Zwei Bücher und zwei Begriffe vom Heiligen

■ John Berger über die „Rushdie-Affäre“

Die Rushdie-Affäre hat schon einige Menschenleben gekostet und sie droht noch viele, viele mehr zu kosten. Darum muß man über sie mit einer gewissermaßen globalen Objektivität nachdenken; sie darf nicht (wie es derzeit geschieht) zur Bestätigung von Vorurteilen und volltönenenden, aber unüberprüften Prinzipien genutzt werden.

Aus zwei Büchern hat sie die Affäre entwickelt. Das eine, der Koran, ist ein Buch, das Millionen Menschen geholfen hat und noch hilft ihrem Leben und ihrem Tod einen Sinn zu geben. Das andere, Salman Rushdies Roman, ist eine reichlich arrogante Geschichte um einen, der spielt, Gott zu sein, die, meines Erachtens, nach ein paar Jahren vergessen wäre, hätte sie jetzt nicht diesen Sturm entfacht. Das erste Buch spricht von Verantwortung, das zweite ist eine Geschichte über Verantwortungslosigkeit.

Die beiden Bücher stehen im Augenblick für zwei unterschiedliche Auffassungen vom Heiligen. Der Koran ist ein heiliges Buch im traditionellsten und tiefsten Sinn des Wortes, ein Text, der dem Propheten vom Erzengel Gabriel, dem Boten des Einzigen und Einigen Gottes, gesandt wurde. Rushdies Buch wurde von der westlichen Welt heiliggesprochen, denn es steht für das Recht des Autors auf freie Meinungsäußerung. In Europa hat bekanntlich die Kunst den Platz der Religion eingenommen. (Kunst ist auch eine Ware. Rushdie hat immerhin einen Vorschuß von 850 000 Pfund Sterling für das Buch bekommen.) Wie lassen sich diese beiden Begriffe des Heiligen mit einander versöhnen?

Mit Rushdies Buch wird das Recht auf freie Meinungsäußerung verteidigt, weil er vom Ayatollah Khomeini zum Tode verurteilt wurde. Das Urteil ist darum so streng, weil Rushdie willentlich (er wurde als Muslim erzogen) das Heiligste vom Heiligen beschmutzte.

Khomeini ist ein fanatischer Tyrann, dessen erste Opfer zahllose Iraner sind. Aber die tiefe Beleidigung, die Rushdies Buch für alle Muslime in der ganzen Welt darstellt, sollte von Khomeinis Haß und seiner Erbarmungslosigkeit getrennt werden. Schließlich wird diesmal seine Wut (wenn auch nicht notwendig Rushdies Todesurteil) von der Mehrheit der Moslems geteilt.

Europa verteidigt die Rechte des Künstlers, weil die Geschichte gezeigt hat, daß ihr Verlust zu Schlimmerem führt und das dieses Schlimmere über die Belange der Kunst weit hinausgeht. Aber, man muß auch daran erinnern, daß die Muslime in Europa, die ja als erste auf die Veröffentlichung des Buches reagierten, in ihrer Mehrheit ständig unter rassistischen Beschimpfungen leiden und die, weil die Grundlage ihres Glaubens beleidigt wurde, so reagieren, wie Gläubige schon immer auf Blasphemie reagiert haben: mit wilder Wut.

Offen gesagt, ich glaube nicht, daß meine hier geäußerten Argumente meinungsbildend wirken werden. Die kolonialen Vorurteile sitzen zu tief. Einige werden fragen: Welche Lösung schlägst Du vor?

Ich nehme an, daß Salman Rushdie, wenn er nicht von der Kette der Ereignisse gefangen gehalten wird, die ihm ganz aus der Kontrolle geraten ist, vielleicht jetzt doch seine Verleger in der ganzen Welt darum bittet, keine neuen Ausgaben der „Satanischen Verse“ herauszubringen. Nicht weil er selbst mit dem Tode bedroht wird, sondern weil das Leben von Menschen bedroht ist, die ganz unschuldig sind: sowohl, was das Schreiben als auch das Lesen des Buches betrifft. Wenn das erreicht ist, wird möglicherweise eine Reihe führender Moslems und muslimischer Staatsmänner bereit sein, die Praxis des Ayatollahs, Mordkommandos in die Welt zu schicken, zu verurteilen.

Sonst besteht die Gefahr, daß ein Heiliger Krieg ausbricht, im 20. Jahrhundert, der durch die beängstigende Rechthaberei auf beiden Seiten, immer wieder aufflackern würde: auf Flughäfen, in Fußgängerzonen, in der U-Bahn, in Stadtzentren, überall dort'wo sich schuldlose Menschen ungeschützt in der Öffentlichkeit bewegen.

Aus: The Guardian 25.2.89

Von John Berger ist u.a. auf deutsch erschienen: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Verlag Klaus Wagenbach, 24,80 DM