Uns gibt es nicht

■ Interview mit dem karibischen Theater- und Romanschriftsteller Edgar White

John Kranianskas

John Kranianskas: Ihr neuer Roman „The Rising“ erzählt zum Teil Ihre eigene Geschichte. Sie haben Montserrat als Kind verlassen wie Legion, eine der Hauptfiguren des Romans, und haben in New York und London gelebt, studiert und gearbeitet wie etwa Gladstone, eine weitere Romanfigur. Welche Schwierigkeiten entstehen, wenn man aus solcher geographischen Entfernung über Montserrat schreibt? Impliziert die geographische auch eine kulturelle Distanz?

Edgar White: Glücklicherweise bin ich immer wieder zurückgegangen nach Montserrat, und außerdem gibt es den starken Einfluß der Großfamilie. Ein Teil meiner Familie lebt in den Vereinigten Staaten, ein anderer hier in England. In Montserrat - genau genommen in der gesamten Karibik - ist es normal, daß die Mehrheit der Bevölkerung die Inseln verläßt. Das ist pure Überlebensnotwendigkeit, darin geht es uns wie den Iren.

Die Sprache ist im Kopf. Sie ist das einigende Element und eine Art geistiges Band zu den Inseln, auf deren Töne und Klänge unsere Ohren gewissermaßen geeicht sind. Es gibt da einen Ton von Traurigkeit, in dem die Möglichkeiten des Ausdrucks schier unerschöpflich sind. Es ist also vor allem eine Sache des genauen Hörens.

Was die kulturelle Trennung angeht - ich schreibe ja hauptsächlich über „das Volk der Diaspora“, so nennt man das wohl, also die, die gegangen sind, die in Bewegung sind. Meine Personen sind immer im Exil. Das ist der Brennpunkt meines Schreibens. Es hat mit Leuten zu tun, die sich gelöst haben und trotzdem eine Beziehung zu diesem Ausgangspunkt haben oder sie zumindest suchen; es hat auch mit den Versuchungen des Exils zu tun.

Verstehen Sie sich selbst als Schriftsteller im Exil und glauben Sie, daß diese Situation den Schriftsteller mit besonderen Problemen konfrontiert, wenn er über den Ort schreiben will, den er verlassen hat? Verdammt es Sie zur Nostalgie?

Zu einem großen Teil schon. Aber ich weiß nicht, ob das nur eine Verdammtheit ist - es kann auch der Eintritt in die Welt sein. Wenn du in Bewegung bist, auf der Flucht, dann hast du meistens einen etwas anderen Blick auf die Welt. Es gibt ja in England - und in gewissem Maß auch in den Vereinigten Staaten - eine Art Gemeinschaft der Exilierten. Komischerweise ist sie hier in England weltweiter, umfassender. Und Emigranten hier suchen nicht nur nach Möglichkeiten sich niederzulassen, sondern auch, in seltsamen Formen, nach Anonymität. Das ist der Widerspruch: Menschen gehen aus bestimmten Gründen weg und finden im Exil Befreiung, gemischt mit einer merkwürdigen Suche nach Erlösung.

Wenn Sie schreiben, haben Sie dann eine genaue Vorstellung von den Menschen, für die Sie schreiben? Schreiben Sie zum Beispiel für diese Gemeinschaft des Exils?

