Aus Angst vor dem Tod Selbstmord begehen?

■ Die Grünen vor dem Parteitag: Streitgespräch über den Karlsruher Vorstandssturz, Berliner Koalitionsverhandlungen und Urabstimmung über den Kurs der Partei zwischen Ruth Hammerbacher, Sprecherkandidatin der Realos, „Aufbruch„-Vorstandskandidat Ralf Fücks und dem Ökosozialisten Thomas Ebermann

taz: Nach dem Vorstandssturz von Karlsruhe und der eingeleiteten Urabstimmung ist der „Aufbruch“ im Aufwind. Aber habt ihr für die Weiterentwicklung der Partei mehr als die Hoffnung auf Veränderung anzubieten?

Ralf Fücks: Es gibt bereits eine reale Entwicklung seit gut einem Jahr, die wir mit dem Urabstimmungsprojekt angestoßen haben, um aus der alten Einfalt des Grabenkriegs des realo -fundamentalistischen Flügels zu einer neuen Vielfalt in der Partei zu kommen, also einen Prozeß der politischen Differenzierung einzuleiten, der uns wieder dialog- und handlungsfähig macht. Die alte Blockierung macht uns dumm; so ist die Debatte über die gesellschaftliche Entwicklung zum Großteil an uns vorbeigegangen.

Ruth Hammerbacher: Ich hoffe, die Bundesvorstandswahl führt dazu, das an Strömungen zu repräsentieren, was tatsächlich vorhanden ist. Auch die Konfrontation, daß sich der Bundesvorstand als Kampforgan der Fundis gegen die Bundestagsfraktion verstanden hat und dadurch eine teilweise Blockierung der politischen Arbeit bewirkt hat, muß überwunden werden.

Thomas Ebermann: Ich befürchte, der Vorstand wird den aus meiner Sicht notwendigen Gegenpol zur Fraktion nicht bilden. Er wird wichtigen politischen Vorgängen nicht entgegenwirken, wie der Wiederwahl Weizsäckers, wo mit den Stimmen der Grünen ein „Konsens der Demokraten“ manifestiert wird. Ich erhoffe mir, daß nicht so sehr im schlechten Sinne Kandidatenkür ansteht. Jeder Kandidat ist bemüht, optimal integrativ und fabelhaft sympathisch zu erscheinen. Jeder erhöht seine Wahlchancen, der möglichst oft das Wort Integration, Ausgleich und Kooperation benutzt.

Fücks: Du äußerst dich hämisch über Eigenschaften, ohne die die Grünen nicht existenz- und entwicklungsfähig sind. Ohne ein sorgfältiges Achten auf die Gemeinsamkeiten als Basis für das Austragen von Differenzen gibt es höchstens noch einen taktischen Zusammenhalt, weil sich keine Fraktion stark genug fühlt, die Grünen zu übernehmen. Ohne Kooperation als politischen Stil und ohne den Versuch, ein handlungsfähiges Zentrum zu bilden, fallen die Grünen auseinander. Der Appell: „Streitet euch nicht“ wäre tatsächlich unpolitisch. Aber es gibt sehr verschiedene Arten, sich zu streiten.

Ihr redet von neuer Vielfalt und Repräsentanz der Strömungen. Ist die Krise der Grünen nicht gerade die Vielfalt; daß ein halbes Dutzend Strömungen aufeinander einschlagen?

Hammerbacher: Integration der Vielfalt kann aber nicht heißen, daß auf Mehrheitsentscheidungen über zentrale politische Fragen verzichtet wird. Ich sehe in der Forderung nach „Integration“ auch die Gefahr, daß „Integration“ zu einem formalen, konfliktverdeckenden Begriff wird. Letztlich werden die Delegierten auf der Bundesversammlung anhand der von den KandidatInnen vorgestellten Positionen entscheiden müssen, welche politische Linie sie für den neuen Bundesvorstand wollen.

Fücks: Wenn sie im alten Stil aufeinander einschlagen, ist wenig gewonnen. Aber zunehmend kommt eine produktive Auseinandersetzung in Gang, die die Freund-Feind-Wahrnehmung auflöst und wahrnehmen läßt, daß viele Differenzen eher gradueller Natur sind und es in keiner Strömung Patentrezepte und fertige Wahrheiten gibt.

