: Der Teufel und die Stadt mit den 37 Moscheen
■ Im nordenglischen Bradford nahm die Jagd auf Salman Rushdie ihren Ausgang
Rolf Paasch
Mohammed ist eine Seele von Mensch. Von Moslem, um genauer zu sein. Von dem Augenblick an, da er uns etwas hilflos im Vorzimmer der Sufa-Tal-Islam-Moschee in der Thornton Road herumstehen sah, nahm er sich unser liebevoll an. „Meine Zeit ist Eure Zeit“, sagte er freigiebig, und so begann denn hier zwischen den Fabrikgebäuden der einstigen Webereien und Spinnereien unsere Reise durch Bradford, die nordenglische Stadt mit den 37 Moscheen.
Ein paar Telefonanrufe, und schon scheint Mohammed alle Freunde im Ortsteil Manningham darüber informiert zu haben, daß wir in der Stadt sind. Auf dem Weg zu seinem Haus am Southfield Square, der mit seinen gepflasterten Straßen der Kulisse einer englischen Soap-opera gleicht, werden noch schnell ein paar Nachbarn zugeladen, die uns schon erzählen werden, was Bradfords 60.000 Moslems über den Apostaten Rushdie und sein literarisches Teufelswerk denken. Unsere Hoffnung, mit den Pakistanis, Gujeratis und Bangla Deshis aus Bradford ins Gespräch zum kommen, ohne gleich im ersten Satz Rushdie zu erwähnen, stellt sich bald als naiv heraus. „Ich heiße Hafiz Zia-ul-Haq“, stellt sich einer der jungen Freunde Mohammeds vor. „Ihr habt mich doch bestimmt im Fernsehen gesehen, wie ich das Buch angezündet habe?“ Angenehm.
Hier in Bradford, der Halbmillionenstadt im Herzen Großbritanniens, hatten die Proteste gegen die Satanischen Verse, die mittlerweile zu einer beispiellosen Hetzjagd auf den angloindischen Autor Salman Rushdie geführt haben, bereits im letzten Oktober ihren Ausgang genommen. Noch bevor Ayatollah Khomeini überhaupt von der Existenz eines kritischen Literaten mit dem moslemischen Namen Salman wußte, hatten die in Bradford lebenden Führer der rund 1,5 Millionen britischen Moslems vor dem Zündstoff in dessen neuestem Roman gewarnt. Briefe wurden geschrieben, Petitionen eingereicht und legale Einsprüche versucht; doch niemand nahm die Moslems aus Bradford sonderlich ernst. Alle hätten arrogant reagiert, sagt Mohammeds zweiter Freund. Das britische Innenministerium, der Verleger und Rushdie selber. Er glaubt, Rushdie selbst sei an dem Todesurteil schuld. „Der hat doch sogar noch laut angekündigt, daß die dummen Mullahs sein Buch nicht mögen würden.“ Und jetzt wundere er sich, daß ihn der „murtad“, das Gesetz für Abtrünnige, treffe. Ja, so ereifert sich auch der erst 1982 im Alter von zehn Jahren nach Bradford gekommene Hafiz: „Khomeinis Todesurteil geht in Ordnung. Der Islam befiehlt das.“ „Auch wenn Rushdie jetzt hier ins Zimmer tritt?“ „Dann bringen wir ihn um!“
Mohammed, der uns in seinem bunten Wohnzimmer unter dem Wandteppich mit der heiligen Stätte in Mekka gerade den Tee serviert, ist soviel fundamentalistischer Sturm und Drang etwas peinlich. „Laßt uns nebenan zu Mohammed Siddique gehen, der ist gelehrt und wird es Euch besser erklären.“ Fundamentalismus
im Reihenhaus
Bald sitzen wir bei Siddique im Wohnzimmer eines beinahe identischen Reihenhauses am Southfield Square. Unter dem gleichen Wandteppich - auf dem die Gläubigen in Mekka um den „Schwarzen Stein“ herumwandern, so wie die wartenden Freier in Rushdies Roman um den Brunnen der Liebe des Puffhotels „Schleier“ herumflanieren - wird unter uns Männern weiterdiskutiert. Die Knaben finden häufig einen Vorwand, den Raum für kurze Zeit zu betreten, nur die ebenso neugierigen Mädchen werden davongescheucht wie die Katzen. „Husch, macht, daß ihr davonkommt.“ Siddique ist der Sekretär der Moschee am Southfield Square. „Im Namen Allahs, der außergewöhnlich erbarmend und extrem vergebend ist“, hat er für seine Gläubigen ein achtseitiges Pamphlet verfaßt, in dem viel von Rushdies blasphemischer und verletzender Sprache, aber wenig von Vergebung die Rede ist. Ohne die spirituelle Energie des Glaubens zu besitzen, sei Rushdie beim Schreiben von der Kraft des Satans überwältigt worden und habe versucht, unter Gläubigen und Nicht-Gläubigen Zweifel zu säen.