Ganz bestimmt, wenn auch nicht ausschließlich. Einer der Gründe, warum ich diesmal einen Roman geschrieben habe statt für das Theater - das ich sehr liebe -, ist seine größere Direktheit. Es gibt keine Mittler bei der Bühne, wo man den Regisseur und die Schauspieler hat, die ihre eigenen Vorstellungswelten miteinbringen. Der Roman ist eine Kommunikation nur zwischen zweien, und darin finde ich ihn sehr scharf und zupackend. Andererseits ist er Luxus. Wer hat schon die Möglichkeit, sich in Ruhe hinzusetzen und herauszufinden, was in seinem Leben so alles passiert ist, und sich zu fragen: „Durch welchen Prozeß bin ich von dem, der ich war, geworden zu dem, der ich bin?“ Aber ich glaube, wenn man das ehrlich und ernsthaft betreibt und mit allem Schmerz, der damit einhergeht, wird man auf einer universellen Ebene kommunizieren. Das ist ja das Merkwürdige: Je besonderer es ist, desto allgemeiner ist es auch. Jedenfalls ist das meine Erfahrung. Wenn es gut geschrieben ist, dann ist es auch wahr, und wenn es wahr ist, ist es nicht nur wahr für Montserrat oder alle französich-sprachigen Inseln, sondern für die ganze Welt.

Sie haben einmal gesagt, daß in der Karibik die Regierungen Zensur ausüben und daß es in den USA der Markt ist, die Logik des Marktes, der Erfolg. Bezogen darauf haben Sie gesagt, es sei sehr schwer für einen Schriftsteller, „auf den Punkt zu kommen“. Können Sie vielleicht zu diesen beiden Formen der Zensur etwas mehr sagen?

In der Karibik nimmt man Kunst ziemlich ernst, weil man weiß, daß sie eine Waffe ist. Wenn nun einer was zu sagen hat und zufällig unter den ein Prozent Glücklichen ist, die tatsächlich veröffentlicht werden, hat er sofort das nächste Problem, nämlich: Wer kauft das? Der Preis eines Buches ist ungefähr so hoch wie ein durchschnittlicher Wochenlohn. In der Karibik hat keiner - oder nur sehr wenige - Geld für ein Buch. Also ist das schon mal eine sehr elitäre Angelegenheit. Außerdem gibt es natürlich das Informationsministerium, das in der Regel sehr genau kontrolliert, was da in die Öffentlichkeit darf.

Es gibt in der Karibik nur wenige Möglichkeiten der öffentlichen Kommunikation. Das einflußreichste Medium ist das Radio. Die beste Form öffentlicher Kommunikation ist also das Lied, weil es bei den Leuten wirklich ankommt. Wollte man es durchs Fernsehen versuchen, würde es sofort geschnitten. In der gesamten Karibik läuft das so ab: Es gibt allerhöchstens zwei Stunden täglich ein regionales Programm. Daraus entsteht eine Art Schizophrenie. Wenn man da sitzt und Fernsehen kuckt, kriegt man nicht die geringste Vorstellung davon, wo man ist! Du hast keine Möglichkeit zu erkennen, daß du gerade in der Karibik bist, denn alles, was du siehst, sind amerikanische Programme. Ununterbrochen blasen sie dir amerikanische Nachrichten ins Ohr. Nachrichten über die Inseln werden in ein 15-Minuten-Paket gepackt, das hauptsächlich aus Sensationen und Naturkatastrophen besteht, Taifune und Hurrikans. Es gibt nur wenige Bilder vom Ort selbst. Das enthält natürlich eine sehr präzise Botschaft für die Menschen, nämlich: „Es gibt euch gar nicht!“, oder: „Es gibt euch höchstens am Rande, ganz klein.“ Der Brennpunkt sind die USA: „Da wollt ihr hin.“ Das heißt natürlich auch, daß es nur wenige Bilder von den Leuten selber gibt. Diese Einbahnstraßenkommunikation verschleiert die Nicht-Kommunikation unter der Inselbevölkerung und ruft sie sogar hervor. Wenn ein Schriftsteller diesen Abgrund überwinden will, muß er sich die Form sehr genau überlegen - und einer der besten ist die Lyrik, besonders Calypso, der über alle Hindernisse springt und sozusagen mit jedem redet.

Würden Sie sagen, daß Calypso-Musik wegen des geringen Raumes für eine andere populäre Kommunikation die karibische Gemeinschaft überhaupt erst herstellt und gleichzeitig so etwas wie der Ausdruck ihres kulturellen Widerstandes ist?