Man müsse auch der Linken einen „guten Ausweg“ aus ihrer Identitätskrise verschaffen, hat der „Aufbruch“ gesagt. Ist das politisch gemeint oder bloße Sozialarbeit?

Fücks: Für mich ist nicht viel gewonnen, wenn der Flügel, der sich als links definiert, zerrieben wird und damit einfach der alte Gegenpart in Gestalt des realpolitischen Blocks in der Partei triumphiert.

...mit Ebermann gegen Schily?

Gegengewicht

zum Yuppietum

Fücks: Nein, das wäre eine Politik der taktischen Bündnisse auf einer machtpolitischen Ebene. Das ist uninteressant. Für mich geht es um die Frage, ob die Linken die Konsequenzen aus der eigenen Niederlage ziehen. Sich wie Ebermann auf zehn Jahre alte Positionen zurückzuziehen und die Sammlung der radikalen Linken zu propagieren, halte ich für einen ganz fatalen Rückfall. Ich habe ein großes Interesse, daß dieses radikale, fundamental-oppositionelle Potential in der Partei sich nicht verabschiedet, sondern auf einen solchen Prozeß der Neuorientierung einläßt, und zwar auch als Gegengewicht realer Yuppie-Tendenzen in der Partei. Aber ich werde den Teufel tun, das gesamte realpolitische Spektrum mit einer solchen sozialen Tendenz gleichzusetzen, sich abzumelden aus bestimmten sozialen Fragestellungen oder einer radikalen Parteinahme für Minderheiten. Dafür ist es wichtig, daß es innerhalb der Partei ein waches Gegengewicht gibt.

Ist das, was Ralf schlacksig Yuppietum nennt, die „strukturell konservative Mehrheit“ in den Grünen, von der du sprichst?

Ebermann: Es ist richtig, daß sich die Partei einer sich beschleunigenden Veränderung unterzieht. Wir reisen auf den Parteitag als politisch geschlagene, als marginalisierte Strömung. Klarzumachen, daß man den Kurs der Anpassung nicht mitträgt und dafür nicht zur Verfügung steht, ist im Moment unsere politische Rolle, nachdem der alte Bundesvorstand mit einer der häßlichsten und von Intrigen nur so gespickten Kampagne um den sogenannten Finanzskandal um das Haus Wittgenstein abgesägt worden ist.

Hammerbacher: Das ist deine Dolchstoß-Legende. Der abgewählte Bundesvorstand ist nicht abgewählt worden aus ausschließlich politischen Gründen. Der Tropfen, der das Faß zum überlaufen gebracht hat, hat darin bestanden, daß der Bundesvorstand nicht offen, sondern verdeckt mit Fehlern und Mißwirtschaft umgegangen ist.

Fücks: Der Bundesvorstand wäre nicht gefallen, wenn er nicht jede Kritik an seinem Handeln als Majestätsbeleidigung und Rechtsputsch interpretiert hätte. Er hat selbst das Junktim zwischen Finanzfrage und Machtfrage gestellt. Es herrschte eine Bunkermentalität, sich als die letzten Aufrechten zu begreifen, und ringsherum ist die innerparteiische Reaktion im Vormarsch. Das haben sich die Delegierten nicht bieten lassen.

Ebermann: Die Ursache war, das der Vorstand politisch drastisch in die Minderheit gekommen ist. Aber es wäre doch anständig, ihn dann politisch zu stürzen und nicht persönliche Gemeinheiten nachzuschieben. Aber schwerer als der Sturz des Vorstands in Karlsruhe wiegt die Entwicklung in Berlin. In der Partei ist der qualitative Unterschied, den Linke früher behauptet haben, zwischen Koalitions- und Tolerierungsoption fast verschwunden.

Vielleicht ist bloß deine Position historisch überholt, die sagt, wir sind da drin, mischen auf und mit, aber mit uns gibt es keine Mehrheiten?

Reaktionärer Dreck

Ebermann: Historisch überholt kann immer zweierlei bedeuten: daß eine Sache aus der Mode ist oder daß etwas falsch ist. Es gibt gute Gründe zu glauben, daß diese Gesellschaft, die auf festen politischen und ökonomischen Machtverhaltnissen basiert, von Grünen, wenn sie ihrem politischen Ansatz treu bleiben, nicht regierbar ist. Das sag ich als Linker, der eine bestimmte Festlegung der Gegnerschaft zu diesem politisch-ökonomischen System verkörpern will.

