Elektro-Polski und Rosa Luxemburg

Würden die vermeintlichen Ur-Berliner einmal einen Blick in das amtliche Telefonbuch werfen, die ganze Aufregung um den „polnischen Krempelmarkt“ und die auffällig vielen Kleinwagen mit den schwarzen Kennzeichen würde sich vielleicht etwas legen. Gleich spaltenweise legen die Borkowskis, Manirowskis und Schimanskis in den dicken gelben Verzeichnissen Zeugnis davon ab, daß Berlin seit rund 200 Jahren immer wieder Ziel polnischer Emigranten war. Namen wie Rosa Luxemburg und sogar schon die Endung „lin“ im Stadtnamen Berlin weisen auf jahrhundertealte kulturelle Einflüsse aus dem Nachbarland hin.

„Berlin“, so schreibt der polnische Journalist Grzegorz Zietkiewicz in seiner Broschüre Polen in Berlin, „ist neben Dresden die älteste Agglomeration polnischer Emigranten in Deutschland“ - eine Stadt, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg eigene polnische Schulvereine, Kulturverbände, Berufsgenossenschaften und Banken besaß. Etwa 80.000 Migranten polnischer Nationalität wies 1910 die Volkszählung für den Großraum Berlin nach, bevor sich der Druck der Nazis auf die polnische Bevölkerung verstärkte und deren eigene Institutionen aufgelöst wurden.

Heute leben nach offiziellen Statistiken 16.000 Polen in Berlin. Ihre tatsächliche Zahl wird auf bis zu 60.000 geschätzt. Denn zu den von den Behörden Erfaßten kommen Tausende von Spätaussiedlern hinzu, die - häufig unter Berufung auf „Volkslisten“ der Nazis - deutschstämmige Verwandte ausgegraben haben. Sie gelten nunmehr als Deutsche. Größer als ihre Zahl dürfte jedoch die Gruppe der Pendler sein, die - ohne bei der Ausländerbehörde registriert zu sein - in Berlin leben und arbeiten, um nach ein, zwei Monaten wieder in ihre Heimat zurückzukehren.

Nicht nur die geographische Nähe macht das Pendeln möglich. Wesentlich nachgeholfen haben bei Saisonarbeit und florierendem Im- und Exporthandel auch die besonderen Einreisebestimmungen Berlins. Auf Grundlage alliierten Rechts können Polen und Ungarn für jeweils 31 Tage im Jahr ohne Visum in die Mauerstadt reisen. Viele nutzen das zu einem unbefristeten (illegalen) Aufenthalt. Seit die Warschauer Behörden Anfang des Jahres ihre Paßvergabebestimmungen gelockert haben, können polnische Bürger nun völlig ungehindert nach West-Berlin ausreisen was den Weg an den Kurfürstendamm und nach Kreuzberg sogar noch ein facher macht als die Reise in das sozialistische Bruder land DDR.

Auch für Polen, die ganz legal länger als die zugebilligten 31 Tage in West-Berlin bleiben wollen, hat Berlin eine Sonderregelung getroffen: Sofern sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten, können sie eine einjährige Duldung erhalten. Und diejenigen Polen, die erfolglos einen Asylantrag gestellt haben, werden nicht abgeschoben, sondern ebenfalls geduldet. Eine Arbeits erlaubnis bekommen sie jedoch nur in seltenen Ausnahmefällen.

Auf ihre Art haben sich die Berliner in den letzten Jahren an die Zuwanderer aus Polen gewöhnt: Zwar hört man an den Stammtischen schon wieder altbekannte Klischees über die „Polacken“, doch wer Probleme mit der häuslichen Stromversorgung hat, geht eben zu „Elektro-Polski“, wie die häufig gutorganisierten Schwarzarbeitsfirmen im Volksmund heißen. Wer seine Wohnung renovieren lassen will, ruft „Maler-Polski“ an, und wer schnell einen Babysitter oder eine Putzfrau braucht, sucht im Kleinanzeigenteil der Zeitungen nach dem Namen einer Polin.

Ganze Baufirmen leben inzwischen von diesen billigen Arbeitskräften, die aus wirtschaftlicher Not für einen oder zwei Monate nach Berlin kommen, um hier innerhalb von vier Wochen ihren heimischen Jahreslohn weit zu übertreffen. Polnische Wertarbeit steht besonders im handwerklichen Bereich hoch im Kurs. Dennoch suchen immer mehr Polen vergeblich nach einer Arbeit. Am schwarzen Brett in der katholischen Kirche in der Tempelhofer Götzstraße, wo jeden Sonntag mehrere tausend Polen einen Gottesdienst in ihrer Landessprache abhalten, mehren sich die Zettel mit der Aufschrift: „Suche Arbeit jedweder Art“. „Etliche Anzeichen“, so der Journalist Zietkiewicz, „deuten auf Verhältnisse hin, wie Wallraff sie in seinem Buch 'Ganz unten‘ beschrieben hat.“

Hinter den polnischen Händlern, die zur Zeit für Aufregung sorgen, und den immer wieder in der Presse auftauchenden polnischen Schwarzarbeitern verschwindet eine andere wichtige Gruppe von Zuwanderern: In Berlin leben derzeit mehr polnische Intellektuelle und Künstler als in jeder polnischen Stadt. Schriftsteller, Bildhauer, Musiker, Historiker, Filmemacher, Journalisten für sie alle wurde Berlin nach der Verhängung des Kriegszustandes in Polen zum politischen Exil. Sie waren Anfang der 80er Jahre die ersten im Zuge der neuen Einwanderungsbewegung. Ihnen ist es in erster Linie zu verdanken, daß sich in Berlin nicht nur eine polnische (Sub -)Kultur entwickelt hat, sondern die Zuwanderer auch auf ein Netz von Informations- und Beratungseinrichtungen zurückgreifen können. So gibt es neben einem Polnischen Zentrum, polnischen Restaurants und Verlagen ein Kultur- und Nachrichtenmagazin für die Polen im Berliner Kabelfernsehen, einen Buchladen mit polnischsprachiger Literatur und ein eigenes deutsch-polnisches Stadtmagazin.

Vera Gaserow (vormals Gasierowski)/E.K