So ist es. Beim Schreiben habe ich das im Kopf. Ich habe den Rhythmus, das Tempo undsoweiter in meinem Kopf. Und ich mache mir Gedanken darüber, wie ich mit Menschen Kontakt kriegen kann, die noch nie einen Roman gelesen haben. Ich muß also Wege finden, die mir erlauben, meinen eigenen Blick darzustellen und gleichzeitig auf einer sehr simplen Ebene zu kommunizieren.

Sie sagen, die Karibik wird mit Inhalten aus den USA bombardiert. Was bedeutet es dann für einen Schriftsteller an genau dem kulturellen Ort zu leben, von dem diese Inhalte ausgehen?

Das Bild, das ich dabei immer vor Augen habe, ist das einer Amöbe. Auf jede Provokation von außen reagiert Amerika mit Zerstörung - im Inneren dagegen nehmen sie Herausforderungen an, finden irgendwo einen Ort dafür und saugen sie auf. Das ist sehr wirksam, wirksamer als der Sturz von Regierungen. Sie sagen einfach: „Ja, gut, wir bringen es.“ Aber dann gibt es natürlich so viele Stimmen und so viele Medien, daß aller Voraussicht nach die Provokation ignoriert wird. Was in Amerika geschieht, ist, daß - wie beim Fernsehen - kein Bild länger als zehn Sekunden bleibt, das ist die größtmögliche Aufmerksamkeitsdauer. Früher waren es 30 Sekunden, jetzt nur noch zehn. Das bedeutet eine Art Dauerbombardierung.

Das Bild, das von Amerika aus dem karibisichen Volk - und der Dritten Welt generell - hinprojiziert wird, ist ihre Nicht-Existenz. Oder eine Existenz als Kulisse, wie Palmen. Worum es einzig und alleine geht, ist Amerika. Wenn ich zum Beispiel ein Buch in den USA veröffentliche und den Verlag bitte, Exemplare in die Karibik zu schicken, dann fragen die mich ganz erstaunt, ob die Leute da auch lesen. Ernsthaft! Also so ist es: Es gibt Amerika, und es gibt den Rest. Selbst in den USA ist es ja so, daß die Mehrheit der Schriftsteller nur über New York schreibt. Das ist erstickend. In den Siebzigern brach die Protestbewegung zusammen, und Nixon kam an die Macht. Den Schriftstellern und Verlagen wurde überdeutlich signalisiert, daß die Zeit für „ernste Themen“ vorbei ist. Wenn man veröffentlichen wollte, schrieb man am besten entweder über Weitzurückliegendes, Sklaverei, zwanziger Jahre oder Futuristisches. Die Sechziger durften auch nicht vorkommen, dann da konnte es natürlich auch nur um „Problemthemen“ gehen. In dieser Zeit sind große Schriftsteller von der literarischen Landkarte einfach verschwunden.

„The Rising“ erzählt vor allem die Geschichte einer Familie der neuen Aristokratie von Montserrat und von den Versuchen ihrer Gründerin, Mother Francis, ihr Überleben zu sichern. Dabei gibt es aber auch deutliche Sympathien für die eher volkstümlichen Charaktere, für die aus den Randzonen der Gesellschaft. Sehen Sie Ihr Buch als politisch an?

