Augen

■ Die ägyptische Schriftstellerin und Psychiaterin erzählt den Fall einer jungen Frau

Nawal el Saadawi

Vor einigen Tagen kam eine junge Frau zu mir. Sie erzählte mir ihre Geschichte und bat mich um ein Rezept. Ich verschrieb ihr keine Medizin, da ich nicht glaube, daß Tabletten dieser jungen Frau helfen können. Es geht hier offenbar mehr um ein psychologisches und soziales Problem, und ich möchte diesen Fall deshalb meinen Lesern zur Diskussion stellen.

Im letzten Jahr fing sie an, nachts schlaflos in den Raum zu starren. Sobald sie einschläft, sieht sie eine Flut das Land überschwemmen und den Propheten Noah, wie er seine Arche besteigt und sie zurückläßt. Dann sieht sie sich nach ihrem Tod einen schmalen Weg gehen und unter sich ein Inferno wüten. Ihre Füße bluten, sie verliert das Gleichgewicht und droht zu fallen. Sie öffnet die Augen und findet sich im Bett unter Decken liegend und in ihrem eigenen Schweiß ertrinken. Sie liest die Eröffnungssure des Korans und dankt Gott, daß sie noch nicht gestorben ist und daher noch die Möglichkeit der Reue hat. Dann geht sie ins Badezimmer und wäscht sich fünfmal. Sie zieht sich ein langes, unförmiges Kleid über und wickelt sich ein schweres schwarzes Tuch um den Kopf. Nach dem Gebet sitzt sie mit dem Buch Gottes in ihrem Schoß, darin liest sie und bittet Gott um Vergebung ihrer schweren Sünde. In ihrem Leben gibt es nichts anderes als diese Sünde.

Seit ihrer Geburt geht sie schlafen mit dem Klang der Stimme ihres Vaters, der den Koran liest. Seit ihrer Kindheit hat kein Fremder ihr Gesicht gesehen. Während ihres Studiums hat sie mit niemandem gesprochen, und nach dem Examen nahm sie Arbeit an, bei der sie vollkommen alleine ist - im Kellerlagerraum eines kleinen Museums, das kein Mensch je besucht. Dort sitzt sie an ihrem Schreibtisch, vor ihr liegt ein Register, in dem sie die Nummern der heruntergeschickten Mumien festhält oder die der bereits dort lagernden einträgt. Sie staubt die Mumien mit einem kleinen gelben Tuch ab. Sie zählt sie und schreibt die Zahl nieder. Sie schließt das Register und verstaut es wieder in der Schublade. Dann schlägt sie das Buch Gottes auf und liest darin, bis sie gehen kann. Sie nimmt ihre Handtasche und geht den eineinhalbstündigen Weg nach Hause. Diese Strecke bewältigt sie in einer gleichmäßigen, kontrollierten Geschwindigkeit, ohne daß eine Körperbewegung unter dem schweren Tuch ihres Kleides wahrnehmbar wäre.

Der in schwarzes Tuch gehüllte Kopf ist zur Erde geneigt. In Hitze und Kälte geht sie diesen Weg zweimal täglich, zur Arbeit und wieder zurück. Mit dem Bus fährt sie nicht, damit niemand - auch nicht von hinten - sie berühren kann. Ein Taxi nimmt sie nicht, um nicht mit einem ihr unbekannten Fahrer allein zu sein. Zu Hause säubert sie sich vom Straßenstaub, macht ihre rituellen Waschungen und betet, bevor sie ißt. Nach dem Essen legt sie sich mit dem Buch Gottes unter dem Kissen schlafen. Von der Stimme ihres Vaters, der ihr aufträgt, sein Essen zu bereiten, wacht sie wieder auf. Nach seinem Mahl betet der Vater und bittet Gott darum, seine Tochter vor dem Bösen zu schützen. Nur wegen des Geldes, das sie nach Hause bringt, läßt er sie überhaupt aus dem Haus. Er ist ein alter Mann ohne Einkommen, und sie hat keinen Ehemann, der für sie sorgt. Außer einem arbeitslosen, völlig unvermögendem Vetter hat nie einer um ihre Hand angehalten. Und auch wenn Gott ihr einen Mann mit gesichertem Einkommen geschickt hätte, hätte sie doch nie das Haus verlassen.

