Das Nationaltheater brennt

■ Eine Geschichte aus Warschau

Janusz Anderman

Eine Feuersäule steigt aus dem Nationaltheater auf und wird von Rauch umhüllt. Wie kleine schwarze Segel fliegen gutgelaunte Tauben über das Dächermeer und suchen hektisch ihre gewohnten Sitzstangen.

Am Dachrand stehen mehrere Feuerwehrmänner, die sich an schlaffen Schläuchen festhalten und auf Wasser warten. Wie Cancantänzerinnen heben sie ihre Beine über dem Abgrund, denn das heiße Wellblech brennt ihnen die Sohlen durch. Gleichgültig schauen sie auf die Augen hinunter, die in Bewegung erstarrt zu ihnen hochsehen, Augen, in denen sich plötzlich Schrecken zeigt: Ein Feuerwehrmann hat einen Fehltritt gemacht und schlägt seinen Arm, als ob er sich wärmen wollte. Aber natürlich wedelt er mit den Armen, um sein Gleichgewicht zu retten, und damit sein Leben. Die Menge stöhnt auf vor Erleichterung, als er schließlich im letzten Moment den schlaffen Schlauch zu fassen kriegt, sich wieder stramm hinstellt, ins Feuer spuckt und gelassen auf die Straße heruntersieht.

Der niedrige Himmel ist auf bauschende Rauchsäulen gebockt.

Vom Theaterplatz wird aus unbeweglich dastehenden roten Autos und gelben Wasserwagen mit Schneepflügen an der Schnauze städtisches Wasser geliefert. Feuerwehrmänner mit großen Helmen auf den Köpfen laufen zwischen den Autos und Schlauchknäueln hin und her; Polizisten trennen sie wie eine vorstehende Zahnreihe von der Menschenmenge. Die Polizisten sind jung und eifrig, die Helmvisiere verbergen die Neugier und Verzweiflung in ihren Augen; sie dürfen sich weder umdrehen und das Wüten des Feuers betrachten noch einen einzigen Schritt nach vorne machen. Daher stehen sie da wie in Trance und befragen die Gesichter der Menschen, versuchen herauszulesen, was sich hinter ihrem Rücken abspielt. Sie sehen auch die kleine Gruppe von bunt kostümierten Schauspielern nicht, die vom Feuer aus den Proben getrieben wurden und die jetzt hektische Interviews in die Kamera sprechen.

-„Ich stand gerade da, und plötzlich klappte die ganze Bühne hoch, und es gab ein großes Rauschen, und dann bin ich geflüchtet. Und jetzt rühr‘ ich mich keinen Zentimeter von hier weg.“

-„Ich hab‘ sogar meine Schuhe verloren, ich hab‘ nicht mal Schuhe an, oh Gott, ich hab‘ meine Schuhe verloren“, klagte ein anderer und zeigte dabei dauernd auf seine Füße. „Gucken Sie doch, da, ich hab‘ nicht mal mehr Schuhe. Was für ein Durcheinander.“

-„Also ich dachte nur, ehrlich, daß wieder mal die Lüftung von alleine angesprungen ist, und hab‘ deshalb rübergebrüllt, sie sollten sie wieder ausmachen, was für ein Gedanke, das ist mir so eine Lüftung, der Himmel erbarme sich unser.“

-„Unser schönes Zuhause brennt“, weinen die Schauspieler jetzt und sammeln sich wie ein kleiner Schwarm exotischer Vögel. Dieser Schrei durchbricht die Reihen der wachsamen Miliz und erreicht die Menge; man nickt beifällig und schaut sich mit wissenden Blicken an.

-„Das stimmt, das stimmt, sag was du willst, Feuer ist ein gefährliches Element.“

-„Ein flammend rotes Feuer, wenn ich bitten darf.“

-„He, hört doch mal“, schaltet sich ein Mann aus der Menge ein. „Heute morgen um zehn hat Radio Freies Europa schon gemeldet, daß es brennt, und ich bin losgerannt, aber das Feuer fing erst um halb zwölf an. Woher wußten die das schon um zehn? Extremisten haben sie vorher benachrichtigt und sich dann nicht an ihre eigene Zeitplanung halten können. Das ist es! Ganz klar. Der Untergrund ist es gewesen. Und wie! Wie konnten sie wissen...“

Die Menschen wenden ihren Blick vom Feuer ab, senken die Köpfe, gewöhnen sich allmählich an das plötzliche Dunkel und suchen nach dem Mann, der spricht, aber der taucht unter und an einer anderen Stelle der Menschenmenge wieder auf, erklärt wild fuchtelnd, zeigt hinter sich.