Es läuft immer darauf hinaus, daß Realität mit Politik zu tun hat. Sie verschmelzen miteinander, und wenn man etwas über die Realität sagen will, gerät man zwingend auch in das Feld des Politischen - das ist gar nicht zu vermeiden. Man gerät sogar an ökonomische Fragen, denn sie sind die Basis der dem Stoff insgesamt zugrundeliegenden Situation. Nehmen sie zum Beispiel „The Rising“: Legion wächst in einer sehr privilegierten Klasse auf, der nouveaux-riches der Karibik, aber das Geld, das seiner Familie erlaubt, zwei Autos zu haben, kommt aus Amerika, und zwar von seiner Großmutter und zwei Tanten, die weggegangen sind und dort als Hausangestellte arbeiten. Sie leben und arbeiten in einer anderen Realität, über die er bisher nicht das Geringste weiß. Aus ihrem schweren Alltag stammt das Geld, das der Familie erlaubt, Landbesitz anzusammeln. Und das exiliert ihn und seine Mutter in gewisser Weise auch wieder, trennt sie von ihren Leuten auf der Insel. Die Frage ist: Woher kommt dieses Geld? Wo ist der Ort, an dem das alles seinen Anfang nimmt? Es kommt von Menschen, die nach Amerika gegangen sind und dort arbeiten wie die Tiere. Man geht nach Amerika, um zu arbeiten, um Geld anzuhäufen, nicht um zu leben. Das Geld wird nach Hause geschickt, und du arbeitest weiter, bis du umfällst. Abends gehst du nach Hause, schlägst die Tür hinter dir zu, sicherst sie mit drei oder vier Schlössern, und dann fällst du um. Dann wachst du wieder auf und gehst wieder zur Arbeit. Tief im Hinterkopf hast du die Vorstellung zurückzugehen oder den Gedanken: „Ich werde sie irgendwann alle nachkommen lassen können, und sie werden es besser haben.“ Das hält die Sache in Gang.

Die Karibik ist matriarchal. Die Frau ist der Fels. Der Vater muß - aus welchen Gründen auch immer - weggehen. Diese Fluchtbewegung hat es seit der Sklaverei gegeben. Anfang des Jahrhunderts war der Bau des Panamakanals für die Leute der Hauptanziehungspunkt, der sie weggehen ließ zum Geldverdienen für die zu Hause Zurückgebliebenen. Also ist immer nur die Mutter da und wird so zum entscheidenden Einfluß.

Ihr Roman ist der erste Teil der Trilogie mit dem Titel „The Pygmies and the Pyramid“. Am Ende dieses ersten Teils fährt Legion in die USA, wie so viele Generationen seiner Familie vor ihm. Ich möchte Sie zum Schluß fragen, ob er zurückkehren wird nach Montserrat.

Er wird es müssen. Es ist ja so, daß er in Wirklichkeit die Insel nie verläßt. Das zieht sich als roter Faden durch die ganze Arbeit. Man geht nie wirklich. Man geht, und man geht nicht. Andererseits interessiert mich an Legion auch, ob er überhaupt jemals da war! Denn seit seiner Geburt existierten ja schon diese Kräfte, die von außen auf seine Entwicklung Einfluß nahmen. Ob er es wußte oder nicht, er wurde bereits an Fäden gehalten, die unsichtbar aus diesem Amerika kamen, das er nie gesehen hat. Gemeimnisvolle blaue Briefumschläge kommen an, und Schritt für Schritt werden dadurch Entscheidungen für ihn getroffen. Jetzt interessiert mich zunächst Legion, wie er an diesen Ort geht, die Pyramide betritt und lernt, wie die Mechanik funktioniert.

Egar White stammt von der kleinen karibischen Insel Montserrat; als Achtjähriger kam er nach New York, schloß die Schule ab (City College of N.Y.) und studierte in den Siebzigern Theater an der Yale-University; wegen der Gründung einer Theatertruppe von nur Schwarzen wurde er von der Universität geworfen. Seit zehn Jahren lebt Edgar White in England und hat hier eine eigene Theater-Gruppe, „The Lumumba Theatre Company‘, ins Leben gerufen. Bekannt ist er vor allem als Theaterautor; seine Stücke „Lament for Rastafari“ und „Redemption Song“ wurden sowohl in London als auch in New York aufgeführt. „The Rising“ ist sein erster Roman und wurde 1988 (Marion Boyars, London) publiziert.

John Kranianskas ist Lateinamerika-Experte bei 'Index on Censorship‘.