In ihrem Zimmer geht sie betend auf und ab. Sie bittet Gott nicht um einen Mann. Seit ihrer Kindheit hat sie den Gedanken an eine Ehe aufgegeben.

Ihre Mutter verblutete, nachdem ihr Mann sie im Bett zusammengeschlagen hatte. Der Tod ist unvermeidbar, aber sie möchte anders sterben, sie möchte nicht erschlagen werden. In ihrem Leben gibt es keinen Mann, und sie weiß nichts über das andere Geschlecht.

Wenn sie bei den Nachbarn Musik hört oder wenn einer singt, steckt sie sich die Finger in die Ohren und schließt Fenster und Türen fester.

Eines Tages, es war im April letzten Jahres, als sie wie üblich an ihrem Schreibtisch saß und mit dem Zählen der Mumien und Statuen fertig war, entdeckte sie eine sehr kleine Statue, eine Figurine, die am Tag zuvor noch nicht dagewesen war. Sie schaute in den Eintragungen des Registers nach und verstaute es wieder in der Schublade. Sie öffnete das Buch Gottes, beugte sich darüber und fing an, mit tonloser Stimme daraus zu lesen. Während sie las, blickten ihre Augen verstohlen aus den schmalen Schlitzen des Tuches hervor, tastete sich ihr Blick über die Mumien und Statuen und blieb am Gesicht des kleinen Figürchens hängen. Es war seltsam geformt. Am seltsamsten jedoch waren die Augen. Sie schauten sie mit einer Bewegung in den Pupillen an, die sie nie zuvor an einer Statue gesehen hatte. Sie bat Gott um Vergebung. Sie bat ihn, sie vor dem Bösen zu beschützen. Sie senkte den Kopf wieder, um weiterzulesen, aber ihre Augen schlüpften wieder zu der Gestalt, die kleiner war als alle anderen. Sie war völlig verstaubt, als habe sie jahrelang vernachlässigt im Lager gestanden. Sie staubte die Statue ab und stellte sie näher ans Fenster. Dann las sie wieder im dem Buch Gottes. Ihre Augen aber lugten weiter aus den zwei kleinen Öffnungen hinüber, wurden angezogen vom Gesicht dieser Statue und ihren Augen, die sich so seltsam bewegten. Die Augen waren leicht schräg gestellt, so wie man es von altägyptischen Darstellungen kennt. Sie faßte das Figürchen mit ihrer schwarzbehandschuhten Hand und suchte an ihm nach Zeichen oder Buchstaben, die den Namen des Dargestellten oder die Zeit, aus der er stammt, angeben könnten. Da war aber nichts. Sie stellte die Figur zurück und kehrte zu ihrem Stuhl hinter dem Schreibtisch zurück. Ihre Augen ruhten nun wieder auf den Zeilen des Koran. Aber eine Frage drehte sich in ihrem Kopf. Hatte irgendjemand vielleicht schon einmal eine Bewegung der Statuenaugen gesehen - vor ihr?

In dem Museum arbeitete niemand außer ihr und der Direktorin, eine alte Frau. Die stieg manchmal zu ihr hinunter und kontrollierte die Inventarlisten. Dabei ließ sie im Vorbeigehen den Blick über die Statuen wandern und blieb manchmal bei einer stehen, die ihre Aufmerksamkeit erregte. An jenem Tag aber blieb ihr schweifender Blick an nichts hängen. Die junge Frau war darüber erstaunt. Warum hatte die Direktorin die Bewegung der Augen in dem Figürchen, die sie selbst so deutlich sah, nicht entdeckt? Von da an quälte sie diese Frage jeden Tag.