„So wie der die Worte verdrehen kann, wäre er besser Politiker geworden“, schlägt Siddique eine neue Karriere für den Gejagten vor. Als wir einwerfen, daß es doch auch im Islam verschiedene Interpretationen des Koran gebe und als Beispiel Benazir Bhuttos Koraninterpretation der Frauenfrage anführen, explodiert unser guter Moscheensekretär. Die neue Premierministerin Pakistans habe doch keine Ahnung, ja den Koran noch nie gelesen. Schließlich sei sie im Westen ausgebildet worden. In Bradford, so schließen wir, scheinen die Anhänger der „Pakistan People's Party“ jedenfalls so dünn gesät wie im Pandschab.
Bradfords Moslems waren in den 50er und 60er Jahren vor allem aus der pakistanischen Provinz des Pandschab und dem zwischen Indien und Pakistan umstrittenen Grenzgebiet Kaschmirs in die nordenglische Industriestadt gekommen. Bradford, dessen Einwohnerzahl zwischen 1801 und 1901 als Resultat der raschen Industrialisierung von 13.000 auf 280.000 angestiegen war, galt Ende des 19.Jahrhunderts als die Textilmetropole Englands. „In der Tat gibt es nichts, was gesponnen und gewoben werden kann, das nicht aus Bradford käme“, schrieb der Schriftsteller J.B.Priestley noch 1934 auf seiner berühmten Reise durch England. Doch nach dem Ersten Weltkrieg ging der Handel mit Tüchern aus Bradford kontinuierlich zurück. Es war lediglich das letzte Aufbäumen einer zum Untergang bestimmten Industrie, das die Gastarbeiter aus dem ländlichen Mirpuridistrikt des fernen Pandschab als billige Arbeitskräfte nach Bradford holte. „Bradistan“ und „Pakiford“
Im naßkalten Norden Englands, zwischen der Moorlandschaft der Geschwister Bronte und den kahlen HÜgeln des Peak Distrikt angekommen, waren die neuen Moslems Großbritanniens in diesem sterbenden Industriezweig zunächst mit dem eigenen Überleben beschäftigt. Von Beginn an scharte man sich im Stadtteil Manningham umeinander - und um den gemeinsamen Glauben - und begann damit, eine eigene Infrastruktur aufzubauen. Diejenigen, die bald vor den geschlossenen Toren der Webereien und Spinnereien standen, wurden zu Gewerbetreibenden. Bald waren die Zeitungsläden, Kaufläden, Imbißbuden Manningshams sowie das Taxigewerbe Bradfords fest in pakistanischen Händen. Man wohnte in heruntergekommenen Häusern und sparte an allem, um sich den gelegentlichen Besuch der Familien im Nordosten Pakistans leisten zu können. 1961 kamen auf 3.376 moslemische Gastarbeiter ganze 81 moslemische Frauen.
Es war die britische Regierung, die mit ihrem verschärften Einwanderungsgesetz von 1962 den „Mythos der Rückkehr“ endgültig beendete. Binnen Monaten wurden vor dem Stichtag Tausende von Frauen und Kindern nachgeholt und komplettierten so rasch die moslemische Einwanderergemeinde. Heute kennt die Mehrheit der jungen Immigrantengeneration ihre Heimat nur noch aus den frühesten Kinderjahren oder vom Hörensagen. „We're British Muslims“, sagt Hafiz mit jenem waschechten Bradfordakzent, wie er bis vor kurzem nur von den käseweißhäutigen Einwohnern des tiefen Yorkshire gesprochen wurde. „Nur die Mullahs“, so versichert uns Siddique, der in seinem weltlichen Leben als Pharmazeut arbeitet, „werden auch heute noch im Osten ausgebildet.“ Im fundamentalistischen Kernland Pakistans, so will er damit andeuten, sei das islamische Training halt immer noch viel gründlicher. Die Illusion der
multikulturellen Gesellschaft
Szenenwechsel. Nicht alle Moslems in Bradford bewohnen jene eng aneinander gedrückten Reihenhaussiedlungen des ehemaligen Arbeiterviertels. Mohammed Ajeeb beispielsweise, der Bradford als erster farbiger Bürgermeister Großbritanniens von 1985-87 regierte, lebt in einer Mittelklassevilla in der ruhigen Leylands Lane. Mit Nadelstreifenanzug und Schlips ganz „western oriental gentleman“, empfängt er uns zum abendlichen Gespräch.
