Ein Viertel vom Sozialprodukt in ausländische Hände?

■ Ungarn will renommierte Staatsbetriebe privatisieren / Großzügige Steuererleichterungen

Budapest, (afp) - Der nahende Binnenmarkt der Europäischen Gemeinschaft (EG) und die Angst, vom europäischen Integrationsprozeß abgehängt zu werden, hat die ungarische Führung aufgeweckt und eine fieberhafte Suche nach ausländischen Investoren eingeleitet. Vor allem westliche Unternehmen sollen nach Vorstellung der Regierung in Budapest dabei helfen, die Wirtschaft des Ostblockstaates auf ein Niveau zu heben, das einmal den Anschluß an den riesigen EG-Markt erlauben soll. Um ausländische Unternehmen zu Investitionen in Ungarn zu bewegen, hat die Regierung erst vor kurzem 51 ungarische Unternehmen aufgelistet, die teilweise oder ganz verkauft werden sollen. Bei diesen Unternehmen handele es sich keineswegs um „lahme Enten“, sondern um „gesunde Betriebe“, versicherte unlängst der ungarische Industrieminister Frigyes Berecz vor Journalisten. Für 20 von ihnen lägen bereits konkrete Kaufangebote vor.

Der gegenwärtige Umfang der Auslandsinvestitionen in Ungarn beträgt zwischen 550 und 650 Millionen Mark im Jahr. „Ungarn braucht zehn bis fünfzehn Mal mehr“, schätzt dagegen Berecz. Um mehr Kapital anzuziehen, hat die Regierung zu Jahresbeginn neue Gesetze erlassen, die Auslandsinvestoren weitgehende Zugeständnisse machen. Die dürfen in Zukunft nicht nur ihre eigenen Unternehmen in Ungarn gründen, sondern auch einen Anteil von über 50 Prozent an ungarischen Firmen erwerben. Für die ersten fünf Jahre werden ihnen großzügige Steuererleichterungen zugestanden: Die Steuern auf den Unternehmensgewinn betragen in dieser Zeit 20 bis 60 Prozent. Der durchschnittliche Steuersatz auf Unternehmensgewinne liegt in Ungarn bei 50 Prozent. In Sektoren, die vorrangig gefördert werden sollen, wie die Elektroindustrie, der Werkzeugmaschinenbau und der Bau von Hotels, verzichtet der Staat bei Ausländern fünf Jahre lang sogar auf jede Besteuerung.

Die Budapester Wirtschaftsplaner gehen dabei soweit, alle Formen von Unternehmen einschließlich Aktiengesellschaften zuzulassen. Um die Gründung ausländischer oder gemischter Firmen zu erleichtern, ist das Zulassungsverfahren erleichtert worden. Eine Einschreibung im Handelsregister genügt. Liegt der ausländische Kapitalanteil eines Unternehmens über 50 Prozent, muß allerdings erst eine Genehmigung des Handelsministeriums eingeholt werden. Besonderes Entgegenkommen hat die ungarische Regierung gezeigt, als sie die vollständige Rückführung ausländischen Kapitals in die Heimatländer garantierte. Für Unternehmen mit mehrheitlich ausländischem Kapital setzte sie die Regel außer Kraft, wonach private Unternehmen höchstens 500 Beschäftigte haben dürfen.

Nach Angaben von Handelsminister Tamas Beck gibt es bereits 288 Unternehmen mit ausländischem Kapitalanteil in Ungarn. Ein Viertel von ihnen sind ungarisch-österreichische Gemeinschaftsunternehmen. An zweiter Stelle kommen die bundesdeutschen Investoren. Dann folgen Kanada und die USA.

Daß es den Reformern in Budapest ernst ist mit der Zulassung ausländischen Kapitals zeigt allein die Liste der zum Verkauf angebotenen 51 Unternehmen. Der Wirtschaftszeitschrift 'Figyeloe‘ zufolge gehören dazu die Busfabrik Ikarus, die Lenin-Stahlwerke, der Düngemittelhersteller Pet, der Kühlschrankproduzent Lehel, die Firma Ganz Electric, das Unternehmen Csepel, das Traktoren und Lastwagen herstellt, und die Chemiefirmen Chinoin und Borsod. Diese Unternehmen produzieren allein rund ein Viertel des ungarischen Bruttosozialprodukts, schreibt die Zeitschrift.