Sobald sie ihren Arbeitsplatz betritt und sich niedersetzt, versenken sich ihre Augen in das Gesicht des Figürchens. Die Bewegung seiner Augen ist immer noch da. Sie ist zu einer Bewegung nur für sie geworden. Der Blick dieser Augen geht nur zu ihr. Seit sie es das erste Mal gesehen hat, schaut sie es ständig an. Auch wenn sie ihren Kopf wegdreht oder den Arbeitsplatz abends verläßt, sind seine Augen beständig vor ihr, schauen sie ununterbrochen und mit immer dem gleichen Ausdruck an, ganz als ob er heute lebte und nicht vor siebentausend Jahren. In seinem Blick liegt weder die Arroganz des Pharaogottes noch die Demut des Sklaven. Was bedeutet dieser Blick? Sie weiß es nicht. Jeden Tag überkommt sie der Wunsch, es zu wissen. Und dieser Wunsch wächst und wird zu sündhaftem Begehren. Immer wenn sie an ihrem Schreibtisch sitzt, schaut sie angstvoll um sich, denn sie fürchtet, die Direktorin könne plötzlich auftauchen und sie bei diesem Blick in die Augen des Figürchens ertappen. Am meisten aber fürchtet sie, es könne der Auftrag gegeben werden, die Statuette in einen anderen Lagerraum zu bringen. Wenn sie abends ins Bett geht, kann sie nicht einschlafen. Was geschieht, wenn sie morgen früh zur Arbeit kommt, und er ist nicht mehr da? Seit sie ihn gefunden hat, geht sie schneller zur Arbeit, und wenn sie die Tür öffnet und den Raum betritt, starren ihre Augen angestrengt durch die zwei Schlitze, suchen unter den Gesichtern der anderen Statuen nach seinem Gesicht. Sobald sie die Bewegung seiner Augen entdeckt, schließt sie die Augen und unter dem schwarzen Tuch öffnen sich ihre Lippen mit einem leichten Seufzen.

Eines Tages betrat sie den Raum und fand ihn nicht mehr. Sie suchte den gesamten Lagerraum ab, aber er blieb verschwunden. Sie schaute in jede Ecke, hinter den Beinen der großen Statuen, auf dem Fußboden, auf dem Hunderte kleiner Statuen lagen. Er war nicht da. Sie kehrte an ihren Schreibtisch zurück und setzte sich. Sie konnte nichts in das Register eintragen und auch keine Zeile im Buch Gottes lesen. Ihr Kopf senkte sich, und das Herz war ihr schwer. Wohin war er verschwunden? Sein Platz am Fenster war nun leer. Die ganze Welt war leer. Es gab nichts mehr in ihrem Leben. Gar nichts. Ihre Hand wurde kalt im schwarzen Handschuh, das Blut in ihren Adern hörte auf zu fließen. Um sich herum sah sie nichts als Tod in Gestalt von Figuren aus Stein. An ihrem Schreibtisch sitzend fing auch sie zu sterben an.

Mit einer abrupten Bewegung - so wie beim letzten Atemzug die Luft aus der Brust heftig herausgestoßen wird - hob sie die Augen. Er hatte sich hinter der Fensterscheibe versteckt. Die Direktorin hätte, wäre sie in diesem Moment in den Raum getreten, gewiß nicht verstanden, was passiert ist. Äußerlich war die junge Frau genauso wie vorher. Sie saß in ihrem Stuhl hinter dem Schreibtisch mit dem Register vor sich. Ihr Kopf war gesenkt, und an ihr bewegte sich nichts - außer den schwarzen Pupillen hinter den schmalen Schlitzen und das heiße Blut, das sich unter der Haut plötzlich wieder durch die Adern ergoß.

Bevor sie an diesem Tag ging, versteckte sie das Figürchen in ihrer Handtasche, um es mit nach Hause zu nehmen. Morgens stellte sie ihn wieder auf seinen Platz. Die Direktorin bemerkte weder seine Abwesenheit noch seine Rückkehr. Und der Vater sah zu Hause in ihrem Schrank die Figur einfach auch nicht. Nachts, wenn der Vater sich schlafen gelegt hatte, nahm sie es aus dem Schrank, stellte es vor sich hin und blickte ihm unverwandt ins Gesicht.