Dr.Ajeeb ist zwar auch Moslem, aber in erster Linie Politiker. Er versteht und vertritt die verletzten Gefühle der Moslems im Stadtrat von Bradford. „Die Proteste haben gezeigt“, so beginnt er, „welche Verletzung und Agonie unter einer Minorität ein Individuum unter dem Vorwand der freien Meinungsäußerung verursachen kann.“ „Vorwand?“ fragen wir erstaunt. Ja, auch die Meinungsfreiheit sei eben nicht absolut: „Denken Sie nur an Antisemitismus und Pornographie. Da gibt es ja auch Grenzen.“ Khomeini, so fährt Dr.Ajeeb fort, habe hier in Bradford nie eine Unterstützung gefunden. „Aber jetzt, wo die Leute so getroffen sind, haben sie Schwierigkeiten, sich von ihm zu distanzieren.“ Manchmal, durch ein Lächeln oder eine Geste, gibt Dr.Ajeeb uns zu verstehen, daß er hier für seine Klientel spricht, mit der er, was Religion und Klasse angeht, nur noch oberflächliche Gemeinsamkeiten aufweist.
Der Bürgermeister hofft, daß die Affäre die moslemische Gemeinde politisieren wird. Forderungen wie die nach der Ausweitung des Blasphemiegesetzes auf alle Glaubensgemeinschaften und die Anpassung der Schulpolitik an die religiösen Erfordernisse müßten jetzt politisch vertreten werden.
Aber war das nicht schon das Ziel jener multikulturellen Politik, deren Durchsetzung sich die Labour-Party von Leuten wie ihm versprochen hatte? Dr.Ajeeb muß lachen. „Die multikulturelle Erziehung, auch wenn ich daran mitgearbeitet habe, das war doch immer nur eine Illusion. Die an der Macht haben das nie gewollt.“
Und dann erzält uns Dr.Ajeeb seine Version vom Ende des multikulturellen Traumes aus der Sicht des Ex-Bürgermeisters der fortschrittlichsten Kommunalbehörde Großbritanniens: Nach den schweren Rassenunruhen in den britischen Innenstädten von 1981 wurden die Maßnahmen zur Verbesserung der „Race Relations“ zur Mode, das lokalpolitische Geschäft mit Antidiskriminierung und Antirassismus zum Pflichtbekenntnis und zur Industrie. Die wahre Gleichbehandlung der ungleichen Rassen blieb dabei in London, Birmingham wie in Bradford ein Lippenbekenntnis.
Die Mitte der 80er Jahre begonnene Zentralisierung und Entmachtung der Lokalverwaltungen durch die konservative Gegenbewegung bereitete schließlich dem Phantom der multikulturellen Gesellschaft in wichtigen Bereichen wie der Erziehung ein Ende. Wenn die Queen gleichzeitig Staatsoberhaupt und Chefin der Anglikanischen Kirche sei und wenn das neue Bildungsgesetz das christliche Gebet wieder ins nationale Curriculum aufnehme, so Dr.Ajeeb, wer wolle den Moslems da noch den Wunsch nach den eigenen Schulen verdenken. Schulen, wie sie andere Glaubensrichtungen schon seit Jahrzehnten haben, ohne daß sich jemand darüber aufregt. Die Girls der Muslim High School
„Eine kurze Einleitung in den Islam“ steht mit krakeliger Kinderschrift am Schwarzen Brett der „Zakaria Muslim Girls High School“ in Blatley, einer Vorstadt von Bradford, angeschlagen. Schon zu früher Morgenstunde gibt sich hier die englische Presse die Klinke in die Hand. Denn seit der Rushdie-Affäre ist die Kampagne der moslemischen Privatschule für staatliche Gelder in die Schlagzeilen gerückt: Als weiteres Anzeichen für einen wachsenden islamischen Separatismus an der 1982 gegründeten Zakaria School, so erzählt uns Mohammed Dhorat, dessen elfjährige Tochter mit ihren Schulkameradinnen im verschleierten Schulkostüm auf dem Schulhof herumrennt, werden derzeit 130 Mädchen nach den Vorschriften des Islam unterrichtet. In der Pubertät, sagt Mr.Dhorat, sei die Trennung der Geschlechter und eine Stunde Koranunterricht am Tag genau das Richtige. Und die Vergleiche zeigten, daß die Mädchen der Zakaria School beim Abschlußexamen besser abschnitten als die auf den multikulturellen, staatlichen Schulen erzogenen moslemischen Mädchen.
