„Sohn, was hat es mit dem Kommunismus auf sich?“

Der 15jährige Merih Calayoglu saß monatelang in türkischem Gefängnis und der Psychiatrie, weil er Hammer und Sichel an die Schultür gekritzelt hatte / Staatsanwalt fordert zehn Jahre Haft wegen angeblicher kommunistischer Propaganda  ■  Aus Istanbul Ömer Erzeren

„'Sei ganz entspannt‘, sagten die Männer zu mir, als ich mich hinlegen mußte und sie den Lügendetektor anschlossen. Ich war aufgeregt, und sie nahmen mich ins Kreuzverhör: Was ist Kommunismus? Wo gibt es Kommunismus? Wer ist Lenin? Wer hat den Kommunismus begründet? Bist du Mitglied in einer kommunistischen Organisation?“ berichtet der 15jährige über seinen Aufenthalt in der Istanbuler Gerichtspsychiatrie. Die von den Psychiatern aufgezeichneten Worte sollten zur Klärung der Frage beitragen, ob der Junge ein „kommunistischer Verbrecher“ oder ein „irregeleitetes Kind“ sei.

Es geht um „Merih Calayoglu, Sohn des Zafer, geboren am 8.9.1973 in Berlin, wohnhaft in der 229.Straße in Izmir/Bezirk Hatay. Angebliche Straftat: kommunistische Propaganda.“ So steht es in der Anklageschrift des Staatsanwaltes beim Staatssicherheitsgericht Izmir. Zehn Jahre Gefängnisstrafe fordert der Ankläger für den Schüler. Nach Polizeihaft und monatelangem Gefängnisaufenthalt hatte das Staatssicherheitsgericht Merihs Zwangseinweisung in die Psychiatrie verfügt, um per Gutachten feststellen zu lassen, ob er schuldfähig ist. Jüngst ist er auf freien Fuß gesetzt worden. Doch sein Prozeß vor einem Sondergericht dauert an. Nur „Verbrechen gegen den Staat“ werden hier verhandelt: Heroinhandel, Waffenschmuggel, Spionage und politische „Verbrechen“.

Cavidan Avci, die Mutter Merihs, kam mit ihrem Vater nach Deutschland, als sie zwölf Jahre alt war. Als sie 17 war, zog die Familie nach Berlin. Cavidan Avci, Mitte 30, behauptete sich in Deutschland gegen die repressive Sexualmoral ihrer Landsleute. Sie läßt sich von ihrem ersten Ehemann scheiden, hat eine außereheliche Beziehung bis sie ihren jetzigen Mann kennenlernt und heiratet. 1973 kommt Merih zur Welt. In Kreuzberg wird er eingeschult. „Ich wollte, daß Merih eine anständige zivilisierte Erziehung zuteil wird“, erzählt Cavidan Avci, die bei ihrer Entscheidung, in die Türkei zurückzukehren, das Wohl ihres Sohnes im Auge hatte: „Am Bahnhof Zoo sah ich Mädchen auf dem Straßenstrich, in der Nachbarschaft lebten Hascher und Fixer. Mein Sohn sollte nicht so enden, deshalb ging ich in die Türkei zurück.“

Die Bilanz der Rückkehr: Folter, Polizeihaft, Gefängnis, Psychiatrie für Merih. Ein fehlgeschlagener Suizidversuch der Mutter mit einer Überdosis Schlaftabletten.

Am 3.Oktober vergangenen Jahres, wenige Tage nach Schulbeginn, wird an der Tür des Klassenzimmers 4L im Lyzeum Karatas in Izmir ein Gekritzel entdeckt. Mit bloßem Auge kaum sichtbar, sind mit blauem Kugelschreiber Hammer und Sichel an die Klassentür gemalt. Der undisziplinierte, aufmüpfige Merih wird als Täter ausgemacht. „Ich mußte vor der Klasse die Hände erhoben halten, und der Schuldirektor schlug vor meinen Klassenkameraden auf mich ein“, berichtet Merih. Nach den Prügeln ruft der Schuldirektor die politische Polizei. Merih wird abgeführt. „Unser Direktor ist auf politische Karriere aus. Er hat auch das staatliche Fernsehen TRT benachrichtigt, damit ein Fernsehteam kommt und für die Nachrichtensendung einen Beitrag dreht. Er wollte sich gerne als heldenhaften Pädagogen, der einen kommunistischen Schüler dingfest macht, im Fernsehen sehen“, sagt ein Lehrer. Das staatliche Fernsehen zeigte kein Interesse. Dem Schuldirektor Turhan Baysal blieb nur die rechtsextreme Presse zur Selbstdarstellung: „Kommunisten anzuzeigen ist die Pflicht eines jeden Bürgers.“