-„Die da haben gehört, wie Radio Freies Europa die Nachricht vom Feuer schon um zehn rausgegeben hat. Sie können es bestätigen. Und das Feuer ist doch erst um halb zwölf ausgebrochen, oder nicht?! Jeder hat's gehört.“

-„Naja, so ungefähr...“, antworten ein paar unsichere Stimmen.

-„Also, verdammt noch mal, was geht hier vor?“ denkt einer laut nach.

-„Extremisten haben es angezündet. Der Untergrund. Ist doch ganz einfach, oder?“

-„Welcher Untergrund, bitte schön, meinen Sie denn? Für mich ist klar, daß es Mijals Gruppe war. Kann Ihnen jeder bestätigen.“

-„Aber Mijal ist im Knast. Stand in der Zeitung.“

-„Da haben Sie ganz recht. Wann sind Sie geboren? Es ist, als ob man mit Kindern redet. Und wenn er drin ist? Der hat doch sein Netzwerk über ganz Polen. Jedes Nationaltheater wird jetzt in Flammen aufgehen. Erst war es das Schloß, jetzt die Theater, als nächstes... Wer ein Ei stiehlt, stiehlt auch einen Ochsen, denken Sie an meine Worte.“

-„Und Kuron, der hat gesagt, man soll keine Komitees in Flammen setzen.“

-„Komitees aufbauen“, sagt jemand, dann erstarrt er und bricht in nervöses Lachen aus.

-„Das war der Untergrund, der das getan hat.“

-„Was für eine Scheiße der da redet. Das ist Provoka...“

-„Es gibt verschiedene Seiten, von denen man es betrachten kann.“

-„Man zählt doch zwei und zwei zusammen.“

-„Als das Feuer ausbrach, hat man Bujak in einer Verkleidung gesehen. Der war's.“

-„Wer hat ihn gesehen?“

-„Jeder...“

-„Sie auch?“

-„Also ich persönlich nicht, ich bin zu spät gekommen. Aber alle anderen. Er hatte sich eine Uniform übergezogen, um die Polizei reinzulegen. Und einen Bart hat er sich wachsen lassen. Ist einfach so an ihnen vorbei.“

Plötzlich sticht eine spitze Flamme durch die Wand aus Rauch. Eine Gruppe von Frauen fängt an zu heulen wie die Waisenkinder:

-Gott, der du hast P-o-o-o-len durch all die J-a-a-a -hrhunderte... Der Chor schwillt an, das Lied steigt auf wie Rauch und fällt dann sofort wieder herab, die Wörter geraten aus der Bahn und fallen auseinander, dann hört man wieder streitlustige Stimmen.

-„Das ist nicht erlaubt, der Primas hat uns verboten, 'Gott, gib uns unser freies Land zurück‘ zu singen, na und, wenn es doch sowieso nicht frei ist, können wir singen, wie's grad kommt, wir sollten überhaupt nicht singen, singt 'Segne, oh Herr‘, der Primas hat gesagt, wir sollen die Version nicht singen, aber die richtige“ - Rauch erstickt die schrillen Stimmen, die Menge schaut zu, wie die letzten Eingeschlossenen die oben spitz zulaufende Leiter hinunterklettern.

Durch das Feuer abgeschnitten, haben sie gedulgig an den Fenstern gewartet, daß man sie holt; am Fuß der Leiter ermahnt ein Offizier einen rauchgeschwärzten Feuerwehrmann, der den einzigen Fluchtweg bewacht. - „Um Gottes Willen, laß sie nicht rein, laß sie raus, laß sie nicht rein.“ - Der Feuerwehrmann steht stramm, er sieht unzählige Augen auf sich gerichtet und blinzelt unsicher in die Menge.

