Polens Kompromiß - eine schwere Geburt

■ Am runden Tisch sind die Essentials geklärt, strittig ist das Wahlsystem / Aus Warschau K. Bachmann

Drei (von sechs geplanten) Wochen sitzen jetzt Regierung und Solidarnosc am runden Tisch, also Zeit für eine Zwischenbilanz. Einig ist man sich grundsätzlich über eine Wirtschaftsreform, auch die Zulassung von Solidarnosc ist nicht mehr strittig. Dagegen ist man bei der Öffnung der Massenmedien bislang kaum weitergekommen (siehe Interview). Und auch den rebellischen Studentenverband NZS will die Regierung nicht wieder zulassen. Viele NZS-Mitglieder waren auch unter den jugendlichen Demonstranten, die am vergangenen Freitag in der südpolnischen Stadt Krakau zusammengeknüppelt wurden. Die 5.000 wollten gegen das brutale Vorgehen der Polizei bei einer Demonstration der vorangegangenen Woche protestieren, wo mehrere Menschen verletzt worden waren.

„Der Teufel sitzt im Detail.“ Hinter diese Formel ziehen sich alle gerne zurück, wenn es am runden Tisch nicht mehr weitergeht. Tatsächlich haben beide Seiten ihre hauptsächlichen Verhandlungsziele im Prinzip erreicht: Über die Zulassung von Solidarinosc und Bauerngewerkschaft besteht grundsätzlich Einigkeit, und auch über das Regierungsessential - eine gemeinsam getragene Wirtschaftsreform - zeichnet sich ein Konsens ab. Selbst den Punkt „Unabhängigkeit der Richter“ hat man schon abgehakt.

Einheitsliste

oder Konkurrenz?

Dennoch ist jener Punkt, an dem jetzt die Verhandlungen haken und an dem sich das Schicksal des runden Tischs entscheiden kann, beileibe kein „Detail“: die Frage der Wahlen. Ein Angebot der Regierung, das vor Jahren noch sensationell gewesen wäre, ist durch die Ereignisse überholt: der Opposition bis zu vierzig Prozent der Parlamentssitze zu überlassen, ja sogar selbst auf die absolute Mehrheit zu verzichten. Die soll nach diesem Vorschlag nun nur noch die Koalition aus Bauernpartei, Demokratischer Partei und der Kommunistischen Partei (PVAP) haben.

Dafür soll dann die Opposition eine andere Kröte schlucken. Sie soll entweder auf einer Einheitsliste kandidieren oder aber die Sitzverteilung im voraus mit der Regierung aushandeln. Die Opposition hält das für einen Rückschritt. Wenn man das Wahlsystem schon ändere, dann doch in Richtung mehr Demokratie und nicht, um jetzt die Sitzverteilung auszumauscheln!

Manche in der Opposition würden es da vorziehen, das derzeitige System unangetastet zu lassen und sich auf ein Gebiet zu konzentrieren, auf dem allerdings die Regierung zu wenig Zugeständnissen bereit ist: die Massenmedien. Ein Vorgang bei der Diskussion in der zuständigen Unterkommission ist geradezu typisch: Nach langer Debatte, in der die Solidarnosc-Delegation unter anderem fast unwidersprochen die Legalisierung ihrer alten Wochenzeitung 'Tygodnik Solidarnosc‘ sowie die Zulassung neuer Verlage fordert, nachdem es selbst in der Frage der Zensur auf beiden Seiten Kompromißbereitschaft gab, meldet sich Regierungssprecher Urban zu Wort. Über den Zugang der Opposition zu Radio und Fernsehen brauche man nicht zu reden, den habe sie ja schon. Walesa sei ja schließlich schon einmal in einer Fernsehdebatte aufgetreten.