Fücks: Das ist immer noch die alte Fixierung auf die Machtfrage, ohne die vorher nichts geht.

Ebermann: Nein, es ist die Orientierung auf die Außerstaatlichkeit.

Fücks: Die ist fiktiv.

Ebermann: Wenn man sich anschaut, auf was sich SPD und AL geeinigt haben, dann muß ich sagen, SPD und AL haben ein Papier verfaßt, was ich als reaktionären Dreck bezeichnen möchte. Da wird festgehalten, daß die drei Mächte dafür gesorgt haben, daß sich die Stadt frei und demokratisch entwickeln konnte. Da ist alles verschwunden, was als Analyse des kalten Kriegs und Funktion der Siegermächte für die Restauration kapitalistischer Verhältnisse gedacht wurde. Und beim Gewaltmonopol bescheinigen sich die Fraktionen, ihr Ziel sei die Zurückdrängung der Gewalt in allen gesellschaftlichen Bereichen. Das mit einer SPD, die ganz entscheidend mitverantwortlich ist für den Auf- und Ausbau staatlicher Gewaltapparate und staatlicher Repression.

Vielleicht gibt es ja auch eine Lernfähigkeit bei der SPD. Hälst du denn einen Abbau auch staatlicher Gewalt für falsch?

Ebermann: Entscheidend ist doch, ob ich den bürgerlichen oder sozialdemokratischen Gewaltbegriff übernehme oder nicht. Nur der Staat darf entscheiden, wer zur Ausübung unmittelbaren Zwanges befugt ist. Das ist härter und den Staat fetischisierender als alles, was ich an grüner Politikauffassung bislang gesehen habe. Das legitimiert geradezu das staatliche Räumen besetzter Häuser, aufgebauter Blockaden oder was immer. Dieser Staatsbegriff nimmt überhaupt nicht mehr wahr, daß der Staat auch Instanz ist, die Privilegien der Mächtigen zu sichern gegen die Schwachen. Wenn das von Linken bis Realos in Berlin mitgetragen wird, dann habe ich in dieser Partei keine Positionen mehr. Da nützt kein Appell, daß mein wacher Geist gegen Anpassungstendenzen noch irgendwo gefragt ist.

Hammerbacher: Du klammerst eine ganz wichtige Frage aus: Wie kann eine Situation entstehen, in der ein grüner Landesverband offensichtlich sich gezwungen sieht, ein solches Papier zu verhandeln und zu unterschreiben. Ich glaube, daß sich die AL aus Angst vor einer Wiederholung der Hamburger Erfahrung mit der Blockade-Politik der GAL gegenüber der SPD zu weitgehenden Verfahrensweisen, die das Kräfteverhältnis in der Koalition für die AL negativ berühren, bereit erklärt hat. In Berlin ist eine Situation da, wo sie weiß, wenn sie es jetzt nicht schafft, ein Stück weit Politik zu realisieren, daß sie dann weg ist vom Fenster.

Entmystifizierung

der Regierungsbeteiligung

Fücks: Ich halte es für völlig absurd, die Identität als Linker an die angebliche qualitative Differenz zwischen Tolerierung und Koalition zu knüpfen. Du betonst die Außerstaatlichkeit als Leitlinie eurer Politik. Das unterschlägt, daß eine wesentliche Funktion der Grünen als Partei gerade die Umsetzung von Zielen in staatliches Handeln, also in der Konsequenz auch Regierungshandeln ist. Wir müssen im Rahmen von Koalitionen alles versuchen, um Bürgerbeteiligung, Demokratisierung von Planungs- und Entscheidungsinteressen, Volksentscheidungen und erweiterte Möglichkeiten für alternative Projekte und außerparlamentarische Bewegungen zu schaffen.

Vor etlichen Jahren wurde dieser Veränderungsdruck durch grüne Politik noch außerhalb einer Regierungsbeteiligung für möglich gehalten.