Eine Behauptung, die von der Schulbehörde bestritten wird. Mr.Dhorat, der aus dem indischen Bundesstaat Gujerati nach Bradford gekommen ist, versteht die ganze Aufregung und staatliche Subvention für moslemische Schulen nicht. „25 Jahre lang haben wir hier friedlich für dieses Land gearbeitet, nur sobald wir die gleichen Rechte wie die Christen und Juden verlangen, dann geht das Geschrei los.“
Während die Mädchen von ihren Lehrerinnen - Männer hatten bis zum letzten Jahr überhaupt keinen Zutritt zu dem Schulgebäude - in den Biologie-Unterricht geführt werden, sollen wir ins Büro kommen, wo uns ein Herr Bleher, ein deutscher Konvertit, über die Hintergründe des Schulkonflikts aufklären will. Übers tragbare Telefon aus London beschreibt er die Arbeit seines moslemischen Bildungsdienstes, der die Kampagne aller 15 moslemischen Ganztagsschulen in Großbritannien zur Erlangung des halbstaatlichen Status koordiniert. „Wenn alle Religionen in einen Topf geworfen werden und jeder daraus nur einen Löffel nimmt“, so malt er uns die Nachteile des multikulturellen Schulexperiments aus, „dann gewinnt keine Religion, sondern nur die säkulare Sicht.“
Während die immer noch dem multikulturellen Ideal verpflichtete Erziehungsbehörde der Zakaria School keine staatlichen Gelder gewähren will, haben der moslemische Bildungsdienst und die Zakaria School ausgerechnet in der rechts-konservativen „Allianz für Erziehungsfreiheit“ einen Verbündeten gefunden. Diese Lobbygruppe, die vor Jahresfrist im benachbarten Dewsbury noch eine Gruppe weißer Eltern in ihrer Kampagne gegen die Übervölkerung staatlicher Schulen mit asiatischen Kindern unterstützt hatte, hilft nun den Moslems auf dem selbstgewählten Weg in den erzieherischen Separatismus.
Was Mustaqim Bleher ausdrücklich bedauert, sind die negativen Auswirkungen der Rushdie-Affäre auf seine Schulkampagne. Es sei sehr betrüblich, wenn Khomeinis Ausspruch gerade unter den „toleranten Liberalen“ in der BRD und anderswo eine „anti-islamische Haltung“ hervorrufe. Denn im Gegensatz zu der immer zum Vergleich herangezogenen Hitlervergangenheit werde in diesem Fall eine Minderheit angegriffen. „Und alle“, so Herr Bleher, „geben dem Angreifer Rückenstärkung.“ Womit er Salman Rushdie und nicht den Ayatollah meint. Nie wieder wird es so wie früher
Das Minarett auf dem flachen Backsteinbau mißt ganze 1,50 m, und der Muezzin krächzt nur über Tonband zum Mittagsgebet. Aber sonst gleichen die Szenen vor und in der Tawakuliah -Jame-Musjid-Moschee, direkt gegenüber dem Fußballstadion des F.C. Bradford, dem religiösen Alltag in Mirpur. Um 1.30 Uhr haben sich die rund 80 Gläubigen die Füße gewaschen und beugen und strecken sich im Gebetshaus gen Mekka. „Allah Akhbar„; nur das Klicken der Kamera stört ihr Gebet. Nach dem Erfüllen ihrer religiösen Pflichten scharen sich die Männer um uns. Das Erklärungsbedürfnis ist groß: „Khomeini hat es mit uns verdorben“ ... „Wir sind friedliche Bürger Großbritanniens“ ... „Wir werden das Gesetz nicht in unsere eigenen Hände nehmen“ ... „Wir sind Sunniten, für die sein 'fatwa‘ überhaupt nicht gilt.“ Aber auch: „Ihr im Westen müßt auch verstehen, wie tief wir verletzt sind“ ... „Akademische Kritik am Islam ja, aber keine verletzenden Tiefschläge“ ... „Die Meinungsfreiheit ist keine Freiheit, den Glauben des anderen zu diffamieren.“ ...