Über eine Legalisierung der Untergrundverlage, meint Urban, brauche man im übrigen nicht zu diskutieren, die Verlage könnten sich schließlich selbst legalisieren... indem sie sich der Zensur unterwürfen und Steuern zahlten. Krzysztof Kozlowski, Journalist des 'Tygodnik Powszechny‘ und Delegierter der Opposition: „Nach der Rede Urbans begann es zu funken.“ Offenbar haben die Massenmedien für die Staatsmacht ähnlich entscheidende Bedeutung wie Militär und Polizei.

Auch bei diesen Themen gibt es ja bislang keine Fortschritte. Während die Opposition eine Verminderung des Etats von Innen- und Verteidigungsministerium um ein Fünftel fordert - unter anderem um damit die Senkung des Lebensstandards durch die Wirtschaftsreform abzumildern -, hat der Sejm im laufenden Budget eine Steigerung „wegen zusätzlicher Aufgaben“ beschlossen. Welche Aufgaben das sein sollen, weiß niemand. Welchen Sinn, so fragt man sich bei Solidarnosc, hat dann ein Wahlkampf, wenn die Geheimpolizei nicht zu kontrollieren, und die Massenmedien nicht wirklich pluralistisch sind? Damit wird auch klar, daß die Lösungen am runden Tisch noch zusätzlich dadurch erschwert werden, daß Ergebnisse einer Unterkommission oft von denen der anderen abhängen.

In der Wirtschaftskommission existiert zum Beispiel eine fertige Erklärung aller Beteiligten zur polnischen Auslandsverschuldung. Veröffentlicht wird sie aber erst, wenn der runde Tisch erfolgreich abgeschlossen ist. Auch die Übereinkommen über die landesweite Zulassung von Solidarnosc und Bauerngewerkschaft treten erst dann in Kraft, wenn es in allen Bereichen zu einer Verständigung gekommen ist.

Streitpunkt

Studentenverband

Doch selbst was unter einem Erfolg des runden Tisches zu verstehen ist scheint unklar zu sein. Bisher gibt es kaum Zugeständnisse bei der Frage der Zulassung aufgelöster Vereinigungen wie etwa des Schriftstellerverbandes und des Journalistenverbandes, vor allem aber der Studentenvereinigung NZS. Unter den Studenten finden sind auch zahlreiche Kritiker des runden Tisches, zugleich aber ist es in der Opposition kaum umstritten, daß gerade die Studenten mit ihren Aktionen im Mai und August letzten Jahres den runden Tisch mit erkämpft haben.

Für die Staatsmacht ist der „extremistische Verband“ (Urban) aber schwer zu verdauen, nach Verhängung des Kriegsrechts wurde er noch schneller als Solidarnosc aufgelöst.

„Wir werden für alle den Pluralismus erkämpfen“, hatte Arbeiterführer Walesa versprochen, noch bevor der runde Tisch eingeweiht war. Nun ist er in der Pflicht. Doch soll man die Legalisierung der Gewerkschaft, der Bauernsolidarität, die Unabhängigkeit der Richter, soll man das alles wegen der Studenten gefährden? Andererseits: Die Studenten im Stich zu lassen nennt Solidarnosc-Sprecher Onyszkiewicz einen „faulen Kompromiß“ - ohne einen solchen aber ausdrücklich auszuschließen.

Einstweilen stellt sich die Frage „Alles oder nichts?“ noch nicht in dieser Schärfe, doch in solchen Punkten wie dem Studentenverband oder dem Wahlsystem liegen die Sollbruchstellen, die die Gegner des runden Tisches auf beiden Seiten ausnutzen können.

Die Staatsmacht scheint zu wissen, was sie will - ihre Beteiligung in den Unterkommissionen zeigt es: In der Gruppe für politische Reformen (die sich mit den Wahlen beschäftigt) drängt sich auf Regierungsseite alles, was Rang und Namen hat: Politbüromitglieder, ZK-Sekretäre und Regierungsvertreter. An den Tischen für Massenmedien und gesellschaftliche Vereinigungen sitzen dagegen vor allem Journalisten und Rechtsanwälte, von Entscheidungsträgern fehlt fast jede Spur.