-„Feuerwehrleute sind heute auch nicht mehr das, was sie mal waren, sahen früher besser aus, mehr wie Männer, heutzutage taugen sie nicht mehr viel, schicke Uniformen, ja, naja, trotzdem sahen sie früher besser aus...“

-„Die kriegten früher 'ne Menge Sauerkraut und Erbswurst. Mehr Kalk, bessere Zähne. Jetzt gibt's weniger Kalk. Und Sauerkraut ist um nichts mehr zu haben, nicht für Geld und gute Worte.“

Ein zu dieser frühen Stunde schon betrunkener Mann hebt ein Kleinkind im Polyesteranzug hoch, um ihm das Feuer zu zeigen. - „So lernen sie von der Wiege an“, erklärt er seinem Nachbarn; das zappelnde Kind in seinem glatten Anzug gleitet dem Mann ständig aus den Händen. - Wie ein Aal, ein glitschiger kleiner Aal, sagt der Mann bewundernd.

Von der Menge in Hochstimmung versetzt, lesen zwei junge Mädchen neben ihm ganz ohne Verlegenheit in einem zerknitterten Untergrundblatt; die Mini-Rheostats heben und senken sich mit ihrem Atem (Rheostat ist das Widerstandsfederchen oder -stäbchen in Schaltuhren und -waagen; seit dem Verbot der Solidarnosc-Abzeichen wird es als Zeichen des Widerstands getragen, Anm.d.Ü.). - „Hier“, sagt die eine mit ganz geröteten Wangen, „hier Solidariusz hat gewonnen, guck doch. Solidariusz hat gewonnen!“

Alles fing 1983 an, als Herr Jagiello beschloß, seinen neugeborenen Sohn Przemyslaw Solidariusz zu nennen. Der Volksrat weigerte sich, ihn zu registrieren, und beschwörte damit ein Gutachten der Linguistischen Gesellschaft herauf. Es gab ein Patt, der Vorsitzende Professor Szymczak sprach sich gegen den Namen Solidariusz aus, während der stellvertretende Vorsitzende und zwei Präsidiumsmitglieder die Forderung des Vaters unterstützten. Der Fall ging bis zum Hauptverwaltungsgericht, und Herr Jagiello gewann, aber der Volksrat weigerte sich trotzdem, den Namen zu registrieren. Der Vater ging mit seiner Beschwerde vor Gericht, trotz heftigen Widerstands von seiten des Staatsanwalts erkannte auch das Gericht die Forderung des Vaters an. Der Volksrat gab endlich nach, und der Junge bekam jetzt ganz offiziell den Namen Solidariusz.

-„Die Reihen unseres Kampfes wachsen mit jedem Tag“, flüstern die Leute voller Bewunderung.

-„Sie haben keine Angst mehr vor gar nichts. Sie haben den Fehdehandschuh aufgenommen, sprichwörtlich! Wir haben unseren Teil des Kampfes geleistet.“

-„Alte Kämpfer wie wir legen nicht so schnell die Waffen nieder. Oh nein, ganz gewiß nicht! Wir werden ihnen zeigen, aus welchem Stoff wir gemacht sind. Wie du mir, so ich dir, Schlag auf Schlag. Was sage ich: Vor einer Stunde haben Frauen wieder angefangen, ein Blumenkreuz zu machen - vor den Augen der Polizei. Aber sie hatten nur Blumen für einen Balken. Die Polizei sah zu. Wenn wir mehr Blumen hätten, wir würden es ihnen geben...“

-„Das ist ein Feuerchen.“

-„Erst zünden sie ein Feuer an, und dann tun sie so, als wär‘ kein Wasser zum Löschen da. Holen die Schneepflüge raus, ich bitte Sie, Schneepflüge.“

-„Man kann das von verschiedenen Seiten betrachten. Jedenfalls wußte man im Büro des Direktors überhaupt von gar nichts, weil nämlich der Verwaltungsdirektor vom Sicherheitsvorhang mittendurchgeschnitten worden ist - im Beisein von Zeugen; also, da gibt es nämlich einen eisernen Vorhang für solche Fälle, wenn Feuer ausbricht oder so, oder vielmehr, den gab es mal, der ist aber geschmolzen; der Direktor rannte nach vorne, um ihn runterzulassen, aber da waren die Stränge schon durchgeschmort und klatsch, batsch schnitt es ihn auf der Stelle durch, in zwei gleiche Hälften; die eine endete in den Flammen, die andere im Wasser, dank der Feuerwehr. Wirklich tragisch, ich muß schon sagen.“