Am Ende der Flut von Erklärungen und Kritik, von Verteidigung, Rechtfertigung und der Bitte nach Verständnis bleibt Yusuf Karolia, der „Race Relations„-Experte der Stadt Bradford, bei uns sitzen. Er, der gerade im Begriff ist, die Richtlinien für die städtischen Angestellten im Umgang mit der moslemischen Minderheit aufzusetzen, sieht die Rassenbeziehungen in Bradford durch Rushdie und Khomeini um Jahre zurückgeworfen. Traurig erzählt er uns von dem beinahe vorbildlichen Verhältnis der verschiedenen Religionsgruppen Bradfords zueinander, so als gehöre dies nach dem Buch und der Morddrohung für seinen Autor längst zur Vergangenheit. „Wir haben hier eine ganze Menge neuer Erklärungsarbeit zu leisten.“
Mohammed wartet unterdessen schon ungeduldig darauf, uns zur nahe gelegenen „Bangla Deshi Youth Organisation“ führen zu dürfen. Der enge Raum der Sozialberatungsstelle für die letzte und ärmste Einwanderergruppe vom indischen Subkontinent ist diesmal nicht mit Moscheenbildern, sondern mit Porträts indischer und westlicher Filmstars tapeziert. Und zu unserer weiteren Überraschung sind unter den Mitarbeitern, die unsere Fragen beantworten wollen, zwei Frauen.
„Unsere Frauen“, so erklärt uns der 18jährige Aziz, „haben eine größere Unabhängigkeit erreicht, weil sie aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage der Bangla Deshis häufig mitarbeiten gehen müssen.“ „Das ist bei euren Frauen im Krieg doch auch so gewesen“, fügt Nasreen hinzu, die nach dem Studium der Sozialarbeit in Manchester hier im Bangla -Deshi-Zentrum ihr Praktikum ableistet. Normalerweise hat die Arbeit der Sozialberatungsstelle mit Religion nur wenig zu tun. Die Mitarbeiter leisten Hilfestellung bei der Bewilligung von Sozialhilfe oder bei den oft jahrelangen Versuchen der Männer, ihre in Bangladesch zurückgebliebenen Familien nachholen zu dürfen.
Der Fall Rushdie hat auch dies geändert. Die junge Einwanderergeneration, die politisch aktiv ist und wie Nasreen und ihre Kollegin Nazin auch abends mal „in die Disco geht“, fühlt sich durch die Satanischen Verse in ihrem Glauben tief getroffen. „Für uns Moslems, ob tief religiös oder nicht, ist dies eine emotionale Sache“, versucht uns Nasreen ihre Reaktion zu erklären. „Eine Attacke auf den Islam ist eine Attacke auf unser Leben.“ Der Islam, ergänzt Aziz, sei zwar eine sehr pragmatische, aber auch eine äußerst harte Religion. „Dafür ist es eine perfekte Art zu leben.“
Diese Kinder der Einwanderer aus dem 1971 von Pakistan abgetrennten Bangladesch befürchten, daß Rushdies Buch zu einem verzerrten Geschichtsbild des Islam beitragen könnte. „Wir wollen“, so betont Aziz, „daß der Rest der Welt und unsere Nachwelt zur Kenntnis nimmt, daß die Beschreibung des Islam in Rushdies Buch nicht Teil unserer Religion ist.“ Dennoch geben die drei zu, daß sie sich durch die Satanischen Verse schon weitaus weniger verletzt fühlen als ihre Eltern. „Vielleicht“, spekuliert Nazin, „wird unseren Kindern so etwa schon gar nichts mehr ausmachen.“ Ist Rushdie vielleicht nur seiner Zeit voraus? „Das mag sein“, räumt Nasreen ein, „aber bis es soweit ist, werden wir unseren Glauben noch verteidigen.“
„Keiner von euch hat reagiert“
