„Innere Sicherheit“ strittig

Berlin ist Freiheit“ hatte die SPD im Wahlkampf plakatiert. Der scheinbar inhaltsleere Werbespot weckt gerade in Berlin höchst konkrete Erwartungen an eine rot-grüne Koalition: wieder mehr innere Freiheit. Innensenator Kewenig, der Staatsrechtler mit dem Hang zur praktischen Erprobung seiner theoretischen Arbeit, hinterläßt eine auch bundesweit bekannte Skandalliste.

Von der „Bullenhauptstadt Europas“ während der IWF-Tagung über die Schlägertruppe EbLT bis hin zur Absperrung ganz Kreuzbergs während des Reagan-Besuchs - auch ohne den Skandal um den Verfassungsschutz gäbe es für einen neuen Innensenator jede Menge Gelegenheit zur „Wiederherstellung der inneren Freiheit“.

Erste Gespräche zwischen SPD und AL zum Innenressort ließen sich hoffnungsvoll an. SPD-Verhandlungsführer Erich Pätzold, in den letzten Monaten vor allem durch seine energische Aufklärung der Verfassungsschutzskandale bekannt geworden, hatte sich offenbar vorgenommen, seinem neuen Image gerecht zu werden. Zwar sei die Abschaffung des Geheimdienstes, von der AL im Wahlkampf gefordert, nicht zu machen, doch die Giftzähne müßten dem VfS gezogen werden. Grundsätzlich solle er eine weitgehend offen arbeitende Nachrichtenbehörde zur „Politikberatung“ werden.

Unstrittig zwischen beiden Parteien ist die weitgehende Entrümpelung der personenbezogenen Datenbestände des Amtes. Zu Ostern, so die SPD, könnten mindestens 100.000 Bürger ihre Personalakte zur eigenen Verwendung geschickt bekommen.

Doch dann bekam die SPD Angst vor der eigenen Courage. Auf die Beobachtung extremistischer Bestrebungen könne doch nicht gänzlich verzichtet werden. Schließlich, so Pätzold, müsse auch beim Verfassungsschutz auf einer „realistischen“ Grundlage verhandelt werden. Sein Vorschlag, die Beobachtung von Gruppen und Personen auf ein „enges Maß am rechten und linken Rand“ zu beschränken und V-Leute in diesem Bereich nur noch „ausnahmsweise“ einzusetzen, ist für die AL jedoch nicht ausreichend. Im Gespräch ist jetzt eine Kompromißlinie: keine personenbezogene Speicherung mehr und die Beschränkung nachrichtendienstlicher Mittel auf Gruppen, die mit Gewalt gegen die Grundordnung vorgehen.

Etwas abgemildert wird die Problematik durch den Vorschlag einer weitgehenden parlamentarischen Kontrolle des VfS, die mehr Transparenz als die bisherige Kontrollkommission garantieren soll.

Die Schwierigkeiten einer Einigung über den Verfassungsschutz verblassen jedoch angesichts der SPD -Haltung zur Polizei. Nur nicht dran rühren, heißt die Devise. So wurden die Forderungen nach Kennzeichnung, Reduzierung der Polizeikräfte und Einführung eines Polizeibeauftragten kategorisch abgeblockt. Das bringe nur Unruhe in den Laden. Zugeständnisse will Pätzold nur in Form vager Absichtserklärungen machen. Außer der Abschaffung der Schlägertruppe EbLT sollen die Strukturen der Einsatzabteilungen, also auch der übrigen Sondereinheiten, einer Überprüfung unterzogen werden - möglich, daß die geschlossenen Einheiten, die Demo-Polizei also, zukünftig geringer beansprucht wird.

Konkreten Veränderungswillen zeigt die SPD allenfalls auf lange Sicht. Die Ausbildung der Polizei müsse verändert, die „Wagenburgmentalität“ abgeschafft werden - deshalb soll die Kasernierung der Ausbildungseinheiten zugunsten einer Integration in andere Ausbildungsinstitutionen aufgelöst werden.

Viel erfreulicher schätzen ALer dagegen die Ergebnisse zum Datenschutz und zur Immigranten-/Flüchtlingspolitik ein. Neben der Zusicherung, die rund 4.000 noch anhängigen Bußgeldverfahren gegen Volkszählungsboykotteure einzustellen, einigte man sich auf Grundsätze zur Datenerhebung: Beschneidung des Umfangs, grundsätzliches Auskunftsrecht der Betroffenen und Veröffentlichung von Datenverarbeitungskonzepten. Als erster Schritt werden sämtliche öffentlichen Dateien im Geiste des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungssgerichts durchforstet.

Die in Berlin lebenden Immigranten und Flüchtlinge könnten unter einer rot-grünen Koalition auf eine erhebliche Verbesserung hoffen. Fast alle in den letzten Jahren umstrittenen Punkte wie Familiennachzug, kommunales Wahlrecht, Ausweisungstatbestände oder Abschiebungen wurden im Sinne der Betroffenen geregelt, soweit dies auf Landesebene überhaupt möglich ist. Dasselbe gilt für den Justizbereich. Beide Parteien sind sich einig, den offenen Vollzug wieder als Regelvollzug anzustreben. Als besonderen Erfolg verbucht die AL auch die vereinbarte Auflösung der politischen Sonderstaatsanwaltschaft, die in den letzten Jahren zum Beispiel bei Hausbesetzungen als besonders rigide in Erscheinung getreten war.

Jürgen Gottschlich