-„Das ist ein Akt Gottes. Weil, vor Jahren hat der doch mal im Radio behauptet, Witkacy hätte beim Einmarsch der Deutschen Selbstmord gemacht (der Maler und Schriftsteller Witkacy nahm sich das Leben beim Einmarsch der Roten Armee, drei Wochen nach Einmarsch der Deutschen, Anm.d.Ü.). Da hast du das Gottesurteil. Wenn ich dran denk‘: Er hätte noch zwei Jahre am Theater gehabt, nicht schlecht, für das Geld. Macht grad noch die Jahrhundertfeier und kratzt dann ab.“

-„Die Engelsflügel im Kostümschrank sind völlig verkohlt.“

-„Husarenflügel, nicht Engelsflügel.“

-„Husarenflügel gibt es nicht, was für einen Unsinn reden Sie da. Engelsflügel sind das. Mal abgesehen davon, daß auch eine Menge Menschen verbrannt sind. Sind nicht schnell genug weggekommen, die sind völlig verkohlt. Hochstehende Persönlichkeiten darunter, immerhin.“

-„Gucken Sie mal da, die Frauen mit dem Bild des Heiligen Florian, das Feuer ist da drüben offenbar nicht ganz so schlimm. Wie's aussieht, kann die Feuerwehr nicht viel tun. Da kann man nichts machen. Ich geh‘ nach Hause und warte, bis auch die Oper brennt.“

-„Da ist keine Hilfe mehr. So geht es, wenn Bruder gegen Bruder die Hand erhebt.“

Eine Windböe riß die Rauchwand auf, und wieder reckten die Menschen ihre steifen Hälse, um den Feuerwehrmännern zuzusehen, denen die strammen Schläuche mit ihren silbernen Wasserbögen aus dem Griff rutschten. Die Menschenmenge schaute mit lachenden Augen und wandte sich nur zögernd von diesem Bild ab, denn Aufregendes tat sich in der Nähe. Ein kleiner japanischer Herr, eine glänzende Filmkamera fest im Griff, löste sich aus der Menge; er hob die Kamera hoch und machte einen schnellen Schritt nach hinten, denn ihr Gewicht war beinahe zu viel für ihn, und er hatte Mühe, sein Gleichgewicht zu halten.

-„Siogun, Siogun“, rief es aus der Menge, „bist du da, Siogun, sepulu sake san...“ Und der japanische Herr wandte sein Gesicht, das voller Falten war wie ein Paradiesapfel, der Menge zu und verbeugte sich.

-„Das ist das japanische Fernsehen. Das wird die volle Wahrheit zeigen.“

Der Herr nickt rhythmisch mit dem Kopf; „Walesa, Walesa“, sagte er zu den Leuten, die in seiner Nähe standen, „Walesa, Wawel, Fibak“, und sie hoben ihre Hände mit den zwei gespreizten Fingern und nickten zustimmend mit den Köpfen, „toranaga, toranaga, kilder, ja, ja, guten...“

Der Japaner machte einen furchtsamen Schritt zurück, als ihn jemand am Aufschlag packte und auf ihn einzuschreien begann.

-„Wir geben nicht auf, sag das deinen Leuten; was immer sie versuchen, wir geben es ihnen, Auge um Auge, und sie werden nichts damit erreichen, auch wenn sie unsere nationalen Heiligtümer in Brand stecken...“

Der kleine Bursche verzog sich wieder in die Menge, dabei hielt er sich das lange Objektiv der Kamera schützend vors Gesicht. Der andere blieb ihm beharrlich auf den Fersen, plazierte seinen Mund genau über dem Trommelfell des Japaners und flüsterte im Ton höchster Vertraulichkeit: „Man sagt, Pekala ist aus dem Knast abgehauen und wird ein Hühnchen mit ihnen rupfen...“