Mohammed rückt inzwischen unruhig auf seinem Stuhl herum. Zum einen passen ihm die oft recht weltlichen Ansichten der jungen Bangla-Deshi-Generation nicht so recht in sein religiöses Weltbild, zum anderen wartet da schon der Administrator des Moscheenrats am anderen Ende von Manningham auf uns. Jener ist ein vielbeschäftigter Mann. „Bradford“, so sagt er stolz, vom endlosen Klingeln des Telefons unterbrochen, „ist in diesen Tagen das Zentrum der Welt.“ An der Wand seines spärlich eingerichteten Büros in der Claremont Road hängt eine graphische Bedienungsanleitung für das Gebet, eine Art moslemisches Aerobic-Plakat. Die Medien hätten die Proteste des „Council of Mosques“ gegen den Rushdie-Roman zu lange ignoriert. „Wir haben Pressekonferenzen einberufen, und keiner von Euch ist gekommen“, klagt er vorwurfsvoll. Bis zur Bücherverbrennung. „Unsere Herzen haben gebrannt, da haben wir halt die Kopie angezündet.“
Seitdem habe der Moscheenrat die Rechte an dem Video der Bücherverbrennung auf dem Marktplatz von Bradford erworben und in alle Welt verkauft. „Sogar die Israelis haben die Bilder erworben.“ An dieser Stelle lacht er höllisch auf, er, der Pathane, der uns vorher ausführlich von seiner Zeit als unnachgiebigem Polizeiobermeister an der afghanischen Grenze erzählt hatte. Und dann hält der Administrator uns triumphierend ein Telex des Penguin-Verlags unter die Nase, in der sich der Verleger Rushdies erneut für die Verletzung der Moslems in aller Welt entschuldigt und ankündigt, sich für die Reform des Blasphemie-Gesetzes einzusetzen. „Das ist doch schon mal was.“ Soviel zur Kampagne des Mosscheenrats, der behauptet, alle 60.000 Moslems Bradfords zu vertreten. „Die politischen Stellungnahmen müssen sie beim Generalsekretär Abdul Quddus einholen. Entschuldigen Sie mich.“
Sayed Abdul Quddus bittet uns nach draußen in seinen vor dem Gebäude geparkten Volvo. Die Polizei sei wegen eines versuchten Brandanschlags auf den Moscheenrat angerückt und wolle Fingerabdrücke aufnehmen. So wie Rushdie nun von den gleichen Polizeikräften bewacht wird, die er in den Teilen seines Buches über England als rassistisch beschimpft, so wird nun auch Abdul Qudduz von den Bobbies geschützt, die ihn gestern noch wegen angeblicher „Anstiftung zum Mord“ verhört hatten. „Er (Rushdie) wird hängen, wenn wir ihn in die Hände kriegen“, hatte der Sekretär des Moscheenrats nach dem Hinrichtungsbefehl des Ayatollah im Radio getönt. Das sei von den Medien hochgespielt worden, sagt er jetzt. Schließlich sei er nach dem Verhör freigelassen worden. Und außerdem, so führt er wie zu seiner Entschuldigung an, gehöre er zum kriegerischen Stamm der Pathanen. Das Todesurteil des Ayatollah gelte halt nur auf islamischen Boden, deswegen werde der „Council of Mosques“ seine Kampagne gegen das Buch in Großbritannien friedlich weiterführen. „Bis das Buch von allen Regalen dieser Welt verschwunden ist.“ Liberales Zwischenspiel
Von Mohammed, der wieder zum Gebet muß, für eine Weile alleingelassen, machen wir uns in Bradford allein auf die Suche nach einem Moslem, der trotz seines Glaubens für die Veröffentlichung der Satanischen Verse eintritt. Vergebens. Selbst Areela, die 24jährige Bausparkassen -Angestellte, die in ihrem schicken grünen Sari nun gar nicht wie eine Fundamentalistin aussieht, fühlt sich von den blasphemischen Stellen des Romans verletzt und hätte ein frühes Verbot des Buches besser gefunden. Ihrer Meinung nach sollte Rushdie für seine Missetat jedoch von Gott allein und nicht von den Menschen bestraft werden. Areela, so stellt sich bald heraus, ist wirklich der Prototyp der Tochter aus einer liberalen Mittelklassefamilie aus Karatschi. Für eine Ausstellung über das Leben der Immigrantengemeinde im Industriemuseum Bradfords vor zwei Jahren wurde ihr Leben ausführlich dokumentiert. „Ich war der Typ arbeitendes Mädchen einer moslemischen Familie.