Sie schläft, ihre Augen sind fest auf seine geheftet. Im Traum sieht sie ihn, und eine Flut überschwemmt das Land. Sie sieht ihn vor sich stehen, aus Fleisch und Blut. Und die Flut das Land überschwemmen und Noah die Arche betreten und ihn zurücklassen. Könnte es sein, daß er der Sohn Noahs ist, der nicht mitgenommen wurde und in der Flut ertrunken ist? Könnte es sein, daß er ein Sünder ist, der dem Teufel folgte, kein Gläubiger, der Gott folgt? Und was noch wichtiger ist: Ist es möglich, daß er siebentausend Jahre nach seinem Tod wieder lebendig wird? Wenn sie morgens die Augen öffnet, drehen sich die Fragen in ihrem Hirn. Mit gesenktem Kopf geht sie die Straße entlang zur Arbeit und fürchtet sich, die Augen zu heben. Fürchtet sich davor, ihn womöglich vor sich zu sehen, in Fleisch und Blut wie in ihrem Traum. Hinter den schmalen Schlitzen des schwarzen Tuches beginnen ihre Augen, sich zu regen, sich langsam zu heben, sich vorsichtig auf die Gesichter der Passanten zu heften. Vielleicht ist unter diesen Menschen einer mit einem Gesicht, das seinem ähnelt? Oder mit Augen, die so blicken wie seine?

So vergehen zwei Monate, und sie hört nicht auf, daran zu denken. Ihre Augen stehlen sich immer wieder einen Blick auf die Gesichter der Menschen auf der Straße bei ihrem täglichen Hin- und Rückweg zwischen Zuhause und Arbeitsplatz. Sechzig Tage vergehen, und unter den Gesichtern findet sie nicht ein einziges, das seinem ähnelt, oder Augen, die seinen Blick in sich tragen.

Nachts schläft sie unruhig, und der Traum kommt wieder. Sie sieht die Erde von einem großen Wasser überflutet, sieht sich selbst am Eingang zur Stadt stehen, und plötzlich ihn, der vor ihr hergeht. Zuerst bemerkt er sie nicht. Er geht ruhig weiter, dann dreht er sich um und sieht sie an. In seinen Augen steht dieser Blick, der immer der gleiche bleibt. Das Wasser steigt von allen Seiten an ihm hoch. Bis er im Wasser verschwunden ist, schaut er sie unverwandt an. Das letzte, was versinkt, sind seine Augen.

Morgens öffnet sie die Augen und das Brüllen des Wassers sitzt ihr noch in den Ohren. Stimmen, die um Hilfe schreien, werden ausgelöscht von brausenden Wassern. Im Moment zwischen Schlaf und Wachen erscheint ihr der Traum als Zeugenschaft an der Zerstörung der Stadt vor siebentausend Jahren. Er ist ertrunken vor siebentausend Jahren, einer von denen, die Gott durch die Sintflut vernichtet hat. Sie bleibt auf ihrem Bett liegen. Es ist spät und höchste Zeit, um zur Arbeit zu gehen. Sie steht mit schweren Gliedern auf und sieht im Spiegel, daß ihre Augen rot sind und naß von Tränen. Sie prüft mit dem Finger und merkt, daß die Tränen wirklich sind. Sie weiß, daß sie über sein Ertrinken geweint hat. Am meisten aber hat sie geweint darüber, daß er nicht ein Gefolgsmann Gottes ist. Sie erkennt deutlich, daß er ein Anhänger des Teufels gewesen ist. Trotzdem stürzen weiter Tränen aus ihren Augen, wie sie da vor dem Spiegel steht. Es ist, als ob er gerade eben erst gestorben ist und nicht schon vor siebentausend Jahren.

Dann eines Morgens, als sie an einer Kreuzung auf dem Weg zur Arbeit anhielt und die Augen hob, um auf die Ampel zu schauen, sah sie ihn plötzlich unter all den anderen die Straße überqueren. Sie erkannte ihn sofort. Das Gesicht war sein Gesicht, mit altägyptischem Schnitt. Die Augen waren seine Augen. In ihnen sah sie die gleiche Bewegung, den gleichen Blick. Ihr Körper stürzte ihm entgegen, unwillkürlich. Beinahe hätte sie seine Hand gegriffen, hielt sich aber im letzten Moment noch zurück. Ihre geschlossenen Lippen unter dem schwarzen Tuch öffneten sich mit einem lauten Ruf: „Du!“

