Rushdie und der Wal

■ Der in den USA lebende und lehrende Palästinenser erklärt die ungeheuren Auswirkungen der „Satanischen Verse“ auf die moslemische Welt und verteidigt das Recht Rushdies, gehört zu werden

Edward Said

Salman Rushdie veröffentlichte 1984 einen hervorragenden Essay in der Zeitschrift 'Granta‘ mit dem Titel Außerhalb des Wales. Er wies nach, daß der Schriftsteller von heute sich nicht im Inneren des Wales befinde, sich nicht abschirmen könne gegen Geschichte und Politik. „Es gibt kein Versteck in der modernen Welt“, sagt Rushdie, „aber auch keine Gewißheiten“.

Diese Worte klingen wie eine Prophezeiung der aktuellen Situation Rushdies, nicht nur weil er sich aus Angst um sein Leben verstecken muß, sondern weil er ein Buch geschrieben hat, das verunsicherte, Verwunderung und Ärger provozierte.

Rushdie sagt: „Wenn die Schriftsteller es den Politikern überlassen, Weltbilder zu entwerfen, wäre das der denkbar erbärmlichste historische Verzicht. Der unaufhörliche Sturm, der permanente Streit, die Dialektik der Geschichte finden außerhalb des Wales statt. Es besteht eine unmittelbare Notwendigkeit für politische Fiktion, für Bücher, die neue und bessere Entwürfe der Realität vorstellen, die neue Sprachen erfinden, damit wir die Welt besser verstehen können. Außerhalb des Wales sehen wir, daß die Geschichte uns alle entwurzelt hat, daß wir alle kontaminiert sind von Politik und Geschichte. Es wäre völlig falsch, eine Welt zu schaffen, in der niemand arbeiten, niemand essen, hassen, lieben oder schlafen muß. Dort wo wir stehen ist es dringend notwendig - und aufregend dazu - sich mit den Problemen herumzuschlagen, die die Politik in die Welt gesetzt hat, denn Politik ist mal Farce, mal Tragödie und manchmal beides zugleich. Der Schriftsteller ist gezwungen zu akzeptieren, daß er ein Teil der Menge ist, Teil des Ozeans, Teil des Sturms...“

Die „Satanischen Verse“ sind erstaunliche und ungeheuer erfindungsreiche Fiktion. Und diese ist, wie ihr Autor, in der Geschichte, der Welt, der Menge, im Sturm.

Es ist, auf jede nur denkbare Weise, ein Werk der bewußten Überschreitung und gleicht darin den zentralen islamischen Erzählungen, ahmt sie mit verwegener Kühnheit nach. So demonstriert der Autor sein ungebrochenes Engagement für zeitgenössische Geschichte und Politik.

Salman Rushdie, hervorragender Schriftsteller und Intellektueller, hat sich für die Sache der Einwanderer, für die Rechte der Schwarzen und der Palästinenser stark gemacht hat, ist in seinen Büchern gegen Imperialismus und Rassismus ebenso vorgegangen wie gegen die Zensur. Ohne zu zögern hat er sich jederzeit bereit erklärt, dort seine Stimme zu erheben, wo sie gebraucht wurde.

Was die Moslems an diesem Buch schockiert, ist wohl Rushdies intime Kenntnis der religiösen und kulturellen Materie, mit der er ebenso gründlich wie komisch spielt. Dieses respektlose und - als Atheist fällt es mir schwer, dieses Wort zu gebrauchen - blasphemische Portrait des Islam, geschrieben von einem Moslem, verletzt den Glauben und das Gefühl der Anhänger des Islam sowohl in der östlichen'als auch in der westlichen Welt.

Das kulturelle Umfeld reagiert auf solche überschreitungen abweisend, schrecklich und lächerlich zugleich. Die meisten Moslems sind unglücklich über ihre derzeitige Lage zwischen umma (der islamischen Gemeinschaft) und der westlichen Zivilisation. Wieviele islamische Schriftsteller, wieviele Moslems aus Ägypten, dem Irak, Palästina, Pakistan oder Senegal werden im Westen, wenn schon nicht viel gelesen, so doch wenigstens veröffentlicht? Woher rührt diese Ignoranz wenn nicht aus der Verachtung, der Interesselosigkeit und der Furcht, mit der islamische Dinge dort betrachtet werden?

