Words apart

■ Carlos Fuentes über den Rushdie-Fall

Mikhael Bakhtin war wahrscheinlich der größte Roman -Theoretiker unseres Jahrhunderts. Sein Leben ist so beispielhaft wie seine Bücher. Stalins Häscher verbannten ihn wegen unorthodoxer Ideen in abgelegene Gegenden der Sowjetunion. In der Breschnew-Ära konnte er nicht rehabilitiert werden, einfach weil es nie eine Anklage gegen ihn gegeben hatte. Ein Opfer gesichtsloser Intoleranz seine politische Nemesis war Stalin, sein literarisches Symbol aber Kafka.

Er war und ist kein Einzelfall. Im Zusammenhang mit dem Rushdie-Fall habe ich in diesen letzten Wochen oft an ihn gedacht. Rushdies Werk ist ein perfekter Beleg für Bakhtins These, daß wir in einem Zeitalter konkurrierender Sprachen leben. Kein Schauplatz ist geeigneter, die Sprachen in Konflikt geraten zu lassen, nirgends kann man in Spannung und Widerstreit nicht nur gegensätzliche Charaktere, sondern auch verschiedene historische Epochen, soziale Klassen und andere Realitäten des menschlichen Lebens besser aufeinandertreffen lassen als im Roman. Im Roman können Realitäten, die normalerweise getrennt sind, sich berühren und ein Zwiegespräch halten.

In einem Zwiegespräch hat keiner nur recht; denn keiner der Sprecher kann die absolute Wahrheit oder eine absolute Verfügung über die Geschichte für sich beanspruchen. Ich und der andere, so wie die Geschichte, die wir beide machen, sind noch nicht. Beide sind unvollendet und werden noch dauern. Seinem Wesen nach zeigt der Roman, daß wir werden. Es gibt keine endgültige Lösung. Es gibt kein letztes Wort.

Das ist es auch, was Milan Kundera meint, wenn er sagt, daß der Roman Männer und Frauen stets neu definiert, aber als Probleme, nie als besiegelte Wahrheiten. Aber das ist es auch, was die Ayatollahs dieser Welt niemals hinnehmen werden. Für Ayatollahs haben heilige Texte die Wirklichkeit ein für alle Mal festgelegt. Ein heiliger Text aber ist seiner Definition nach ein vollständiger, exklusiver Text. Man kann ihm nichts hinzufügen. Er kommuniziert nicht mit anderen. Er ist sein eigener Lautsprecher. Den Unsicheren bietet er eine perfekte Zuflucht, und wenn sie darin erst ihren Halt gefunden haben, exkommunizieren sie die anderen, die ihre Sicherheit nicht im Dogma, sondern in der Wahrheitssuche selbst finden. Ich denke an Luis Bunuel, der immer sagte: „Gerne würde ich mein Leben geben für einen, der die Wahrheit sucht. Aber dem, der glaubt sie gefunden zu haben, würde ich das Leben mit Vergnügen nehmen.“

Verwirklicht wird diese surrealistische Devise nun aufs Dramatischste von der anderen Seite. Ein Autor, der die Wahrheit sucht, wird von einer Priesterhierarchie zum Tode verurteilt, die ihre tiefe Unsicherheit durch einen absoluten Wahrheitsanspruch bemäntelt. Dennoch haben die Ayatollahs der Literatur, womöglich gar dem Islam, einen großen Dienst erwiesen. Sie haben ihren eigenen Glauben beschmutzt und karikiert. Dabei haben sie das unstete Augenmerk der Welt auf eine Macht der Worte gelenkt, wie sie in ihrer Philosophie ganz bestimmt nicht vorgesehen ist, die Macht der Literatur und Einbildungskraft.

Die Unduldsamkeit der Ayatollahs wirft nicht nur Licht auf Salman Rushdie und seine Arbeit mit der Einbildungskraft. Die Sektierer, die diese Einbildungskraft für so gefährlich erklären, daß sie sie mit dem Tode bestrafen wollen, stellen die ganze Welt vor die Frage, was denn die Literatur so Machtvolles und eben Gefährliches zu sagen haben könnte.