“ Ob sie mit ihren Eltern über die Rushdie-Affäre diskutiere? „Wir haben“, so spricht sie für die junge Generation ihrer Klasse, „recht früh gelernt, mit unseren Eltern nicht über die Religion zu streiten.“ Am liebsten vermeidet sie das Thema auch sonst, weil die Diskussion darüber die Einwanderergemeinde ihrer Ansicht nach nur schwächt. „Seit der ganzen Sache haben die rassistischen Attacken auf die Einwanderer wieder zugenommen. Man muß ja schon im Bus vorsichtig sein, wie man sich zu Rushdie äußert.“ „Und außerdem“, sagt sie, „sind die Gefühle und die ganze Aufgeregtheit bei den Männern viel stärker als unter den moslemischen Frauen.“ Die Frauen im „Asian Womens Centre“, in dem Areela früher einmal gearbeitet hat, scheinen jedenfalls ganz andere Probleme zu haben als die Männer in den Moscheen. „Der Himmel ist unter den
Füßen meiner Mutter“
Nach diesem liberalen Zwischenspiel geht es wieder zurück in die fundamentalistischen Kreise Bradfords.
In Mohammeds Wohnzimmer auf der Couch unter der Kaaba treffen wir Dr.Shabbir Akhtar. Ihn hatten wir noch am vergangenen Abend in einer Sondersendung der BBC zur Rushdie -Affäre gesehen, wie er auf dem Bildschirm redegewandt mit Norman Mailer aus New York, George Steiner in Genf und im Studio versammelten Akademikern, iranischen Exilschriftstellern und moslemischen Führern aus Großbritanniens debattierte - und als einziger einen fundamentalistischen Standpunkt vertreten hatte.
Die Rushdie-Affäre, so lehrt uns der noch junge Doktor der Philosophie - der seinen Nietzsche liebt und auch Rushdies frühere literarische Werke schätzt - sei ein „Lackmustest für den Islam“. Um in einer so aggressiven säkularen Gesellschaft wie der unsrigen zu überleben, so verteidigt Sabbir Akhtar in unserer Runde die heftige Reaktion seiner Glaubensbrüder, müsse der Islam seine Fähigkeit zum militanten Zorn bewahren. „Eine Religion, die sich Blasphemien wie die in Rushdies Satanischen Versen gefallen läßt, ist für den Müllhaufen der Geschichte bestimmt.“
Und gleich sind wir wieder - von Mohammed mit Chapatis versorgt - in eine stundenlange Debatte verstrickt, über all jene Themen, die uns auf unserer Reise durch Bradford verfolgt haben. Darüber, ob der Koran das Gesetz des Gastlandes über das Islamische Recht stellt oder nicht. Ob der 30jährige Azed seine neugeborene Tochter in zehn Jahren auf eine islamische Schule schicken wird oder nicht. Darüber, ob die Moslems, wie die Juden vor ihnen, jemals Zugang zum britischen Establishment finden werden. Über die Wahrscheinlichkeit eines weißen „backlash“, eines rassistischen Rückschlags gegen die Einwanderergemeinde als Folge des Mordbefehls durch den Ayatollah. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit und die Absolutheit des Glaubens. Über verwestlichte und trinkende Moslems und über die Frage, warum für Aziz der Himmel immer noch unter den Füßen seiner Mutter liegt.
Es ist schon sehr spät in der Nacht, als wir uns bei Mohammed und seinen Gästen am Southfield Square verabschieden. Und als seien wir plötzlich mitten in eine Traumsequenz aus den Satanischen Versen geraten, sehen wir auf unserem Heimweg, wie die Huren von Bradford direkt neben der Tabligh-ul-Islam-Moschee ihre Ware feilbieten. Aber warum, so dachten wir uns dann, sollen Moslems nicht auch sündigen dürfen.
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