Die Straße war voller Menschen, die eilig ihrer Wege gingen. Jetzt blieben sie stehen, erstaunt über dieses Bild. Sie hatten gesehen, wie sie auf ihn zugestürzt, er vor ihr geflohen war. Sie, eine junge Frau, er, ein junger Mann, auf der Straße. Es ist nicht normal für eine junge Frau, auf einen ihr unbekannten Mann so zuzugehen. Und sie war nicht irgendeine junge Frau. Sie war eines jener Wesen, die hinter den schmalen Schlitzen eines schwarzen Tuches unsichtbar bleiben. Sie war auf ihn zugeeilt, und er war schnellen Schrittes vor ihr geflüchtet. Den Passanten kam diese Szene gleichermaßen seltsam und lächerlich vor. Das Lachen klang ihr in den Ohren, und sie schrak unter ihrem dicken Tuch zusammen. Dieses Zusammenschrecken blieb den ganzen Tag bei ihr, während sie am Schreibtisch saß mit dem Register vor sich. Die einzige Bewegung war die ihrer Augen, hin zum Fenster, wo er an seinem Platz stand. Sein Gesicht war das gleiche Gesicht, seine Augen hatten die gleiche Bewegung in sich und einen Blick, der menschlicher war als die Blicke der Menschen auf der Straße, obwohl er doch vor siebentausend Jahren gestorben ist, ertrunken mit allen anderen zusammen in der großen Flut. Sie beweinte seinen Tod. Jeder Mensch stirbt, nur eine Statue aus Stein lebt siebentausend Jahre. Ist Stein denn dauerhafter als der Mensch?

Die Fragen wirbeln antwortlos in ihrem Kopf. Jetzt hat sie einen Freund aus Stein. Seine Gegenwart fühlt sie deutlicher als die aller anderen, die einen Körper haben. Das Wort Körper - entschlüpft tonlos ihren zusammengepreßten Lippen. Das Wort allein schon läßt ihren eigenen Körper erbeben. Sie weiß nicht genau, wo dieses Beben herkommt. Durch die zwei Schlitze im dicken Tich stehlen sich die Augen einen Blick auf den Körper. In ihrer Brust sitzt das Herz, das schlägt. In ihrem Kopf sind Adern, durch die Blut fließt, heiß wie die Luft. Ihr Verstand begreift wohl, daß ihr Freund nichts anderes ist als eine Figur aus Stein. Aber in seinen Augen sieht sie den Blick von einem, der gleich anfangen wird zu sprechen.

Ist es möglich, daß er spricht? Und in welcher Sprache? Arabisch oder Altägyptisch? Ist es Phantasie oder Realität? Und wenn es eine Phantasie ist, woher kommt sie? Vermischt sich das Phantom mit dem Blut in den Adern ihres Kopfes? Die Fragen drehen sich in ihrem Kopf mit dem Fluß des Blutes wie ein Strudel im Meer. Und sie ertrinkt in den flutenden Wassern, und er steht vor ihr, und in seinen Augen ist der Blick eines Menschen. Tief in ihrem Inneren weiß sie, daß er ein Mensch ist, menschlicher als alle Menschen in der ganzen Welt. Er kann nicht böse sein. Sie könnte bei vollem Bewußtsein schwören, daß er ein Anhänger Gottes ist und nicht des Teufels. Sie ist ganz und gar bei Bewußtsein. Keiner, der sie sieht, könnte das bestreiten. Für ihren Vater sieht sie aus, wie sie immer ausgesehen hat, bescheiden, völlig bedeckt, täglich zur Arbeit weggehend und pünktlich nach Hause zurückkehrend. Die Direktorin des Museums sieht sie an ihrem Platz sitzen, bei vollem Bewußtsein und mit dem Register vor sich, und wenn sie mit dem Inventar fertig ist, liegt außer dem Buch Gottes nichts anderes vor ihr. Auf der Straße geht sie mit kontrolliertem Schritt und hält den Kopf gesenkt.

Eines Tages sah sie auf ihrem Weg durch die zwei Schlitze hoch, sah ihn aus einer Haustür kommen, mit ruhigem Schritt und ohne das wilde Hupen der Autos zu beachten die Straße überqueren. Sie sah ihn. Die gleiche Person. Sie konnte gar nicht irren.

Ihre Füße klebten am Boden. Die schwarzbehandschuhte Hand legte sich aufs Herz. Er stand mitten auf der Straße. Um ihn herum fuhren die Autos wie eine Flut. Sie glaubte, er würde fallen und in den Rädern ertrinken, aber er fiel nicht. Er setzte seinen Weg ruhigen Schrittes fort in Richtung Nil -Straße. Ihr Körper eilte ihm nach. Sie akzeptierte, daß er ein Phantom war, nicht real. Aber sie hatte ihn mit ihren eigenen Augen gesehen. Solange sie ihn sieht, ist es ihr vollkommen gleich, ob er ein Phantom ist oder real.