Eine üppige Frau saß auf einem Stück Dachpappe auf der Bordsteinkante, sie hatte ein Spielzeugklavier aus Plastik neben sich; mit ihren geschwollenen Fingern fummelte sie über die Tasten und sang; in den Schlitz einer leeren Coladose, die an ihren kaputten Gummistiefeln lehnte, warf man Geldstücke. „Der Schließer stürzt in die Zelle / Den Gefangenen zu schlagen / Der Gefangene fällt auf sein Gesicht / Und sein Herz hört auf zu schlagen. Dann werden wir nachts alle rausgeschleppt...“ Das Geräusch der in die Büchse fallenden Münzen verzerrt den Rhythmus, einer stößt den Betrunkenen an, der auf einer Parkbank in süße Träume gesunken ist.

-„He, Sie, wachen Sie auf mein Herr, Sie haben den schönsten Teil schon verschlafen; es ist schön, daß es das Gewissen Europas aufrütteln wird, man wird Worte hören...“, und für einen winzigen Moment hebt der kleine Säufer seine Lider, läßt das Weiß seiner Augen sehen und flüstert - „Male mich in Golgatha...“

Die Dinge können nicht bleiben wie sie sind, und jetzt hat eine Gruppe ehemaliger Gefangener einen Protestbrief an die Behörden vorbereitet. Sie haben Unterschriften gesammelt, aber nur untereinander.

Die Feuerwehrleute stellen die Leitern auf und rollen die dünnen Schläuche ab.

-„Versucht's von der anderen Seite, die andere Seite“, berät sie einer aus der Menge. „Greift es von der Seite an und erstickt es von der Mitte aus.“

Rauch hüllt die Feuerwehrmänner ein und erstickt die Stimme des wildgewordenen Mannes, der die Faust gegen sie schüttelt und mit seinen Worten rosa Schaum spuckt, „Lakaien, Lakaien... Henker...“

Die Menge gerät in unruhige Bewegung und dreht der Feuersbrunst den Rücken zu, um einen Aufzug schwarzer Tschaikas und Wolgas anzustarren, der über die Fahrbahn rauscht. Runde Gesichter, in denen verschwollene, schräge Augen sitzen, sind mißmutig starr geradeaus gerichtet, weiß hinter den trüben Scheiben; eine Sekunde später verschwinden die rabenschwarzen Autos hinter der Biegung, gejagt von Geschrei, Gejohle und Flüchen.

-„Wir müssen, ich meine, wir sollten wirklich Wajda Bescheid sagen, damit er seine Filmausrüstung mitbringt; er kann das dann später in einem Film gebrauchen, heute ist der Jahrestag der Märzunruhen, und Sie können mir nicht erzählen, daß das Zufall ist“, hört man eine hitzige Stimme, und eine Hand wischt eine Träne von der Wange. Die Menschen blinzeln überrascht in das weiße Licht eines Fotoblitzes, der Flammen und Rauch vor Himmelhintergrund stellt.

Eine Frau, in der Hand ein zermatschtes Brötchen mit heißer Wurst, sitzt neben dem Betrunkenen auf der Bank, den inzwischen ein bösartiges Fieber schüttelt; graue Pilzsoße tropft ihr auf die Knie, aber sie achtet nicht weiter darauf, beißt in das durchnäßte Brötchen und sagt zu dem schlafenden Säufer: „Ich bin aus Kielce hier, bin den ganzen Tag in der Stadt rumgelaufen, dachte, ich krieg‘ den General zu Gesicht, hab‘ aber kein Glück gehabt, dabei hab‘ ich fest damit gerechnet, ich hab‘ mir die Hacken abgelaufen, ich verdiene wirklich eine Belohnung, schließlich komm‘ ich aus Kielce, den ganzen langen Weg von Kielce.“ Der Besoffene hebt ein Augenlid und antwortet mit nüchternem Blick: „Klar, natürlich, Arbeit für Idioten, Gesetze von Pfuschern; immerhin, Spaghettifresser haben Sex als Belohnung.“ Damit sinkt sein Kopf zurück in den Mantelkragen.