In einem zu Recht berühmten Kommentar hat Philip Roth einmal zwischen westlichen und östlichen Reaktionen unterschieden. In totalitären Regimes, sagt Roth, ist alles wichtig und nichts geht. In den liberalen Demokratien ist nichts wichtig und alles geht. Die Satanic Verses haben das „nichts geht“ der Intoleranz mitten in den öffentlichen Raum der Indifferenz geschleudert. Plötzlich merken wir, daß alles wichtig ist, ob es geht oder nicht.

Ich glaube nicht, daß es irgendeinen intelligenten Schriftsteller in Europa, Nord- und Südamerika, Asien, Afrika oder wo auch immer gibt, der nicht bestürzt ist über die Möglichkeiten, die der Ayatollah-Kreuzzug gegen die Freiheit der Einbildungskraft so melodramatisch eröffnet. Das kann hier nicht passieren? Es kann, darauf kannst du deinen letzten Dollar, Franc oder Peso verwetten.

Italo Calvino, der Roths Ansichten teilt, schrieb einmal, es sei ein schlechtes Zeichen, vor allem für die Literatur, wenn Politiker ihr zuviel Aufmerksamkeit widmen. Aber, fügte er hinzu, es ist auch ein schlechtes Zeichen, wenn die Politiker das Wort „Literatur“ nicht hören wollen. Es bedeutet, daß die Gesellschaft vor jeder Sprachbenutzung Angst bekommen hat, die ihre Selbstgewißheiten erschüttern könnte.

Ich habe Romane (jedenfalls die, die ich zu schreiben versuche) immer als Kreuzungen zwischen dem individuellen und dem kollektiven Schicksal von Männern und Frauen begriffen. Beide vorläufig, beide unfertig, aber beide nur sagbar und verständlich, wenn vorher gesagt und verstanden wurde, daß Wahrheit in der Dichtung Suche nach Wahrheit ist; nichts ist im vorhinein festgelegt und Wissen ist nur, was wir beide - Leser und Schreiber - uns vorstellen.

Einen anderen Weg, die Möglichkeiten unseres unfertigen Menschengeschlechts frei und erfolgreich auszuloten, gibt es nicht. So wie es keinen anderen Weg gibt, sich dem Tod der Vergangenheit zu verweigern und sie durch die Erinnerung zu vergegenwärtigen. Und die Zukunft lebendig zu machen, indem wir unserm Wunsch Gestalt geben.

Daß diese wesentlichen Tätigkeiten des menschlichen Geistes nun im Namen eines blinden und doch allwissenden, gelähmten und doch menschenmordenden Dogmas geleugnet werden sollen, ist zugleich eine Farce und ein Verbrechen. Salman Rushdie hat dem wahren religiösen Geist einen Dienst erwiesen, indem er die Spannungen und Ähnlichkeiten, die ihn mit dem weltlichen Geist verbinden, glänzend ins Bild setzt. Humor kann da nicht fehlen, denn Sprache kann heute nicht mehr ohne Bewußtsein ihrer inneren Mannigfaltigkeit sein. Wenn wir alle alles verstünden, wäre Epik möglich. Aber nicht Dichtung. Der Roman ist aus der Tatsache entstanden, daß wir uns nicht mehr länger verstehen. Sprache als ein einheitliches, orthodoxes Verständigungsmittel ist in sich zusammengebrochen. Don Quichotte und Sancho, die Shandy -Brüder, Herr und Frau Karenin: Ihre Romane sind die Komödie (oder das Drama) ihrer Mißverständnisse. Wer eine Einheitssprache festlegt, tötet den Roman. Und die Gesellschaft.

Nach dem, was mit Salman Rushdie und den Satanic Verses geschehen ist, hoffe ich, daß jeder das versteht. Dichtung ist kein Spaß. Sie ist ein Ausdruck der kulturellen, persönlichen und geistigen Verschiedenartigkeit des Menschengeschlechts.