Fücks: Die Koalitionsfrage hat sich in den letzten Jahren für uns entmystifiziert. Sie ist nicht der Königsweg für gesellschaftliche Veränderungen. Sie ist dafür allenfalls ein Hilfsmotor. Unsere Überlegungen zielen viel stärker darauf, wie die Grünen auch aus der Opposition heraus Möglichkeiten gesellschaftlichen Handelns und Veränderns befördern können. Für uns ist die Koalitionsfrage weder die Preisgabe radikalen Erbes grüner Politik noch ist es das Nadelöhr, durch das wir durchmüssen, um unsere Politik zu realisieren.

Ebermann wird dies als Bestimmung radikaler Opposition nicht gelten lassen, sondern es als Reintegration in herkömmliche Politikmuster einstufen.

Hammerbacher: Als Partei haben wir ein Problem der Traditionslinken übernommen, deren Vorstellungen von gesellschaftlicher Macht immer faktisch mit der Vorstellung realexistierender sozialistischer Diktaturen verbunden sind. Das spukt auch in Ebermanns Kopf herum und macht die Schwierigkeiten aus zu bewerten, wie wir als Grüne selber parlamentarische Demokratie sehen. Ich habe nie die Vorstellung gehabt, daß eine Tätigkeit als parlamentarische Partei mehr sein könnte, als an diesen spezifischen Hebeln zu befördern, was in einer Gesellschaft sich bewegt im Sinne unserer Grundwerte einer radikalen ökologischen und radikaldemokratischen Politik.

Preisgabe der Erkenntnis

Ebermann: Es ist so furchtbar charakteristisch, daß über die von mir skizzierten Inhalte desinteressiert hinweggegangen wird. Dabei hat das Berliner Papier für die Geschichte der Grünen so etwas wie eine historische Dimension. Es gibt kein zukünftiges dahinter Zurückfallen. Es ist furchtbar leicht, diese Formel zu übersetzen auf jeden denkbaren Kompromiß in der Bundesrepublik bezogen auf die Nato. Völlig klar ist die Übersetzung, daß die Nato uns die Freiheit und Demokratie garantiert hat. Dann sollen wir noch programmatisch diskutieren, ob wir für oder gegen den Austritt aus der Nato sind? Das scheint mir regelrecht absurd zu sein. Das Papier ist eine Preisgabe einer analytisch-politischen Erkenntnis zugunsten des überdimensionierten illusionsbeladenen Wunsches, nun endlich Rot-Grün als einzigen Rettungsanker der Grünen zu installieren.

Welche politische Konsequenz ziehst du? Warum machen da alle mit in Berlin, die Linken, der „Aufbruch“ und die Realos, sind die alle so charakterschwach?

Ebermann: Ich kann mir bestimmte Dinge nicht erklären. Hättest du vor drei Monaten gesagt, ein solcher Text wird verabschiedet, hätte ich das nicht für möglich gehalten. Ich kann mir nur das Bild machen, daß in Berlin nicht gesehen wird, daß es keine reale rot-grüne Option gibt, und durch alle nur mögliche Selbstverleugnung und Verkrampfung die Schimäre gerettet werden soll.

Fücks: Was heißt, es gibt keine reale Option, in einer Situation, wo sich eine solche Option doch gerade wieder öffnet?

Ebermann: Die Grünen hätten zwar eine sehr steinige, aber immerhin Perspektive, wenn sie sich darauf ausrichteten, auf mittlere Sicht ziemlich krasse Oppositionspolitik zu machen. Im Manifest des „Aufbruchs“ wird die rot-grüne Option noch sehr weitgehend verworfen. Das ist nun umgekippt durch Berlin. Das zeigt zugleich die Blödsinnigkeit, über Manifeste abstimmen zu wollen. Es wird weit vor der Bundestagswahl, demonstrativ vor der Bundestagswahl, in Berlin weder eine rot-grüne Koalition noch eine von den Grünen tolerierte sozialdemokratische Regierung geben. Die SPD kalkuliert mit halbjähriger Hängepartie, aber danach werden wir den Zustand haben: dieser politische Kotau plus die verbaute rot-grüne Option. Und dann ist ein Katzenjammer angesagt, dann ist eine Demotivierung aufgrund falscher Hoffnungen angesagt bei gleichzeitiger Verwandlung politischer Sichtweisen nach rechts.