Israel hat Hunderte von Büchern in den besetzten palästinensischen Gebieten verboten, palästinensische Schriftsteller werden ohne Prozess ins Gefängnis geworfen: Wo sind die Proteste westlicher Autoren und Intellektueller? Islam, das ist in ihren Augen Terrorismus und Fundamentalismus, und die jetzige grauenhafte Brutalität Khomeinis entspricht genau ihrem Vorurteil. Die Wut gegen den Islam wächst wie das Mitleid und die westliche Rechthaberei.

Darüberhinaus stellt sich für Angehörige des Islam auch folgende Frage: Warum muß ausgerechnet ein Moslem, der unsere Welt verteidigen und wohlwollend interpretieren könnte, uns nun so rüde und auf abgefeimte Weise respektlos darstellen. Und das vor einem Publikum, das gegen unsere Tradition, Religion, Sprache und Herkunft sowieso schon voreingenommen ist? Mit anderen Worten: Warum muß ein Mitglied unserer Kultur wie schon eine Unzahl von Orientalisten vor ihm uns noch exotischer machen?

Kein Versuch einer Antwort darf von der Berechtigung und Dringlichkeit dieser Fragen absehen. Dennoch muß erst einmal gesagt werden, daß die heutige Welt, auch wenn sie extrem vielschichtig ist, eine Welt ist: Die Geschichte der Menschheit, auch wenn sie aus vielen Einzelheiten und Besonderheiten besteht, ist ebenfalls eine.

In dieser einen Welt hat Salman Rushdie aus der Gemeinschaft des Islam für den Westen über den Islam geschrieben. Die „Satanischen Verse“ sind eine Selbstdarstellung. Aber jeder sollte die Möglichkeit haben, den Roman zu lesen, ihn zu interpretieren, zu verstehen, zu akzeptieren, oder auch abzulehnen. Für beide Seiten sollte es möglich sein, die Brillanz von Rushdies Werk anzuerkennen und seine gotteslästerliche Grenzüberschreitung zumindest zu bemerken.

Dieses besondere Paradox entspricht auch dem Schicksal von Mischlingen und Einwanderern - anderen Grenzüberschreitern und damit dem Schicksal unserer heutigen Welt: Es gibt das pure, reine, unbefleckte Wesentliche nicht, auf das wir zurückgreifen könnten, es gibt weder die reine Lehre des Islam, des Christentums, des Judentums, des Orients, des Okzidents, des Amerikanismus. Rushdies Werk handelt nicht von der Mischung, es ist diese Mischung selbst.

Es ist daher unvermeidlich, die Erzählungen des Islam zu entlarven als eine Sammlung heterogener Geschichten über Schauspieler, Gauner, Propheten, Teufel, Hexen, Helden und Heldinnen. Die meisten von uns sind an so komplizierte Mischungen nicht gewöhnt, aber, wie Rushdie in seinem Essay sagt, „in dieser Welt ohne stille Ecken gibt es kein Entkommen vor der Geschichte, vor dem Tohuwabohu, all dem schrecklichen lärmenden Theater.“

Wir vom moslemischen Teil dieser Welt müssen hinzufügen, daß wir es nicht akzeptieren können, wenn demokratische Freiheiten abgeschafft werden, um den Islam zu schützen. Keine Kultur oder Religion dieser Welt ist selbst frei von dieser Gewalt, von dieser Verweigerung der Menschenrechte. Wenn wir Rushdies Hilfe in der Vergangenheit angenommen haben, müssen wir jetzt seine Sicherheit garantieren und sein Recht zu sagen, was er zu sagen hat. Sich mit ihm über sein Werk zu streiten darf niemals heißen, daß der Bann über ihn verhängt oder er mit physischer Gewalt bedroht wird.

Observer 26.2.89

Von Edward Said ist auf deutsch lieferbar: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, Klett-Cotta, 276 Seiten, 34 DM