Schulheft beschlagnahmt

Die Zivilpolizisten fahren mit Merih in die elterliche Wohnung. Cavidan Avci öffnet die Tür: „Drei Männer in heruntergekommener Kleidung standen mit dem verstörten Merih vor der Tür. Einer der Männer hatte Löcher im Pullover, der andere hatte Sommerkleidung an. Ich hatte Angst. Sie drangen in unsere Wohnung ein und durchwühlten alles. Erst später begriff ich, daß es Zivilpolizisten waren und eine Hausdurchsuchung stattfand.“ Schulhefte, Tagebücher und Briefe Merihs werden ebenso beschlagnahmt wie „Getamicin„ -Ampullen und Spritzen. Das Präparat ist gegen Bronchitisanfälle von Merihs zweijährigem Bruder.

Tortur durch Polizei

und Gefangene

Auf der Polizeiwache unterschreibt Merih das Geständnis: „Ich, Merih Calayoglu, war es, der Hammer und Sichel an die Tür malte.“ Der Richter erläßt Haftbefehl, und Merih wird ins Jugendgefängnis Izmir/Buca eingeliefert.

„Als er von der Polizeiwache in unsere Zelle eingeliefert wurde, waren seine Finger blau angeschwollen. Er konnte beim Essen nicht den Löffel halten. Auf der Polizei hatten die ihn mit Elektroschocks traktiert, damit er geständig ist“, berichtet Mehmet, der zur gleichen Zeit wie Merih im Izmirer Jugendgefängnis einsaß. „Alle haben ihn fertiggemacht. Zur Begrüßung haben ihn die Wärter verprügelt. Dann fingen die Jungs an, ihn zu mißhandeln. Weil er ein 'Gebildeter‘ war, einer, der Tinte geleckt hat, hatten die Straßenjungs ihn auf dem Kieker. Mit Bettlaken schlugen sie auf seine Fußsohlen ein.“ Der blonde Merih mit seinem kindlichen Gesicht und den grünen Augen wurde alsbald zum Sexualobjekt seiner rauhen Häftlingsgenossen. „Sie faßten ihn an die Backen, an Brust und Hoden. Er schrie nachts im Schlaf: 'Faßt mich nicht an!‘ Oft ist er schweißgebadet aufgewacht.“

Die ziellose Tortur durch seine Mithäftlinge hat Merih mehr zugesetzt als die Folter auf der Wache und die Prügel der Wärter. Einer der wenigen, die Verständnis für ihn aufbrachten, war Mehmet, obwohl dessen Lebensgeschichte der von Merih nicht ähnelt. Mehmet hat keine „Tinte geleckt“. Bereits früh mußte er arbeiten gehen und schuftet heute zwölf Stunden als Lederarbeiter. „Es war süß, wie Merih von Gerechtigkeit auf der Welt schwärmte, von dem Ende der Armut. Ich bin ja auch dafür. Nur bei Merih war es Phantasie, kindliche Träume, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten. Er hatte ja nie im Leben gearbeitet und lebte unter wohlhabenden Verhältnissen.“

