„Eigenbedürftige“ Vermieter geben sich gnädig

Seit dem Eigenbedarfsurteil des Bundesverfassungsgerichts flattern allerorten Kündigungsdrohungen ins Haus / Damit sollen die Mieter gefügig und Mieterhöhungen durchgesetzt werden / Großmütter haben Hochkonjunktur / Rettungsanker Sozialklausel  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - Seit 28 Jahren schon fühlt sich die fast siebzigjährige Frau B. in ihrer Hamburger Altbauwohnung zu Hause. Doch seit die Richter des Bundesverfassungsgerichts Mitte Februar höchstes Recht gesprochen haben, schläft die alte Dame nicht mehr gut in ihrem Heim. Sie kenne doch wohl die neue Rechtslage, hat ihr der Nachbar Hauseigentümer mitgeteilt, der schon lange ein Auge auf Frau B.s Wohnung geworfen hat. Er habe nunmehr einen Anspruch auf Eigenbedarf. Frau B. könne sich ruhig beim Mieterverein erkundigen, ihre Umzugskisten müsse sie aber trotzdem packen. Allerdings, so lenkte der „eigenbedürftige“ Hausbesitzer gnädig ein, mit einer passablen Mietanhöhung könne Frau B. den Rausschmiß durchaus abwenden.

Mit Eigenbedarf drohte auch ein anderer Hamburger Hauseigentümer. Rückwirkend für die letzten sieben Jahre forderte er von seinem Mieter N. 11.000 Mark Mietnebenkosten ein. Sollte Herr N. zur Zahlung nicht bereit sein, verkündete der Vermieter, dann habe er da noch eine Tochter, die Bedarf an Herrn N.s Wohnung anmelden würde. N. verstand den Wink mit dem Zaunpfahl, zahlte zähneknirschend.

Seit die Karlsruher Bundesverfassungsrichter am 14. Februar Haus- und Wohnungseigentümern weitreichende Kündigungsmöglichkeiten eingeräumt haben, wenn sie für sich oder ihre Verwandtschaft Eigenbedarf für eine Wohnung geltend machen, haben Töchter, Gromütter und Tanten Hochkonjunktur. Mietervereine allerorten können Arien über die plötzliche Familienverbundenheit von Hausbesitzern singen. Mal ist es Großmutter aus Florida, die nun ausgerechnet nach Hamburg ziehen möchte, mal ist es Tochter Regine, die zwar in Bremen lebt, aber trotzdem in Köln die leider noch vermietete Wohnung nutzen möchte. Verzehnfacht haben sich nach dem Grundsatzurteil der Karlsruher Richter die Kündigungsandrohungen, schätzt der Vorsitzende des Hamburger Mieterverein, Eckard Pahlke. Kamen sonst täglich zwei bis drei Mieter in die Beratung, weil ihr Vermieter Eigenbedarf angekündigt hatte, sind es heute zwanzig bis dreißig pro Tag.

Einen deutlichen Anstieg von Kündigungsandrohungen registrieren Mieterberater, egal ob in Berlin, München oder Hannover. Alle beobachten dabei ein ähnliches Phänomen: Zugenommen haben nicht die tatsächlichen Kündigungen weshalb der Deutsche Mieterbund auch nicht von einer Kündigungswelle sprechen will - sondern die Kündigungsandrohungen bei ganz normalen Mietstreitigkeiten. Wenn Mieter die Reparatur der zugigen Fenster einfordern, eine willkürliche Mieterhöhung verweigern oder die falsch berechneten Heizkosten monieren - seit vierzehn Tagen bekommen sie Vermieterbriefe und mündliche Drohungen mit dem Tenor zurück: „Andernfalls behalte ich mir vor, Eigenbedarf geltend zu machen.“ „Das schlimmste ist“, berichtet Rainer Wild vom Berliner Mieterverein, „daß das Karlsruher Urteil als Druckmittel benutzt wird, um Mieter gefügig zu machen.“

Gegen diesen Druck kommen auch die Mietervereine nur schwer an, die zur Zeit in langwierigen Einzelberatungen zu überzeugen versuchen, daß das Gros der Eingenbedarfsanmeldungen bloßer Bluff ist. „Das Karlsruher Urteil ist kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken“, warnt man beim Deutschen Mieterbund „nach wie vor muß der Vermieter auf Herausgabe der Wohnung klagen und den Eigenbedarf in jedem Einzelfall begründen.“ Allerdings, so sieht der Mieterbund voraus, wird die Beweislast nun verschoben sein. Jetzt wird es eher Aufgabe der Mieter sein, ihrem Hauseigentümer nachzuweisen, daß sein Kündigungsbegehren nur vorgeschoben ist, um teurer vermieten oder verkaufen zu können.

Als Notanker können sich gekündigte Mieter auch auf die Sozialklausel berufen, die im Paragraphen 556a des Bürgerlichen Gesetzbuches festgelegt ist. Diese Klausel verbietet dem Vermieter auch bei begründetem Eigenbedarf eine Kündigung, wenn diese für die Mieter eine „nicht zu rechtfertigende Härte“ bedeutet. Das ist nicht nur dann der Fall, wenn der Mieter etwa schwer krank ist oder gerade mitten in einer Ausbildungsprüfung steckt. Als Kündigungshindernis definiert die Sozialklausel auch, „wenn angemessener Ersatzwohnraum zu zumutbaren Bedingungen nicht beschafft werden kann“. Und da dieser Nachweis angesichts der Wohnungsnot gerade in den großstädtischen Ballungsgebieten leicht zu erbringen sein dürfte, setzen die Mietervereine darauf, daß künftig bei der Rechtsprechung der Amtsgerichte die Sozialklausel stärker zum Tragen kommt. Allerdings müssen auch dafür die Mieter aktiv werden, indem sie ihre vergebliche Wohnungssuche dem Gericht nachweisen. Alle rechtlichen Möglichkeiten ausnutzen, sich - sobald eine Kündigung auf den Tisch flattert - juristisch beraten lassen und eventuell auch eine vernünftige Mietrechtsschutzversicherung abschließen, dazu raten deshalb die Mietervereine; denn eine verlorene Kündigungsschutzklage kann teuer werden. Stolze 18.000 Mark kostete kürzlich ein Kündigungsverfahren in Hamburg, wo der Hauseigentümer zwecks Nachweis des Eigenbedarfs eine Mutter aus den USA und eine Verwandte aus Ostfriesland für den Prozeß hatte einfliegen lassen. Pech nur für ihn und Glück für den Mieter, daß der „eigenbedürftige“ Vermieter die Klage verlor.