Von den Dächern der Nachbarhäuser erhebt sich ein weißer Schwarm, stößt im Sturzflug auf den Platz nieder, wird von einem heißen Luftstoß himmelwärts geschleudert und verschwindet in dickem Rauch. Die KPN hat Flugblätter geworfen - die Leute flüstern sich die Nachricht zu, das sei die KPN (Konföderation für ein unabhängiges Polen, konservative Oppositionsgruppe, Anm.d.Ü.). Die Milizmänner zappeln verunsichert auf ihren Plätzen, aber sie dürfen sich nicht rühren, also verfolgen sie die Menschenmenge mit Blicken, und eine alte Zigeunerin, knallbunt gekleidet, schlängelt sich durch zur Absperrung und schmeichelt den tatenlos dastehenden Offiziellen: „He, du, Rothaariger, gib uns 'nen Taler für die Schönheit, he, Rothaariger, einen Taler für den Magen...“

-„Das Koordinationsbüro hat schon ein Kommunique herausgebracht, das hat hier einer beim Mithören rausgekriegt“, sagt ein Mann und reibt sich die Hände.

Das Theater ist jetzt gründlich mit Schläuchen gefesselt, die Feuerwehrmänner klettern die Leitern hoch wie Akrobaten, ohne sich festzuhalten; sobald sie die Fenster erreichen, lassen sie ihre Hämmerchen wütend in die Scheiben krachen; dunkles Glas regnet über den Stuck.

-„Ich sage dir, sie sollten die Kirchenwache einsetzen, um die Ordnung wieder herzustellen. Ich hab‘ eine Münze von der Kirchenwache zu Hause, ich könnte in einer halben Sekunde damit zurück sein, oder nicht?!“

Und die Feuerwehrmänner, angespornt vom großen Auge der Menge, verschwinden einer nach dem anderen in den Rauchschwaden.

Blaue Blitze schießen von den Lichtern der Autodächer und huschen über bewegungslose Gesichter; Augen glänzen auf, verlöschen wieder; vollkommen durchfroren stampfen die Menschen heftig und mechanisch mit den Füßen.

-„Schon verrückt, einen so in dieser Kälte stehen zu lassen. Die da sind wenigstens im Warmen. Das ist ja wie im Kühlschrank hier unten. Wie im Kühlschrank, sage ich.“

-„Das schlimmste ist, daß die Sonne es eben nicht an den Tag bringt, wie das Sprichwort sagt. Vor den Augen der Öffentlichkeit wird alles versteckt, so sagt es das Sprichwort.“

-„Entschuldigung, aber ich weiß wirklich nicht, was sie in ihrem Marxismus eigentlich sehen. Oder auch in ihrem Leninismus, wenn's sein muß, bittschön.

Das Nationaltheater steht in hellen Flammen, die Menge bleibt wie angewurzelt auf dem Platz stehen, nur einer kämpft sich einen Weg hindurch; die Leute lassen ihn nur zögernd vorbei.

-„Was soll denn das, es ist doch noch nicht vorbei, wohin...“

-„Ich lauf‘ nach Hause, aber fix. Gleich sind die ersten Nachrichten in der Glotze. Egal, was sonst ist, aber das Feuer müssen sie einfach bringen.“

Janusz Anderman (40) gehört zur Generation der „wütenden 68er“. Er war Redakteur bei 'Puls‘, einer der ersten unzensierten Literaturzeitschriften Polens. Nach der Erklärung des Kriegsrechts im Dezember 1981 gründete er zusammen mit anderen das Hilfskomitee für Gefangene, wurde verhaftet und im Bialoleka-Gefängnis festgehalten.

Sein ersten beiden Bücher, Zabawa w gluchy telefon (1976) und Gra na zwloke (1979) waren noch in staatlichen Verlagen erschienen. 1983 publizierte er im polnischen Untergrundverlag „Kreg“ und im Ausland die Kurzgeschichtensammlung Brak tchu (gleichzeitige englische Ausgabe mit dem Titel Poland Under Black Light, Readers International, London/New York).

Die vorliegende Geschichte wurde der Sammlung Kraj swiata (englisch: The Edge of the World, Readers International) entnommen.

Janusz Anderman lebt in Warschau