Für Merih ist es eine Abwechslung während seines 87tägigen Aufenthalts im Gefängnis, wenn er in Begleitung bewaffneter Gendarmen zur Verhandlung gebracht wird. „Sohn, was hat es mit dem Kommunismus auf sich?“ fragt der Richter im Sicherheitsgericht Izmir den kahlgeschorenen Schüler. „Ich habe in Büchern und Zeitungen darüber gelesen“, antwortet der jugendliche Angeklagte. „Es ist erwiesen, daß der Angeklagte die Russenfahne mit Hammer und Sichel an die Klassentür der Klasse 4L malte. Während der Hausdurchsuchung wurde ein Kalender gefunden, in dem am 1.Mai das Wort Kommunismus und: 'Es leben die Arbeiter und Bauern‘ eingetragen ist“, stellt der Staatsanwalt in seiner Anklageschrift fest. Er fordert die Bestrafung des Angeklagten aufgrund des Paragraphen 142 des Strafgesetzbuches. „Mit Zuchthaus von fünf bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer in der Absicht, irgendeine der wirtschaftlichen und sozialen Grundordnungen des Staates umzustürzen oder die politischen und rechtlichen Ordnungen des Staates völlig zu beseitigen, Propaganda, gleichgültig in welcher Art und Weise, treibt“, heißt es im Gesetz. Die Strafe wird um die Hälfte erhöht, wenn die Handlung in Amtsstellen oder Schulen verübt wurde.

„Anstatt daß der Staat ein 15jähriges Kind schützt, schützen die Gerichte den Staat vor der Bedrohung durch einen 15jährigen“, kommentiert der Rechtsanwalt Kemal Kirlangic die Verhältnisse.

Isolationshaft

Die Verteidiger des Jungen beantragen ein psychiatrisches Gutachten. Das Gericht entscheidet die Zwangseinweisung Merihs in die psychiatrische Beobachtungsstation der Gerichtsmedizin in Istanbul. Das Gutachten, so hoffen die Anwälte, soll „verminderte Zurechnungsfähigkeit“ attestieren. Indem der Junge zum „Wahnsinnigen“ deklariert wird, soll der Wahn der politischen Justiz umgangen werden.

„Die Psychiatrie war schlimmer als das Gefängnis“, klagt Merih. „Ich war in einer Zelle, wo kaum Licht eindrang. Alle meine Kleider nahmen sie weg. Einen Monat hockte ich in der vergitterten Zelle in dem gestreiften Pyjama, durfte weder Briefe schreiben noch Besuch empfangen. Ein einziges Mal durfte ich mich baden.“ Im Gegensatz zum Gefängnis herrscht in der Gerichtspsychiatrie einen Monat lang Isolationshaft. Zum Schluß wird Merih an diverse Geräte angeschlossen und unmittelbar darauf auf freien Fuß gesetzt. Grund der plötzlichen Eile: Der „Fall Merih Calayoglu“, sein Aufenthalt in der Psychiatrie und der Suizidversuch seiner Mutter hatte in der türkischen Presse Schlagzeilen gemacht.

„Merih Calayoglu weist nach dem Alexander-Intelligenztest einen IQ von 105 auf, seine Intelligenz ist somit normal. Auf Dissoziation in der Persönlichkeit nach dem Persönlichkeitstest nach Rorschach wurde nicht gestoßen. Er hat eine reiche, kreative Phantasie ohne innere Ruhe“, konstatiert das für den Gerichtstermin am 14.März 89 erstellte Gutachten der Gerichtsmedizin. Auch die Elektroenzephalogramm-Untersuchung (EEG) habe keine „Anomalien“ zu Tage gefördert. Seine „Heilung in einer psychiatrischen Anstalt ist nicht notwendig“. Doch der Junge sei nicht „schuldfähig“, sagt das Gutachten, zumal „das Delikt elf Tage nach Überschreitung des Kindesalters“ begangen worden sei.

Noch hat die Staatsanwaltschaft die Anklage nicht zurückgezogen, doch am 14.März ist mit einem Freispruch Merihs zu rechnen. Nach einem halben Jahr Leiden für Mutter und Sohn - nach Polizeihaft, Gefängnis, Psychiatrie, Schulverweis und farbigen Pressefotos vom jüngsten Kommunisten im Lande. Die Verbrecher werden nicht zur Verantwortung gezogen.

„Ich will weg von hier“, sagt Merih zu mir. „Weg, so schnell wie möglich weg. Meine Tante und Peter, ihr Ehemann, leben in Berlin. Ich werde zu ihnen ziehen. Dort werde ich ein Buch schreiben über alles, was ich erlebt habe.“