Fücks: Das ist mir zu fatalistisch. Im „Aufbruch„-Manifest, und das zeigt die Fragwürdigkeit politischer Prognosen, ist gesagt, die Weichen stehen bundesweit nicht auf Rot-Grün und die Grünen dürften ihre politischen Perspektiven nicht ausschließlich daran knüpfen. Jetzt ist aber in Berlin eine politische Konstellation entstanden, wo die SPD entgegen ihrem ursprünglichen Willen mit der AL über eine politische Mehrheit verhandeln muß und wo die AL dies auch tun muß, bei Strafe der Politikunfähigkeit über Jahre hinaus und der Inkaufnahme einer großen Koalition in Berlin, die für unsere Interessen, ob es um ökologische Stadtentwicklung oder humane Ausländerpolitik geht, verheerend wären. Wir müssen uns auf solche riskanten Abenteuer einlassen, wenn wir Chancen gesellschaftlicher Veränderungen wahrnehmen wollen. Ich sehe natürlich die Gefahr, daß die SPD die AL in eine aussichtslose Situation treibt, entweder vollkommen programmatisch abzurüsten oder die Verantwortung für einen Bruch zu übernehmen mit den Konsequenzen für die Bundestagswahl: Da seht ihr, die Grünen sind nicht politikfähig. Aber aus Angst vor dem Tod jetzt politisch Selbstmord zu begehen, das halte ich nicht für eine sinnvolle Alternative.

Urabstimmung

nicht abstimmungsfähig

Zeigt nicht bereits das Beispiel Berlin, daß man Diskussionen über Zukunftsentwicklungen nicht per Abstimmung führen kann? Durch diese Manifeste, so befürchte ich, wird keineswegs Klarheit hergestellt.

Hammerbacher: Die Tatsache, daß Manifeste geschrieben werden, hat dazu beigetragen, daß das Flügelschlagen etwas verlangsamt wurde und überhaupt Diskussionen über den Zustand der Partei stattgefunden haben. Aber abstimmungsfähig sind die Manifeste nicht. Die Abstimmung wird eher das, was an positiver Wirkung da ist, wieder zurücknehmen, weil sich herausstellen wird, daß niemand sagen kann, das ja und das nein.

Kommt die Urabstimmung gut an, weil die Mitglieder sich endlich wieder ernstgenommen fühlen und entscheiden dürfen? Ist dies das entscheidendste Element der Prozedur?

Hammerbacher: Es kommt wohl auch ganz gut an, weil das „Aufbruch„-Manifest Konflikte ausklammert, sowohl die traditionellen Reizthemen der Grünen wie Gewaltfrage und Nato und §218. Aber es macht auch keine Aussagen, was die politischen Themen sein werden, die absehbar in den kommenden Jahren die Bundesrepublik beherrschen. Das wäre ja aber auch nicht abstimmungsfähig: Ich denke an neue Fremdenfeindlichkeit, neuer Nationalismus. Das zeigt, daß der politische Gewinn der Manifeste in der Vordiskussion bestanden hat, aber nicht in der Urabstimmung.

Ebermann: Die Manifeste sind obsolet geworden. Sie haben ein bestimmtes machtpolitisches Ziel verfolgt, das zu unseren Ungunsten gegessen ist. Jetzt tragen die Manifeste zur Entpolitisierung der Partei bei. Abstimmen mit ja oder nein ist gegenüber einer ernsthaften programmatischen Debatte anti-emanzipatorisch und geradezu klassisch für die Transformation der Grünen in eine Wahlpartei.

Fücks: Es ist sicher richtig, daß der Prozeß bis zur Urabstimmung schon die Hauptsache des ganzen Projekts ist. Aber es ist falsch zu sagen, die Urabstimmung sei unsinnig. Sie wird es nur, wenn man sie mit Erwartungen befrachtet, die sie nie beansprucht hat. Natürlich kann man mit der Urabstimmung den programmatischen Entscheidungsprozeß nicht ersetzen. Sie will alle Strömungen zwingen, ihre Bilanz von zehn Jahren grüner Politik zu ziehen, und Mitglieder wieder in diese Auseinandersetzung einbeziehen, die sich verabschiedet haben, weil sie in der Kaderstruktur der Partei keine Möglichkeiten für sich gesehen haben, an der Willensbildung teilzunehmen.

Interview: Gerd Nowakowski