnickschnack, total geschmacklos. Aber das ist auch schon mal ganz interessant, den Konstrast zu sehen. Bei uns sieht alles immer so super appetitlich aus, und hier ist das alles so, wie man das von früher her kennt.

Peer G.: Ick hab mia grade 'n tollet Service jekoft. Zwanzig Teile für 'n Pfund. Det jibt's in keenem Kofhaus mehr so billig. Lebensmittel würd ick hier aber nich kofen. Det sieht mir zu unappetitlich aus.

Polnischer Verkäufer: Zum ersten Mal hier. This is my wife, very nice. Kannst du haben für 1.000 Mark. (Fortsetzung auf Seite 18)

FORTSETZUNG VON SEITE 17

Aber Handschuhe hier, zwei Stück, sehr billig, nur 25 Mark. Viele Leute sagen zu teuer. Weg von Polen hierher ist sehr weit, zehn Stunden mit dem Auto. Ich weiß nicht, ob ich nochmal gehe.

Polnischer Verkäufer: This is the first time for me in Berlin. I come from Warszowa (Warschau). Ten hours by car. It's very good selling here. More money than I get for my work in one month. I'm automechanican. Turkish people buy everything, Germans not so good. I sell folklorish things. For the German money I buy milk, sojadrink, Mehl, for my children. Difficult to buy in Poland.

Gerhard M.: Ich hab‘ gerade Butter und Käse hier gekauft. Ist wirklich billig hier. Ich bin seit acht Jahren arbeitslos, da muß man schon mal auf die Mark gucken. Ein Kumpel hat mir das heute morgen gesagt, daß man hier so billig einkaufen kann. Die reinste Basaratmosphäre hier. Da wird gehandelt wie in den südlichen Ländern. Ich find‘ das super hier. Die reinste Renaissance. Nach dem Krieg war's ja genauso,

Schmarzmarkt und so. Ich bin 58 Jahre alt, das kenn‘ ich ja alles noch.

Thomasz L.: Ich habe mir gerade einen Fuchsschwanz gekauft, für 50 Mark. Den will ich weiter verkaufen. Ich bin Pole, lebe aber schon seit zehn Jahren in Berlin, arbeite als Trödler auf'm Krempelmarkt. Ich kann die Polen gut verstehen. Die Wirtschaft ist drüben völlig kaputt, die Leute haben nichts zu kaufen. Warum sollen die nicht das Beste draus machen, und hier 'ne Mark verdienen? Das einzige, was mich stört, ist das Chaos und der Dreck auf dem Platz hier. Das müßte man besser organisieren und legalisieren.

Khriszstof N., Verkäufer: Wir sollen hier ja nicht die Wirtschaft kaputtmachen. Im Gegenteil! Das Geld, was wir hier verdienen, geben wir ja auch meistens hier wieder aus. In Polen gibt's ja nichts zu kaufen. Wir brauchen schließlich auch was zu essen. Deshalb fahren viele Polen weite Strecken, um dahin zu kommen, wo es was zu verdienen und vor allem auch zu kaufen gibt.

Verkäuferin: Viele Türken und Deutsche kaufen gerne polnisches Essen. Keine Konservierungsstoffe, besser für die Verdauung.

Kurt T.: Vor zwei Wochen war hier noch alles viel billiger. Rasier

schaum hat letzte Woche noch zehn Mark gekostet. Jetzt wollen die auf einmal 25 Märker dafür haben. Die sind verdammt geschäftstüchtig. Kann ich denen aber nich verübeln.

Verkäuferin: Was wir hier verkaufen, ist nicht Mangelware in Polen. Das meiste gibt's noch genug bei uns. Gardinen oder Kleider nähen wir auch selbst. Wir sind eigentlich keine Händler. Die Polen hier kommen von überall her, das sieht man an den Autokennzeichen. Wir sind aus Schlesien, das ist sehr weit bis hierher. Aber es lohnt sich.

Verkäufer: Wir haben von Nachbarn gehört, daß man hier gut verkaufen kann. Da haben wir alles eingepackt und sind auch losgefahren. Wir verkaufen nur Handarbeiten. Das ist erlaubt. Nächstes Wochenende kommen wir bestimmt wieder her. Mein Baby braucht Milch, die gibt's hier besser.

Student (Iran): Viele Studenten kaufen hier. Ich zum Beispiel esse jeden Tag Käse. Der ist bei den Polen viel billiger. Viele Leute haben nicht viel Geld. Für die ist der polnische Markt sehr gut. Nur der Dreck auf dem Platz stört mich. Vielleicht können die Polen ja bald mal richtige Stände aufbauen. Das wäre gut.

wvb/cb/taz