Dichtung ist der Vorbote einer multipolaren und multikulturellen Welt, in der keine einzige Philosophie, keine einzelne Lösung den extremen Reichtum des kulturellen Erbes beiseiteschieben kann. Unsere Zukunft hängt davon ab, daß wir den verschiedenen Rassen und Kulturen in einer Welt sich verschiebender, verfallender und neu auftauchender Machtzentren eine immer größere Freiheit geben, sich auszudrücken. Salman Rushdie hat einem Dilemma Form gegeben, dem im Westen zuvor auf unterschiedlichsten Ebenen die Romane von Mauriac und Camus und die Filme von Bergman, Fellini und Bu_nuel Ausdruck gegeben hatten: Gibt es eine Revolution zurück zum Heiligen? Gibt es eine Religiosität außerhalb des Dogmas und der Hierarchien? Das sind die Grundfragen jeder Freiheitsidee. Aber die Last der Freiheit, wie Dostojewskis Großinquisitor wußte, kann schwerer wiegen als die Ketten der persönlichen Freiheit. „Leben sollen meine Ketten!“, riefen die spanischen Patrioten, die Goya malte, als ihre revolutionären Befreier, die napoleonischen Truppen, sie niedermähten. Und andererseits, erklärte Georg Büchner, ist die Menschheit, seit Gott nicht mehr existiert, verantwortlich für ihr Schicksal und kann die Schuld nicht mehr abwälzen.

Das Zeitalter der Moderne hat die Freiheit zum Guten wie zum Bösen eröffnet und uns allen damit die Pflicht auferlegt, beide zu relativieren. Das absolut Gute heißt Polyanna, das absolut Böse Hitler. Relativ Gutes heißt Simone Weil, relativ Böses de Sade. Aber die Bezeichnung Relativität ist nicht länger Tugend, sondern Wert. Schlechte Literatur bleibt tugendhaft, sie läßt die Guten gegen die Bösen antreten. Gute Literatur erhebt sich auf die Ebene von Werten, die miteinander im Streit liegen. Dies hat Salman Rushdie in all seinen Romanen geleistet.

Daß er den Konflikt innerhalb des Islams dramatisiert, enthebt uns, die der jüdisch-christlichen Tradition angehören, nicht davon, nach den Quellen unserer Intoleranz zu sehen, nach unseren Grenzen, wo unsere eigenen Symbole in Konflikt geraten. Lateinamerikanische Künstler sind zum Schweigen gebracht worden oder „verschwunden“, weil sie sich nicht zu den Lautsprechern der offiziellen Wahrheiten unserer lokalen, meist militärischen, Ayatollahs gemacht haben. In Europa sind Jean-Luc Godard und in den USA Martin Scorsese dafür angegriffen worden, daß sie im katholischen Glauben erforschten, was Rushdie im Islam erforschte, nämlich die Kombinationen, die Möglichkeiten, die Geister hinter den Dogmen. Jüdische Schriftsteller und Komödianten haben sich über das Judentum lustig gemacht. Wo sind die Grenzen? Was wäre, wenn ein jüdischer Schriftsteller sich Anne Frank als Hure vorstellte? Was wäre, wenn ein katholischer Autor Joseph als eifersüchtigen Sohnesmörder und eigentlichen Verräter Christi darstellen würde?

Salman Rushdies Erfahrung mit der Intoleranz, das ist das Alarmierende, hat eine brütende Allianz von kommerzieller Feigheit und fundamentalistischer Intoleranz offengelegt, die die selbsterklärten Inseln der Vernunft in allen Gesellschaften umzingelt. Sekten und Kommerz koexistieren in Georgia wie in Guatemala. Diesen beiden Faktoren alles überlassen - Buchhändler und Verleger, die vor terroristischen Forderungen in die Knie gehen, und Zeloten aller Glaubensrichtungen, ob Moslems, Christen oder Juden, die sich als sektiererische Brüder im Geiste entdecken - und die Grenzen der Freiheit werden in unserer Welt bestürzend schnell enger gezogen werden.

Die Verteidigung Salman Rushdies ist eine Verteidigung unserer selbst. Es ist eine Sache des Stolzes zu sagen, daß Rushdie uns allen Anlaß gegeben hat, den Beruf des Schriftstellers auf dem höchsten Niveau der Kreativität, Einbildungskraft, Intelligenz und sozialen Verantwortung zu verstehen und in Schutz zu nehmen.

The Guardian 24.2.89

Von Carlos Fuentes ist u.a. lieferbar: Der alte Gringo, rororo, 221 Seiten, 7,80 DM; Verbranntes Wasser, Deutsche Verlagsanstalt, 176 Seiten, 28 DM