Ihre Füße gingen ihm nach. In ihren Ohren klang das Geräusch seiner Schritte auf dem Bürgersteig. Er war nur wenige Schritte vor ihr. Wenn sie ihn anspräche, könnte er sie hören. Sie wußte nicht, wie sie ihn nennen sollte. Er hatte keinen Namen. Ihre versiegelten Lippen öffneten sich unter dem dicken Tuch mit einem Ruf: „Du!“ Sie sah ihn sich umdrehen und ihr von sehr nahe ins Gesicht starren. Sie erkannte ihn. Die Augen waren seine Augen und der Ausdruck war sein Ausdruck. Sie hörte ihn sagen: „Wer sind Sie?“ Sein Erstaunen ließ sie verstummen. Wie angenagelt stand sie auf der Straße. Er sprach Arabisch, nicht Altägyptisch. Sie hatte gedacht, er würde sie kennen, so wie sie ihn kannte. Wie kam das nur, daß sie ihn die ganze Zeit gekannt hatte und er jetzt fragte „Wer sind Sie?“. Sie stand da und sah ihn bewegungslos an. Dann schlug sie langsam ihre Augen nieder, ihr Kopf blieb lange gesenkt und innerlich wurde sie kleiner und kleiner vor Scham. Nach allem was geschehen war, hatte er sie gefragt, wer sie sei. Ihr Verstand konnte es nicht fassen. Sie hob ihre Augen noch einmal, um sich zu vergewissern, daß es das war, was gerade geschah, aber er hatte sich schon umgedreht und war seines Weges gegangen, verschwunden in der Menge.

Am nächsten Tag war ihr Kopf auf dem Weg zur Arbeit gesenkt wie immer, aber hinter den beiden Schlitzen bewegten die Augen sich unruhig wie zwei Bienen, schweifte ihr Blick rastlos über die Gesichter der Menschen. Ihr Verstand sagte ihr, daß er nicht mehr lebte, daß er vor siebentausend Jahren gelebt hat, aber ihre Augen gaben die Suche nicht auf. Ihr Verstand sagte ihr, daß er existierte. Sie hatte ihn gesehen. Und solange er existierte, würde sie ihn wiedererkennen. Es überkam sie der Wunsch, ihn in jedweder Gesatlt zu sehen. Ob aus Fleisch und Blut oder als Geistwesen ohne Körper. Es war nur wichtig, daß sie ihn sah. Welchen Unterschied würde es schon machen, ob er Geist oder Körper ist? Hauptsache war, daß sie ihn sehen konnte.

Sie wartete am gleichen Ort, an dem sie ihn am Tag zuvor gesehen hatte. Als er erschien, stürzte ihr Körper auf ihn zu, sie war bei klarem Bewußtsein. Er war es, mit diesem Gesicht, diesen Augen, diesem menschlichen Ausdruck. Nichts war anders, nur war ihm ein schwarzer Lippenbart gewachsen. Ihre ewiggeschlossenen Lippen unter dem dicken Tuch öffneten sich mit einem einzigen tonlosen Wort: „Mann!“ In ihrem ganzen Leben hatte sie dieses Wort noch nicht ausgesprochen. Sie hatte gedacht, daß er einfach nur ein Mensch war, ohne Geschlecht, aber sein Bart bedeutete, daß er... Ihre Füße blieben am Boden kleben und ihre schwarzbehandschuhte Hand fuhr hoch und bedeckte die zwei schmalen Schlitze im schwarzen Tuch.

Als sie die Hand wieder von den Augen nahm, war die Straße immer noch voller Menschen, und er war nicht mehr da. Sie stand dort, züchtig wie eh und je und bei vollem Bewußtsein. Zwischen Oberarm und Brust steckte ihre lederne Handtasche. Neben ihrer linken Brust stand sie durch das dicke Tuch gedrückt etwas hervor. Sie fühlte diese Berührung wie Elektrizität. Ihr Verstand begriff, daß es nur die lederne Handtasche war, in der außer ihrem Portemonaie und der kleinen Steinfigur nichts steckte. Aber dennoch durchlief sie diese Berührung von der linken Brust her wie elektrischer Strom.

An diesem Tag ging sie ohne ihre Handtasche nach Hause. Ohne sie zu öffnen, hatte sie sie auf einen großen Müllhaufen geschmissen. Selbst ihr Portemonaie hatte die drinnen gelassen. Sie stellte sich vor, daß sie ihn sehen würde, wenn sie die Tasche öffnete. Sie hatte jetzt Angst davor, ihn zu sehen. Sie wußte nicht, warum sie Angst hatte. Aber sie fing an, vor Furcht zu zittern. Die Furcht begleitete sie nach Hause. Sie legte sich auf ihr Bett. Sie wußte, daß die Handtasche nicht mehr da war. Sie dachte, die Furcht würde sie verlassen, aber sie blieb die ganze Nacht bei ihr. Auch am nächsten Tag begleitete sie die Furcht - auf der Straße, am Arbeitsplatz, im Haus, überall. Sie begleitete sie wie das Zittern einer Fiebernden. Eines Nachts hörte ihr Vater, wie sie mit leiser Stimme stöhnte. Ihr Körper wurde geschüttelt wie in einem Anfall von Malaria. Der Vater brachte sie zum Arzt. Dreißig Tage lang nahm sie die Medizin ein, aber das Fieber blieb, nachts hörte ihr Vater sie beim Beten mit jemandem spechen. Er glaubte, sie spräche zu Gott und bäte ihn um Vergebung. Aber ihre Stimme wurde lauter und die Worte klarer. Sie sprach nicht mit Gott. Sie verfluchte den Teufel, mit Worten, die unmöglich aus dem Mund einer reinen jungen Frau kommen konnten. Er glaubte, sie habe vielleicht eine Sünde begangen, die sie bei sich behielt und niemandem zu enthüllen wagte. Er brachte sie zu einem heiligen Mann, bei dem man seine Sünden bekennen und bereuen konnte. Aber ihr Fieber blieb. Auch die Tabletten, die der Arzt noch einmal verschrieben hatte, halfen nicht. Die Direktorin des Museums erkannte bei einem Krankenbesuch, daß die junge Frau durchaus nicht an Malaria litt. Und so geschah es, daß sie zu mir kam.

Nawal el Saadawi ist nicht nur die führende Schriftstellerin Ägyptens, sondern auch praktizierende Psychiaterin. Aus einem Dorf stammend übte sie zunächst den Beruf der Hebamme aus und war von 1965 bis 1972 Direktorin des Gesundheitsamtes in Kairo. Nach der Veröffentlichung ihres Buches „Frauen und Sexualität“ (1972) wurde sie entlassen und bekam in Ägypten Publikationsverbot.

Heute ist sie Vorsitzende der „Arabischen Frauen Solidaritäts Vereinigung“ und lebt als freie Schriftstellerin in Kairo. Als Feministin sind ihr Auftritte im staatlichen ägyptischen Fernsehen verboten.

Die vorliegende Geschichte, ursprünglich betitelt „Der Fall einer jungen Frau“, wurde in Ägypten zur Veröffentlichung nicht zugelassen, da, wie die Autorin 'Index‘ mitteilte, „das Mädchen in der Geschichte verschleiert ist“. Die Zensur verbietet die Publikation aller Arbeiten, an denen islamische Fundamentalisten Anstoß nehmen könnten - und in dieser Geschichte ist die Verschleierung deutlich als Negativum gekennzeichnet. Das ägyptische Fernsehen bot sich an, einen Film nach der Erzählung „Augen“ zu produzieren jedoch nur unter der Bedingung, daß die Darstellerin der jungen Frau unverschleiert sein müsse...

Im November 1988 wurde „Der Fall einer jungen Frau“ auf der Zweiten Internatinalen Konferenz der Arabischen Frauen Solidaritäts Vereinigung“ in Kairo das erste Mal gelesen.

(In deutscher Übersetzung erschienen von Nawal el Saadawi die Titel: „Tschador. Frauen im Islam“, 1980; „Ich spucke auf euch“, 1984; „Gott stirbt am Nil“, 1986; „Ein moderner Liebesbrief und andere Stories“, 1987)